Lobstein, Johann Friedrich - Klippen auf dem Heilsweg - X. Die Kreuzesscheu.

Lobstein, Johann Friedrich - Klippen auf dem Heilsweg - X. Die Kreuzesscheu.

Evang. Johannis 19,17.
Jesus trug sein Kreuz.

Wir sehen hier Jesum unter dem Kreuze. Bevor er an dieses Kreuz geheftet war, trug er es, und er nennt dieses Kreuz das seinige. Wie ein König von seiner Krone und seinem Heere sprechen würde, so spricht Christus von seinem Kreuze. Was ist aber dieses Kreuz? Ist es nur das Holz, das die Schultern Jesu beschwert, ist es nicht etwas Anderes noch? War das ganze irdische Leben Jesu nicht ein Kreuz? und hat er dieses Kreuz nicht von der Krippe an bis zur Schädelstätte getragen? Und es sind unsere Sünden, welche, wie wir wissen, das ganze Leben Jesu zu einem Kreuze gemacht haben. Er hat unsere Sünden selbst geopfert an seinem Leibe auf dem Holze, dies ist das Kreuz, unter welchem wir ihn erblicken. Dieses allgemeine Kreuz lastet auf ihm: nämlich alle Folgen und Strafen unserer Sünden. Das ist es, was dieses Holz uns versinnlicht. Wir haben nie die Folgen einer einzigen unserer Sünden durch und durch empfunden. Das zarteste Gewissen, die bußfertigste Seele hat noch nicht das volle Gefühl der Trennung, welche die Sünde zwischen Gott und uns hervorgebracht hat. Ist dies wahr von einer Sünde, was sollen wir sagen von den Millionen von Sünden, die unser Gewissen beschweren, und den Millionen von Sündern, deren Sache Christus auf sich genommen hat? Aber der Anblick des Heilandes unter dem Kreuze zeigt uns auch unsere eigene irdische Bestimmung. Er selbst sagt uns: „Wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir.“ Es ist eine große Gnade, wenn man an Christum glauben kann; eine noch größere Gnade ist es, wenn man für ihn leiden darf. Das Kreuz ergänzt den Glauben, und das Erhabenste, was man sehen kann, ist ein Mensch, der bei Jesu oder für ihn leidet. Die schönste Inschrift, womit das Grab eines wahren Christen geschmückt werden kann, ist wohl: Er hat sein Kreuz getragen.

Wie tragen wir unser Kreuz? Erforschen wir uns hierüber vor Jesu, der das seine trägt. Jeder Tag hat seine Last. Gleichwie jeder Tag mehr oder weniger ein Kreuzestag ist, so ist auch jeder Tag ein Glaubenstag. In welchem Geiste leiden wir? Wie Jesus und für ihn? Blicken wir in unser Inneres, so entdecken wir da leicht etwas, das vor dem Kreuze zurückschreckt.

Diese Seite unserer Natur möchte ich weiter ausführen. Diese Kreuzesscheu ist bald eine ausgesprochene, bald eine versteckte, und sie ist es, welche uns der größten Segnungen des christlichen Lebens beraubt. Wir sind nie Christo näher, als wenn wir unter dem Kreuze sind, und ist es nicht die größte Glückseligkeit, Christo nahe zu sein? Erforschen wir unser inneres Leben, und betrachten wir die mannigfachen Gestaltungen der Kreuzesscheu, wir werden sodann sehen, welcher Segnungen sie uns beraubt.

Nehmen wir diese zwei Punkte zum Gegenstande unserer Betrachtung, so werden wir die Worte: Und Jesus trug sein Kreuz, in ihrer Anwendung aufs Leben verstehen.

Es gibt, wie wir so eben sagten, eine ausgesprochene Kreuzesscheu.

Es gibt Menschen, die nicht leiden können. Das geringste Unwohlsein ist ihnen unerträglich; die leichteste Widerwärtigkeit versetzt sie in üble Laune. Sonderbarer Weise sind es gewöhnlich solche Leute, welche gegen Andere am anspruchsvollsten sind; je weniger sie selbst ertragen können, desto mehr Geduld verlangen sie von Andern. Haben solche Menschen irgend ein anhaltendes Kreuz, so ist des Jammerns kein Ende; sie sind wahre Märtyrer, ist gleich ihr Leiden oft nur ein geringes. Dies sind die Qualen der Empfindlichen. Sie haben nie einen Blick auf Christum und dessen Kreuz geworfen. Wie würden sie ihr Benehmen beurteilen, wenn sie sich Ihm gegenüberstellten, der uns ein Vorbild gelassen, dass wir sollen nachfolgen in seinen Fußstapfen! Auch sind unsere Leiden gerechte. Ist es nicht für gegenwärtige Sünden, so ist es für vergangene, dass sie uns treffen, und wollte Gott mit uns handeln nach unsern Sünden und uns vergelten nach unsern Missetaten, so würden ganz andere Leiden über uns kommen. Dies ist nicht auf Christum anwendbar. Wer kann ihn einer Sünde zeihen? Er schalt nicht wieder, da er gescholten ward; er drohte nicht, da er litt. Da er gestraft und gemartert ward, tat er seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scheerer und seinen Mund nicht auftut.

Andere sind weniger empfindlich; aber wir haben alle unsere verwundbaren Stellen, und fasst uns Gott bei einer derselben an, so zeigt sich auch da sogleich die Kreuzesscheu. Der Geizige, der Ehrsüchtige, der Selbstgerechte, der Arme wie der Reiche, ein jeder hat sein besonderes Kreuz; was dem Einen ein Kreuz ist, wäre es nicht für den Andern, und es möchte der Eine wohl mit dem Andern tauschen; aber Gott, der die Gemütsarten kennt, weiß auch, welcherlei Kreuz für uns am passendsten ist. Unsere verwundbaren Stellen sind eben diejenigen, wo wir am meisten an uns selbst haften, und gewöhnlich legt Gott das Kreuz da auf, um uns zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes vorzubereiten. Werfen wir wieder einen Blick auf Jesum. Er hatte keine verwundbare Stelle, er war nur empfindlich für uns. Das aber konnte er nur dadurch sein, dass er sich selbst erniedrigte. Woher ihm auch das Kreuz kam, immer trug er es auf dieselbe Weise. Dazu befähigt nur die Liebe, und was ist die Liebe? Es ist das Aufgehen unseres Ich in Gott und im Nächsten. Doch ist die Kreuzesscheu öfter versteckt als ausgesprochen.

Du begegnest Menschen, die Alles vortrefflich erdulden, und die aus Grundsatz sich nie beklagen. Sie sind gleich Säulen aus Erz. Allein zwischen der Gesinnung dieser Menschen und dem Geist Christi ist ein Kontrast wie zwischen Himmel und Erde. Christus ist sanftmütig und von Herzen demütig; die Helden, die wir meinen, sind von einer abstoßenden Schroffheit. Es ist eine selbstgeschaffene Tapferkeit, welche im Grund die Kreuzesscheu nicht überwunden hat. Wird dieser Stoizismus keine Bewunderer mehr finden, so wird er bald kleinmütig sein. Zwar gibt es solche Starke, welche sich selbst nicht eingestehen, wie viel sie leiden. Wie man Andere täuschen kann, so kann man sich selbst täuschen. Warum aber tut man's? Weil man sich gegen die Kreuzesscheu wappnen will. So ist denn diese vorhanden.

Andere, weniger steif, sind doch eben so fern von der Gesinnung Christi. Sie machen's so gut als möglich, um ihre Unfälle zu ertragen, und es gelingt ihnen. Wie fangen sie's an? Sie haben eine glückliche Gemütsart, wie man sagt. Sie nehmen das Leben mit all seinem Ernst leicht auf. Sie finden bald eine Entschädigung für all ihre Leiden; sie haben andere Tröstungen. Aber das heißt nicht sein Kreuz tragen, sondern es loswerden. Warum aber schütteln sie es ab? Weil sie es fürchten. Hätten sie nicht die Kreuzesscheu, so würde sich ihr Herz nicht so schnell anderwärts hinwenden.

Ein andere Klasse von Menschen schöpft Kraft aus der Hoffnung. Sind sie in einer Not, so empfinden sie dieselbe wohl, doch hoffen sie auf einen Wechsel. Sie wissen sich so gut in die Zukunft zu versehen, und haben hierin eine so glückliche Einbildungskraft, dass sie, unter dem Kreuz, dasselbe beinahe nicht mehr fühlen. Sie sind schon durch die Hoffnung davon befreit. Auch dies ist das Kreuztragen Christi nicht. Ist seine Seele betrübt, so fühlt er, dass er darum in diese Stunde gekommen ist. Er fühlt jeden Pfeil, der seine Seele trifft oder seinen Leib zerreißt. Er schmeckt seine Leiden wie ein Anderer seine Freuden. Was ihn unter dem Kreuz aufrecht hält, ist eine gegenwärtige Kraft, nicht eine zukünftige Hoffnung. Auch haben wir die Gegenwart ins Auge zu fassen, wenn wir unter dem Kreuze sind; gehen wir zu rasch davon mit unsern Gedanken und Hoffnungen, so verlieren wir die Frucht des gegenwärtigen Augenblicks. Haben die Menschen, von welchen wir sprechen, Etwas, das sie in dem Augenblick selbst halte? Entfliehen sie doch demselben auf den Flügeln der Einbildung, und warum? Immer aus demselben Grunde: sie sind eben kreuzesscheu.

Wie schaden wir uns mit diesem kreuzesflüchtigen Sinn! Wir berauben uns dadurch der größten Segnungen des christlichen Lebens. Ist es nicht eine Gnade, brünstig im Geiste zu werden? Sind wir es aber in unserm gewöhnlichen Wesen? Wenn wir so bequem uns können gehen lassen, entwickelt sich da in uns jene Lebenswärme, welche uns in der Gemeinschaft mit Gott erhält? Sind wir nicht eher in Lauheit versunken? Was aber bringt uns eher aus unserm geistlichen Siechtum als ein Kreuz? Schon durch diese Aufrüttelungen wird ein jedes Kreuz eine vollkommene Gabe. Es wirkt auf unser ganzes Wesen; es weckt uns auf aus unserm Schlummer. Da lernt man wieder wahrhaftig beten. Die bewegte Seele ruft aus der Tiefe zum Herrn. So lockt uns Gott, führt uns in eine Wüste und redet freundlich mit uns. Die irdische Gesinnung, welche uns der Eitelkeit unterwirft, wird vor der geistlichen Gesinnung weichen, welche Leben und Friede ist. Da wird die Bibel wieder das Wort Gottes. Prüft sie hierinnen, ob sie euch nicht des Himmels Fenster auftut und Segen herabschüttet die Fülle. Der fleischliche Arm wird durch einen andern ersetzt, der, von der Höhe ausgeschickt, uns holt und zieht aus großen Wassern - da erwachen alle geistlichen Bedürfnisse und schreien nach dem starken lebendigen Gott. Dieser erste Gewinn ist aber nicht der einzige. Hier ein zweiter.

Klärt das Kreuz uns nicht über uns selbst auf? Wir kennen uns so wenig, wenn Alles gut geht. Da wissen wir nicht, ob wir in Wahrheit glauben, ob wir reich oder arm sind. Lasst aber das Kreuz über uns kommen, so wird diese Unsicherheit ein Ende nehmen. Da werden wir erkennen, auf welchem Grund wir stehen und was wir auf unserm Grund gebaut haben. Da lernen wir unterscheiden, was aus Gott, was aus uns ist. Wie stellt das Kreuz unsern Charakter, unsere Absichten, unsere Vergangenheit, die Waffen, deren wir uns bedienen, kurz unser ganzes Christentum ins Licht! Wir erkennen unser Elend und unsere Kraft in all ihren Stufen. Es wird sich zeigen, ob unser Glaube Geduld gewirkt hat, und ob die Geduld fest bleibt bis ans Ende. Wir erfahren, ob wir gelernt haben, bei welchen wir sind, uns genügen zu lassen; ob wir den verborgenen Menschen des Herzens unverrückt mit sanftem und stillem Geist bewahren; ob wir des Herrn harren und getrost und unverzagt sind; ob die Gnade des Herrn uns genügt und ob der Friede Gottes unsere Herzen und Sinne in Christo Jesu bewahrt. Kurz da sehen wir, ob wir uns nicht das Böse überwinden lassen, sondern das Böse mit Gutem überwinden. Da macht man demütigende Entdeckungen, aber unter dem Kreuz erkennt man auch die überschwängliche Größe der Kraft Gottes an denen, die glauben.

Die Kreuzeszeiten sind auch Zeiten von Wunderwirkungen. Da kommen Stunden, in welchen wir ausrufen: Wie groß ist deine Güte, die du verborgen hast denen, die dich fürchten, und erzeigst denen, die vor den Leuten auf dich trauen!…. Gott hat himmlische Kräfte, welche, wie die Wasser Siloahs, von seinem Tempel ausfließen, wenn unsere Kräfte versiegen. Das Mittel, diese Kräfte zu erlangen, besteht darin, zu schauen auf Christum als auf den Anfänger und Vollender des Glaubens. Wer den Sohn sieht und glaubt an ihn, der hat das ewige Leben. Welche ihn ansehen und anlaufen, deren Angesicht wird nicht zu Schanden werden. Es gibt Stunden, da man nicht mehr leben kann, und wo die Entmutigung aller Worte beraubt. Allein immer bleibt uns noch der flehende Blick nach Jesu; und in diesem Blick aber liegt eine Fülle von Kraft. Es hat der Blick etwas Unmittelbareres als jedes Wort; nimmt uns nun Gott das Wort, so will er uns gewiss etwas Besseres dafür geben. Er öffnet uns die Augen und zeigt uns den Sohn, an dem er sein ganzes Wohlgefallen hat, ihn, dessen Anblick die Heilung ist.

In solchen Stunden des Schweigens, welche wohl die reichsten im Christenleben sind, beweist sich unser Heil, so wir leiden mit Geduld. Da befinden wir uns nicht mehr in den Vorhallen des Tempels, wir sind im Allerheiligsten, nahe an dem Orte der unaussprechlichen Worte, welche kein Mensch sagen kann. Sollten wir nun kreuzesscheu sein, wenn uns das Kreuz den Eintritt zum Allerheiligsten öffnet? Wir sollten das Kreuz von uns werfen, wenn es die Fülle Gottes ist? Sollten wir nicht mit unsern Gedanken und Hoffnungen solche Augenblicke bewillkommnen, welche ewige Segnungen mit sich bringen? Nicht aus dem Staube aufstehen wollen wir, bis wir erkannt haben, dass uns Gott liebt, und dass er uns seiner Heiligkeit teilhaftig machen will. Wir werden erfahren, dass Jesus lebt, dass wir alle Fülle in ihm haben, und dass sein Joch sanft und seine Last leicht ist.

Wie verbindet uns das Kreuz auch untereinander! Wie lieben sich zwei Seelen, welche zu den Füßen Jesu leiden! Welch ein neues Band wird nicht für zwei christliche Ehegatten der Verlust eines Kindes! Was steht einem gebrochenen Herzen näher als ein gebrochenes Herz. Es gibt eine Vertrautheit, welche nur unter dem Kreuz entstehen, nur durch dasselbe sich erhalten kann: es ist aber die innigste. Wir haben hier von zwei christlichen Seelen gesprochen; aber es gibt eine Liebe, welche noch über dieser besonderen Liebe steht, nämlich die allgemeine Bruderliebe. Die zu lieben, die uns nicht verstehen, nicht lieben, ja vielleicht uns hassen, das geht über den gegenseitigen Genuss, den man sich in gegenseitiger Liebe gewährt. Wann aber werden wir diese Liebe lernen? Wann wird die Liebe in uns lebendig werden, die Alles verträgt, Alles glaubt, Alles hofft, Alles duldet? Kann es anderswo sein als unter dem Kreuz? Wann hat uns Jesus am meisten geliebt, wenn wir Stufen in seiner Liebe annehmen dürfen? Unter dem Kreuz, da hat er sich für uns selbst geheiligt, da hat seine Liebe die Krone erhalten.

Wir haben eigentlich nur von solchen gesprochen, welche bei Jesu leiden. Das Los der Andern ist beklagenswert. Ist schon das Leben ohne Jesum unerträglich, wie viel mehr das Leiden. Wie viele Seelen aber leiden und wissen nicht, wohin sie gehen sollen. Kennst du einen Menschen, der in deine Leiden eingeht, in dem Maß, als du es wünscht? Wo ist der Mensch, der so ganz und gar weine mit den Weinenden? Nur Einen kenne ich. Sieh auf Jesum, und auf Ihn allein. Ihr Seelen, die ihr umher irrt und nicht wisst, wo eure Lasten niederlegen; ihr Herzen, die ihr den Arzt nicht findet, der eure Wunden heilen könnte; ihr Armen und Elenden alle, um die Niemand sich kümmert, erhebt eure Häupter, eure Erlösung ist nahe. Jesus kennt euch Alle, und er will nur euer Elend. Übergebt euch Ihm, und Alles wird anders werden. Euer Kreuz, welches es auch sein mag, hat er getragen; eure einsamen Tränen, er hat ihrer gedacht, als er weinte unter seinem unsterblichen Kreuz. Der Durchbrecher geht vor euch her; ergreift seine Hand und folgt ihm nach. Bald wird das finstere Tal grüne Aue werden, die Wüste zu einem Garten des Herrn; und wie unter dem Kreuz dein Kampf ist, so auch dein Sieg. Trag' es stille; der mit Tränen sät, wird mit Freuden ernten. Heute gehst du hin und weinst, und trägst edlen Samen, aber du wirst kommen mit Freuden und bringen deine Garben.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/l/lobstein-klippen_auf_dem_heilsweg/lobstein-klippen_auf_dem_heilsweg_-_x_-_kreuzesscheu.txt · Zuletzt geändert: von aj
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain