Lobstein, Johann Friedrich - Klippen auf dem Heilsweg - IV. Die geheimen Bande.

Lobstein, Johann Friedrich - Klippen auf dem Heilsweg - IV. Die geheimen Bande.

Matthäus 19, 16-22.
Und siehe, Einer trat zu ihm und sprach: Guter Meister, was soll ich Gutes tun, dass ich das ewige Leben möge haben? Er aber sprach zu ihm: Was heißt du mich gut? Niemand ist gut, denn der einige Gott. Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote. Da sprach er zu ihm: Welche? Jesus aber sprach: Du sollst nicht töten. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsches Zeugnis geben. Ehre Vater und Mutter. Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. Da sprach der Jüngling zu ihm: Das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf; was fehlt mir noch? Jesus sprach zu ihm: Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach. Da der Jüngling das Wort hörten, ging er betrübt von ihm; denn er hatte viele Güter.

Du begegnest manchmal Leuten, welche dir sehr empfänglich scheinen und welche dir die schönsten Hoffnungen geben. Sie fühlen die Leere dieser Welt; sie haben einige Erfahrungen über sich selbst gemacht; sie erkennen wohl, dass das gewöhnliche Christentum unfruchtbar ist; du denkst, sie seien auf dem besten Wege und du siehst einem Gnadenwerk, einer Bekehrung entgegen. Doch will die erwartete Entwicklung nicht eintreten. Es entscheidet sich nichts in diesen Leuten. Sie verharren in denselben Gewohnheiten, und in ihren Äußerungen drehen sie sich immer in demselben Kreis herum. Was steht hier der Gnade entgegen? Gewöhnlich ist es irgend ein Band. Ein Beispiel dieser Art steht uns vor Augen. Ein Jüngling redet Christum auf das Herzlichste an. Der Jüngling scheint innerlich bearbeitet, denn er richtet an den Herrn die Lebensfrage: „Was soll ich Gutes tun, dass ich das ewige Leben möge haben?“ Er scheint nur die Antwort abzuwarten, um sich zu bekehren und Christo zu folgen. Aber dieser schöne Anfang steht in großem Gegensatz mit dem Ende. Derselbe Jüngling wird in einigen Augenblicken Christo absagen und sich ganz traurig zurückwenden. Ihn hält ein geheimes Band, das er nicht zerreißen will. Er hatte viele Güter, und Niemand kann zwei Herren dienen. Es musste zwischen Christo und dem Mammon gewählt werden, und der Jüngling hatte den Mut nicht, dem Letzteren abzusagen, um sich auf Gnade und Ungnade seinem Heiland hinzugeben. Sein geistlicher Zustand ist ein geteiltes Herz; es ist der gewöhnlichste und der unglückseligste. Man will nicht ohne Christum leben, aber auch nicht sich selbst entsagen. Man sinnt auf alle Arten von Mitteln, um in demselben Herzen Beides, die Liebe zum Herrn und die Weltliebe zugleich zu herbergen. Und dieser Mittelzustand bringt nur Traurigkeit. Von der Welt hat man nichts, von Christo hat man nichts; man ist der Ärmste unter den Armen. Doch will man es so haben; man will sich nicht entscheiden; und ein solcher Mensch denke nicht, dass er Etwas von dem Herrn empfahen werde. Werfen wir nun einen Blick auf uns selbst. Unser alte Mensch ist auf so vielfache Weise gefesselt! Das Beispiel des Jünglings leite uns zu den drei Fragen: 1) Worin bestehen unsere eigenen Fesseln? 2) Was bereitet sich eine gefesselte Seele? 3) Welches ist die Hilfe, die uns Christus bietet, um loszukommen? Diese drei Fragen mögen uns zu einer ernsten Einkehr in uns selbst führen.

1)

Es gibt zwei Arten von Banden. Wir ersehen dies aus dem Zustande des Jünglings. Er hing an der Welt durch seine Güter und an sich selbst durch seine Eigenliebe. Er rühmte sich, alle Gebote von seiner Jugend auf gehalten zu haben. Hiernach gibt es materielle, äußere Bande, und innere, geistige. Befassen wir uns zuerst mit jenen. Der Jüngling hing an seinen Gütern. Wer von uns besäße aber keine Güter? es seien deren viele oder nur ein einziges, es seien Millionen oder nur ein Haar, immer ist es die Herrschaft eines irdischen Gegenstandes. Die kleinen Dinge können wie die großen den Menschen unterjochen und oft entsagt man weniger dem Kleinen als dem Großen. Eine großartige Entsagung verschafft uns den Ruf eines heldenmäßigen Charakters, eine geringfügige Entsagung bringt zu wenig ein, und es ist nicht der Mühe wert, sich für so wenig anzustrengen; so bleibt man denn gebunden. Unsere Güter, sie seien groß oder klein, machen den Weltdienst aus. Und die Welt nimmt so viele Gestalten an! Sie lässt uns auf einer Seite los, um uns auf einer andern fester zu halten. Sie ist desto gefährlicher, je mehr sie sich vergeistigt. Wie viele Fesseln erwachsen aus unseren Berechnungen, Interessen, Arbeiten! Und ist die Welt nicht mehr in den Dingen, so verharrt sie noch in der Erinnerung, in den Sorgen, in den Wünschen und Hoffnungen. Wie mächtig herrscht nicht über uns ein einmal eingewurzelter Gedanke! Wie knechtet uns nicht oft irgend eine Aussicht, die Hoffnung gibt, oder eine andere, die verschwindet! Güter, welche keine Wirklichkeit mehr haben, haften noch in der Einbildung und fesseln von hier aus. Dies Alles aber ist Welt. Und bist du so beherrscht, kannst du dich da Christo hingeben? Kannst du sagen: Durch Dein Kreuz ist mir die Welt gekreuzigt und ich der Welt? Du sagst vielleicht zu ihm: Guter Meister, aber damit er dir deine Götzen lasse, nicht damit du sie ihm zu Füßen legst. Noch sind dieses nicht die stärksten Bande. Diejenigen, welche uns an unser Ich fesseln, sind mehr zu fürchten, als diejenigen, welche uns an die Welt binden. Der Mensch gibt lieber dahin, was er hat, als was er ist. Zähle, wenn du kannst, die Ketten der Eigenliebe, der Selbstsucht, des Eigenwillens, der Sinnlichkeit; du wirst leicht erkennen, dass du weit mehr an dir selbst hängst, als an der äußeren Welt. Der Jüngling rühmte sich, von Jugend auf alle Gebote gehalten zu haben. Welch einen hohen Begriff haben wir doch von uns selbst! Haben wir irgend einen Erfolg gehabt, spricht die Welt gut von uns, entdecken wir in uns einen geistlichen Fortschritt, regt sich da nicht gleich der eigene Ruhm und vergessen wir da nicht gleich, dass wir jeglichen Ruhmes vor Gott ermangeln?

Aber es gibt zwei Arten, an sich selbst zu hangen. Bald sehen wir uns in einem zu günstigen Licht, bald versenken wir uns zu sehr in unsere Gebrechen. Ist nicht die Mutlosigkeit auch eine Knechtung? Ist der beständige Anblick unserer Rückfälle, das Jammern über uns selbst, die immerwährende Gewissensplage nicht auch eine Fessel, und zwar eine furchtbare? Du kannst deine Güter hingegeben haben, ohne darum dein Ich aufzugeben; und du kannst deine Selbstgerechtigkeit geopfert haben, ohne darum deine Gebrechen Christo zu überlassen. Es hält uns der Feind noch in den letzten Winkeln unserer Seele fest, und macht uns der Sohn nicht frei, so sind wir nicht wahrhaftig frei.

2)

Untersuchen wir nun den geistlichen Zustand einer gebundenen Seele. Es ist eine Gefangenschaft, doch von eigentümlicher Art. Man ist wie zwischen zwei Welten festgehalten; man kann weder in die eine, noch in die andere. Der Jüngling steht zwischen seinen Gütern und Christo. Sein Herz empfindet das Unzulängliche der Welt und diese Empfindung treibt ihn zu Christo. Aber diese Empfindung wird abgeschreckt durch eine andere. Er soll alle seine Güter verkaufen und sie den Armen geben. Diese Zumutung des guten Meisters wendet das Herz des Jünglings wieder der Welt zu. Er ist wie die Meereswoge, die vom Wind hin und her getrieben und gewebt wird. Wir sehen, dass der Zustand einer gebundenen Seele ein unaufhörlich bewegter ist. Man will und will wieder nicht; man betet und betet wieder nicht; man trennt sich los und bleibt doch hangen; man wendet sich von der Welt ab und zu Christo, und wieder wendet man sich von Christo ab und der Welt zu. Die Seele müht sich ab, ohne zu irgend einer Ruhe zu kommen. Auf einen Augenblick mag man sich vergessen, dann kehren die nämlichen Kämpfe wieder; dieselbe Unruhe ergreift dich mitten in deinen Beschäftigungen, mitten in der Nacht; auf jeden Augenblick von Ruhe folgt ein neues Gewitter. Und man kann lange in diesem Zustand verbleiben. Man will es eben so haben. Man will sich nicht entscheiden. Es ist, als wären zwei Dinge notwendig; daher die Unruhe. Eins aber nur ist not. Der Friede Jesu ist wie ein Strom; erklären wir uns für ihn, so werden wir sogleich Ruhe finden für unsere Seelen; aber er gibt seine Ehre keinem Andern; er handelt so zu unserm Besten; wir aber wollen es nicht begreifen. Der Jüngling ging betrübt von ihm, hätte er gleich der großen Freude, die allem Volk widerfahren ist, teilhaftig werden können.

So ist denn der Zustand einer gebundenen Seele auch eine Quelle von Betrübnis. Du bleibst betrübt, wenn du betest, wenn du die Schrift liest; betrübt, wenn du allein bist, wenn du mit Andern zusammen bist. Keine geistliche Kraft kann wirken, weil dein Herz sich nicht hingeben will. Alle Mittel, die du versuchst, bleiben erfolglos; nur eines könnte dich heilen: Gib mir, mein Sohn, dein Herz! Das eben will man nicht; darum ist man dem Hungrigen gleich, der träumt, dass er esse, wenn er aber aufwacht, so ist seine Seele noch leer, und dem Durstigen, der träumt, dass er trinke, wenn er aber aufwacht, ist er matt und durstig. Dieser Zustand von immerwährender Enttäuschung erzeugt ein sieches Wesen, das alle Lebenskräfte verzehrt. Der Zustand einer gebundenen Seele ist auch eine Art von Verwesung. Man wird mehr und mehr untüchtig zur Erfüllung seiner Pflichten; das Herz fällt nach und nach in eine Erbitterung, welche man sich nicht mehr zu ersticken bemüht; man wird heimtückisch, menschenfeindlich, und glaubt sich berechtigt dazu; man ist sich und Andern zur Last; die sittlichen Folgen eines solchen Zustandes sind unberechenbar. Und in diesem Zustand würde man sterben und verderben, erbarmte sich Christus nicht über uns. Aber er hat unsere Bande getragen, dass wir erlöst würden. Es gibt keine sittliche Knechtschaft, aus welcher wir nicht loskommen könnten, wenn wir wollten. Christus gibt uns das Wollen und das Vollbringen, wenn wir Beides bei ihm suchen. Welches ist die Hilfe, die er uns zur Freimachung zusendet? Dies ist die dritte Frage, auf welche wir zu antworten haben.

3)

Zuerst versetzt er uns in Stellungen, wo wir uns entscheiden müssen. Wenn der Herr zum Jüngling sagt: Verkaufe was du hast und gib es den Armen, so stellt er diesen Jüngling zwischen ein Ja und ein Nein. Und dieses tut Jesus oft im Leben. Er gibt unserem Leben eine Wendung, wo uns die Gewalt der Umstände zwischen ein Ja und ein Nein versetzt. Ein Zaudern, eine Mittelstellung ist nicht mehr möglich; man muss sich entschließen, man muss sich offen für oder wider Christum aussprechen. In solchem Gedränge geschieht es manchmal, dass eine Seele nicht weiter zaudert. Es geschieht manchmal, dass eine Seele, auf diese Weise zwischen die Güter der Erde und die der Ewigkeit gestellt, die Letztere erwähle und Erstere aufgebe. Sie wird so gegen ihren Willen in die Arme des Herrn geworfen; derselbe, welcher die Entsagung auferlegt, gibt auch die Kraft dazu. Plötzlich wird man inne, dass man die Welt, aber nicht Jesum entbehren kann.

Aber das Gegenteil kann auch geschehen. Der Jüngling entscheidet sich für seine Güter und entsagt Christo. Was tut Christus in solchem Fall? Welchen Beistand mag er einer Seele zuwenden, welche das erwählt, was sie betrügt und knechtet? Es hat da der Heiland eine zweifache Handlungsweise. Wie es zwei Arten von Heilmitteln gibt, wovon die eine gewaltsam, die andere langsam wirkt, so auch gebraucht er, je nach den Charakteren, bei dem Einen den Leidensweg, bei dem Andern den der Geduld. Manchmal nimmt er uns unsere Güter weg, manchmal lässt er sie uns, bis wir sie ihm selbst darbringen. Er hätte dem Jüngling seine Güter nehmen können, was er oft tut, um unsere Ketten zu zerbrechen. Er sieht, dass für manche Seele dies das einzige Heilmittel ist. Eine unglückliche Fügung, eine politische Krisis, manchmal etwas Geringeres, genügt zum Verlust unserer Güter. Dies sind schmerzliche Ereignisse, welche schon mehr als eine Seele gerettet haben. Zuerst ist man zerschlagen; Alles scheint verloren; später aber, wenn der Herr seinen Zweck erreicht hat, wird man danken. Er hat unserer Seele die Freiheit wieder gegeben. Dies erzwungene Loslassen führt zu einem freiwilligen Hingeben. Fragst du eine also geführte Seele nach einigen Jahren: Möchtest du wieder haben, was dir der Herr genommen? Und es geschieht, dass die Züchtigung, die uns zuerst nicht Freude dünkt, sondern Traurigkeit, hernach eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit gibt denen, die dadurch geübt sind.

Dieses Mittel wendet Christus nicht beim Jüngling an. Er lässt ihm seine Güter, und auch dieses kann uns zur Entsagung führen. Der Jüngling wird erkennen, dass seine Güter nur Schmerzensgüter sind; wenn er sie bis auf die Hefe gekostet haben wird, so bringt er sie vielleicht dem Geber zurück. Der Vater des verlornen Sohnes lässt ihn von sich gehen; das ist das beste Mittel zu seiner Rückkehr. Überlässt uns der Herr unsern Lüsten, so sind wir genug gestraft; es trägt die Sünde die Strafe in ihrem Schoß. Was wir fern vom Herrn genießen, wird uns zur Traurigkeit. Nicht die Dinge an und für sich können uns glücklich machen, sondern die Erlaubnis des Herrn, dieselben zu genießen. Niemand lebt davon, dass er viel Güter hat; dies wird der Jüngling an sich erfahren. Seine Traurigkeit wird ihn nirgends verlassen; seine Traurigkeit aber liegt in seinen Gütern. Nimm Flügel der Morgenröte und bleibe am äußersten Meere, so wird dein krankes Herz nah bei dir sein; es ist eben dein Herz für Gott geschaffen, nicht für deine Güter. Der verlorene Sohn, der eitlen Dinge überdrüssig und traurig, rief zuletzt: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.“ Wird eine ähnliche Stunde nicht auch für den Jüngling geschlagen haben? Solche Liebe hat Christus für uns, dass wir nie zu spät zu ihm kommen. Nachdem wir unser ganzes Leben der Welt gewidmet und uns nur ein elender Rest übrig bleibt, so nimmt ihn Jesus noch an; es jammert ihn unser. Er sieht nicht unsere verlorenen Jahre an, nur unser Elend und wenn wir noch ferne von dannen sind, läuft er schon uns entgegen. In unserem zerschlagenen Herzen sieht er auch die Bande gelöst, und nun braucht er nicht mehr zu uns zu sagen: „Verkaufe was du hast.“ Der Augenblick ist erschienen, wo wir sagen können: „Mein guter Meister, niemand ist wie Du. Heute bin ich frei, denn Du hast meine Bande zerbrochen. Indem Du mich beraubtest, hast Du mich bereichert; Du hast mehr als meine Güter, Du hast mich selbst. Da ich jünger war, wandelte ich, wo ich hin wollte; heute strecke ich meine Hände aus; ich fühle, dass ein Anderer mich gürtet und mich führt, wo ich nicht hin wollte.“ Ein Gefangener Christi ist freier als ein Freier der Welt. Wenn uns der Sohn frei gemacht hat, so sind wir frei für die Liebe und für die Glückseligkeit. Wir haben einen Schatz im Himmel und einen Schatz auf Erden. Unsere großen Güter bestehen nicht mehr in unsern Gütern, sondern in dem unaussprechlichen Reichtum Christi. Nehmen wir aus dieser Fülle Gnade um Gnade, so werden wir nicht mehr zu den ausgehauenen Brunnen der Welt gehen, und werden nicht mehr dafür halten, dass wir etwas wüssten, ohne allein Jesum Christum den Gekreuzigten.

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