Krummacher, Friedrich Wilhelm - Das Thürhüteramt des Heiligen Geistes.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Das Thürhüteramt des Heiligen Geistes.

Predigt zur Pfingstrüst über Joh. 10,3.

Joh. 10,3.
Demselbigen thut der Thürhüter auf.

Es ist euch wohlbekannt, Geliebte, wie im alttestamentlichen Tempel einer Abtheilung von Leviten ihr Geschäft bei den Pforten und Thüren angewiesen war, indem sie dieselben hüten und bewahren, öffnen und wieder schließen mußten. Diesen Thürhütern stand ein Oberpförtner vor, dessen Befehle die Regel ihres Verhaltens bildeten. Im neutestamentlichen Tempel der Kirche Christi sind die Pförtner wir Prediger und Lehrer, die wir gleichfalls mit geistlichen Pforten allerlei zu thun haben, dieselben zeigend, aufthuend, verschließend, und was deß mehr ist. Aber auch über uns ist Einer zum Oberpförtner bestellt. Wollt ihr ihn kennen lernen, leset Apostelgesch. 20,28: „So habt nun Acht auf euch selbst und auf die ganze Heerde, unter welche euch der Heilige Geist gesetzt hat zu Bischöfen, (oder zu Aufsehern und Hütern,) zu weiden die Gemeine Gottes, welche er durch sein eignes Blut erworben hat.“ Der Heilige Geist ist’s. In unserm Texte wird er geradezu der “Thürhüter“ genannt. Denn daß hier unter dem Thürhüter nicht etwa der Herr Jesus, der sich vielmehr selbst mit der Thür vergleicht, sondern kein Anderer, als der himmlische Tröster verstanden sei, ist von Alters her anerkannt und wirklich eine ausgemachte Sache. So haben wir denn Gelegenheit, an der Schwelle des heiligen Pfingstfestes einmal zu reden von dem Thürhüteramte des Heiligen Geistes. Wir wollen sehn, wie er dieses Amtes wartet bei der Thür des Herzens; bei der des Worts; bei der zum Schafstall; bei der zur evangelischen Schatzkammer; und endlich bei der Thür des Himmels.

Lasse er uns selber heute im Wege der Erfahrung lebendig inne werden, wie treu er auch jetzt noch jenes hohe Amt verwaltet.

1.

Wo eine Thür ist, da setzt dieselbe ein Weiteres voraus. Es ist wohl ein Haus dahinter, oder eine Kammer, ein Garten oder eine Feldmark. Jedenfalls führt eine Thür in irgend einen Raum, und ein Raum ist auch das menschliche Herz. Ein Kämmerlein ist dasselbe; ja eine kleine Welt. Aber sollte von einer Thür des Herzens geredet werden können? – Nun, Offenb. Joh. 3 lesen wir: „Ich stehe vor der Thür, und klopfe an;“ und von der Lydia wird gemeldet, der Herr habe da Herz ihr aufgethan, daß sie darauf achtete, was von Paulo geredet ward. So ist’s denn wohl biblisch, wenn wir reden von dem Thürhüteramt des Heiligen Geistes an der Herzenspforte. Ja der Geist ists besonders, der sich das Herz zum Schauplatz seiner Erweisungen und Thätigkeiten erkoren hat.

Von Natur ist uns unser eigen Herz verschlossen. Wir stehn davor, aber schauen in seine Tiefen nicht hinein. Wir meinen wohl, darin zu Hause zu sein, und sind nirgends größere Fremdlinge, als in unsrer eignen innern Welt. Wir halten dafür, sie durch und durch zu kennen, und träumen von einem guten Herzen, das in uns schlage; und ach, wir träumen eben nur und sehen wesenlose Schatten und Gebilde. Nimmt nun der Heilige Geist nicht gnädig sich unsrer an, so sterben und verderben wir in eitel Täuschung und Verblendung. Tritt aber Er an uns heran, und beginnt in uns sein Werk, dann wohl uns! Freilich gibt’s dann zu Anfang Schrecken nur und Schmerzen. Aber dennoch wohl uns! – Was geschiehet? Der Geist beginnt damit, daß er von der verschlossenen Herzensthür die Riegel des Vorurtheils, der Eigenliebe und der Blindheit weg schiebt, und öffnet die knarrende und verquollene Pforte. In der Regel thut ers allgemach und leise. Nicht mit einem Male reißt er die verschlossene Thüre auf; noch viel weniger fällt er, wie man zu sagen pflegt, urplötzlich mit der Thür in’s Haus. In zarter, erbarmungsvoller Absicht gönnt er uns erst nur einen halben Blick in unser Herz; und freilich sehen wir schon jetzt genug, um bestürzt und schamroth unser Haupt zu senken. Schon gewahren wir die Schatzkammer guter Gesinnungen, von der wir träumten, in eine Stätte der Unreinigkeit verwandelt; und wie er nun das Pförtlein weiter und weiter öffnet, treten der demüthigenden Gesichte immer mehrere vor unser Auge. Statt des schönen Gartens voll lieblicher Tugendblumen, für den wir unser Herz gehalten, entdecken wir in uns eine Wüste voller Dornen und Disteln. Statt des Heiligthums, das wir in unserm Busen zu bergen wähnte, klafft vor uns ein Grab voll Tod und Moder. Lauter Finsterniß, wohin wir schauen; lauter Feindschaft wider Gott, Abgötterei und ungöttliches Wesen. Keine Spur von wahrer Liebe, von Lust an Gottes Gesetz, von Himmelssinn! Nein, nichts, das Gott gefallen könnte, sondern Verdammungswürdigkeit an allen Enden.

Nicht wahr, ein schöner Dienst, den uns da der Geist erweiset? Ja, auf den ersten Blick möchte man seine Operationen sich verbitten. Der Traum der Eigenliebe ist unendlich süßer, als solche schneidende und vernichtende Wahrheit. Aber wisset, daß jener Traum das Halseisen ist, an welchem der Teufel uns zur Schlachtbank schleppt; diese Wahrheit aber das Gängelband, an welchem die Hand der Gnade uns zum Leben führt. Denn darauf, daß der Heilige Geist die Thür zu unserm Innern und dessen wahrer Beschaffenheit uns erschließt, beschränkt sich sein Thürhüteramt bei unsrer Herzenspforte nicht. Er öffnet vielmehr nun auch die Herzenspforte allerlei Wahrheiten, Weisungen und heiligen Gottesklängen, die bis dahin von dem Balken- und Riegelwerk derselben zurücke prallten. Es findet nun endlich auch das Donnerwort der Ewigkeit bei uns den freien Eingang; es findet Eingang jetzt das Geschmetter der Gerichtsposaune, der Trompetenstoß: „Wache auf, der du schläfst, stehe auf von den Todten!“ der Zuruf: „Eile aus Sodom und rette deine Seele“ und die Ermahnung zur Umkehr vom breiten Todeswege. Dieses Alles drang auch wohl früher auf uns ein, aber gleich Geschützeskugeln auf einen Sandsack. Die Herzensthür war zu. Es traf auf Erz und Eisen. Es schlug nicht durch. Jetzt fährt’s herein mit Sturmesmacht, und findet Echos die Fülle in unserm Innern. Wem aber ist dies zuzuschreiben? Wem, als dem Geiste, und der Verwaltung seines wunderbaren Amtes an der Pforte unsres Herzens!

2.

Ich nenne ein zweites Haus. Es ist mehr ein Tempel als ein Haus. Nicht aus Steinen ist’s erbaut, sondern aus Buchstaben und Worten. Es ist der herrliche Licht- und Friedensdom der heiligen Schrift, unser Lebensbuch, unsre Bibel. Dieser wundervolle Bau ist vom Fundamente bis zur Kuppel selbst schon ein Werk des Heiligen Geistes: denn „die heiligen Menschen Gottes“, die dies Buch geschrieben haben, „haben geredet getrieben von dem heiligen Geist.“ In dieser Behausung ist gar viel zu holen. Hier flammt der siebenarmige Leuchter himmlischer Weisheit; hier sind uns die Rathschlüsse, Gedanken und Wege des allmächtigen Gottes entschleiert dargelegt; hier enthüllt sich uns des Ewigen Herz; es thut der Himmel hier sich vor uns auf, und ein Balsam für alle Wunden wird hier uns angeboten.

Auch dieses geistliche Gebäude muß eine Pforte haben; denn Vielen sehe ich’s verschlossen und verriegelt. Ich nehme wahr, wie Manche selbst um den Eintritt in dasselbe sich bemühen, aber dennoch nicht zum Ziele gelangen, sondern draußen stehn bleiben. Ja auch wir, im Herrn Geliebte, kennen eine Zeit, da wir wohl auch schon manchmal in der Bibel lasen, und uns in diesem heiligen Hause heimisch wähnten. Jetzt sehen wir ein, daß wir damals auch noch nicht einmal die äußerste Schwelle überschritten hatten, sondern höchstens erst in den äußern Vorhöfen des geheimnißvollen Tempels weilten. Wir nahmen nur das Buchstabenwesen wahr, gleichsam die Mauern und die äußern Wälle; nicht aber, was dahinter liegt: den Sinn, den Geist, den göttlichen, lebendig machenden Inhalt. Jetzt ist es anders. Lesen wir gegenwärtig in dem Buch, so wissen und empfinden wir, was wir lesen. Jetzt ist uns klar, was uns damals unverständlich, köstlich und unschätzbar, was uns geringfügig und unbedeutend war. Jetzt strahlen uns holde Sterne an, wo wir einst nur Nebelflecken zu sehen wähnten. Jetzt wissen wir, was dies und das bedeutet, und schauen unvergleichlich herrlichen Zusammenhang, wo wir früher nur Wirrwarr und unauflösliches Räthselwerk erblickten. Wie geht dies zu? Es ist geschehen, wovon Colosser 4,3 die Rede ist. Die Thür des Wortes ist uns aufgethan. Und durch wen? Allein durch den, der auch an dieses Hauses Pforte Thürhüteramtes pflegt: den werthen Tröster. O wie ist das herrlich, wenn der uns jenen Tempel öffnet, und in dem Tempel die einzelnen Gemächer, Sakrarien und Heiligenschreine uns erschließt. Dann werden die biblischen Geschichten uns zu grünen Auen; die Wahrheiten stellen sich als erleuchtende Sonnen an unsern Lebenshimmel; die Verheißungen tönen uns an wie den Saul die Klänge der Davidsharfe, und unendlich süßer noch; die Bilder, Gleichnisse und Exempel werden uns zu Kandelabern göttlichen Lichts, zu güldenen Schalen von himmlischen Wonnen überströmend. Wie wird uns Alles in der Bibel so lebendig dann; wie rückt’s uns nahe, wie eignet sich’s uns zu! Nichts ist dann in dem Buche mehr, das nicht irgend etwas auch uns zu sagen hätte. Menschen, die vor tausend Jahren zu Grabe gingen, stehen wieder auf, um freundlich mit uns zu verkehren. Von den alten Worten weicht der Staub der Jahrtausende, und sie werden wieder frisch, und neu und nachdrucksvoll, als würden sie eben erst zu uns gesprochen. Doch was das sei, und wie Einem da geschehe, wenn der himmlische Thürhüter die Pforte der Schrift uns öffnet, beschreiben läßt sich’s nicht; es will erfahren sein. Erfahren muß man’s, wie man alsdann die Bibel lieset mit Einsicht und brennendem Herzen, mit Verwundrung, mit Liebe und mit Freude; wie man sie lieset nicht wie ein Advokat und Notar, sondern wie ein Erbe eine testamentliche Urkunde zu lesen pflegt.

O gehet denn hin und erfahret auch ihr es! – Sehet, hier vor mir erblickt ihr das wundervolle Haus. In diesem Buche habt ihr es vor euch: Moses das Fundament, die Offenbarung Johannis die Kuppel. Die ihr nach Licht und Aufschluß dürstet in der Nacht dieser Welt, oder nach Trost und Frieden, oder nach Muth zum Leben und zum Sterben, oder nach unverwelklicher Freude im Thal der Thränen und Vergänglichkeiten, wisset: Alles, wonach euer Herz sich sehnt, ihr habt’s in überschwänglichster Fülle, sobald ihr zu diesem Hause Eingang fandet. „Wohlan“, sprecht ihr, „so wollen wir denn in dasselbe hinein!“ – Nein, Freunde, so auf eigne Hand und eignen Füßen geräth es nicht. Da geht ihr leer aus, und bleibt am Darben nach wie vor. Gebt dem Thürhüter, dem Geiste, ein gutes Wort, daß Er das Haus euch öffne und hinein geleite; und was gilt’s? wenn er nur anfängt, euch aufzuthun, werdet ihr schon freudig mit dem Apostel jauchzen: „Hallelujah, die Nacht ist vergangen, der Tag ist angebrochen;“ und mit dem alten Jakob sprechen: „Gewißlich ist der Herr an diesem Orte und ich wußte es nicht; hier ist nichts Anderes, denn Gottes Haus; hier ist die Pforte des Himmels!“

3.

Wir eilen weiter, und kommen zu einer dritten Behausung, und zwar zu derjenigen, von welcher zunächst und vorzugsweise in unserm Text-Kapitel die Rede ist. Es ist der Schafstall des lebendigen Gottes. Ihr wißt um diese geistliche Hürde. Sie umfaßt denjenigen Theil unsres Geschlechtes, der aus der Welt erwählt, und der Gewalt des Satans entrissen ist. Dieser Auswahl beizugehören ist das größte, ja das einzig wahre Glück auf Erden; denn von dort her allein hebt der Lebensweg zuletzt sich aufwärts, während er von jedem andern Punkte aus in Unheil und Verderben endet. Wie aber gelangt man zu dieser Versammlung der Erlöseten? Eine große Sache ist’s, zu ihr hindurch zu dringen. Leicht freilich mischt man sich äußerlich unter die Schafe Christi; aber weiter, als zu dieser blos scheinbaren und segenslosen Gemeinschaft dringt man aus eignem Vermögen nicht. Daß man nicht etwa nur als Wolf im Schafspelz, sondern als wirkliches Schaf der Heerde in die Hürde eingehe, liegt nicht an Jemandes Rennen oder Laufen, sondern an etwas ganz Anderm. Wisset ihr nicht, daß nach des Herrn eignem Ausspruch Viele wohl trachten hinein zu kommen, und es doch nicht können? Sie möchtens wohl gerne aus diesen oder jenen Gründen, und bemühen sich selbst darum mit Fasten, mit Gottesdiensten, mit Erlernung der Sprache Canaans, und mit was sonst noch. Aber was ist das Ergebniß ihrer Mühe und Arbeit? Sie reißen die Thür des Schafstalls damit nicht auf, sondern bleiben draußen stehn; und bringen sie’s auch bis zur Aneignung des äußeren Zuschnitts der wahren Schafe, so vernehmen sie doch zuletzt nur das erschütternde Wort des großen Hirten: „Ich kenne euch nicht, und habe euch nie erkannt, und weiß nicht, wo ihr her seid!“

„Entsetzlich!“ denkt ihr. Wohl, wohl! – „Aber wie“, fahrt ihr fort, „gewinnt man denn den Eingang in den Schafstall?“ – Antwort: Einzig wieder durch die Güte des Thürhüters an jenes Stalles Pforte; und der Thürhüter ist der Heilige Geist, der werthe Tröster. Wenn der dir wohl will, - und er will dir wohl, sobald du seine Hülfe aufrichtig in Anspruch nimmst, - so zeigt er dir zuerst die einzige Thür zur Hürde Gottes; und diese Thür ist Christus, wie er in unserm Capitel selber spricht: „Wahrlich, wahrlich, ich bin die Thür zu den Schafen!“ – Und er zeigt sie dir nicht blos, sondern er öffnet sie dir auch, d.h. er überführt dich kräftiglich in deinem Innersten, wie du nur durch diesen Mann und dessen Blut, Verdienst, Vertretung und Vermittlung könnest selig werden; und dies bezeugt er dir mit einem Nachdruck, daß du freudig ausrufst: „Juda du bist’s!“ und es kaum bei dir mehr steht, ob du dich um den Mann bekümmern wollest oder nicht, sondern getrieben wirst, um jeden Preis sein Helfen und Erretten dir zu erringen, und mit dem Schrei der Inbrunst: „Herr Jesu, erbarm dich meiner!“ auf ihn einzustürmen. Der Augenblick aber, in welchem es zu dieser innern Zufluchtnahme zu dem Gekreuzigten kommt, ist auch derjenige deines Eingangs durch die geöffnete Pforte in die Christushürde. Ja, du befindest dich schon in ihr, ob du es auch selber noch nicht glaubst. Die Heiligen des Herrn heißen dich schon als einen der Ihrigen willkommen. Die Engel Gottes lesen deinen Namen in den himmlischen Bürgerlisten. Wie ein warmer, erquicklicher Strom rauscht die Liebe dieser wie jener dir entgegen, und vom Thron der Gnade neigt sich dir das Friedensscepter zu. Durch wen gelangtest du in die selige Gemeinschaft? Durch den Pförtner aus der Höhe, den Geist des Lebens; und anders als durch dessen Handreichung und Thoraufschluß ist von der Welt her nie Einer in den Schafstall Gottes eingegangen. Ach, wann wird dieser Thürhüter auch dir aufthun, und dir und dir? – O, er sei euch freundlich, und thue es bald! Oeffnet er euch nicht das Thor der Gottesgemeine, so bringt ihr sie mit keinem Brecheisen auf; und trüget ihr Schlüssel herzu um Schlüssel, es wird keiner passen. Den rechten Schlüssel trägt nur Einer.

4.

Selig sind die Schafe Christi, und die Fülle ihres Reichthums ist nicht auszureden. Es ist ihnen mehr als die nothdürftige Weide nur bescheert. Eine Schatzkammer ist für sie vorhanden, deren Pracht, Glanz und Güterfülle allen Ausdruck übersteigt. In dieser Kammer liegt die Urkunde, auf welche der Finger Gottes geschrieben hat: „Es ist nichts Verdammliches mehr an dir!“ Hier strahlt neben dem Freibrief von aller Sündenschuld das unvergleichliche Hochzeitskleid des Gehorsams und der Gerechtigkeit des großen Bürgen. Es leuchtet hier der Adelsstern der göttlichen Kindschaft, das Testament, in welchem den Schafen Jesu der Himmel mit allen seinen Wonnen und Seligkeiten als unveräußerliches Besitzthum zugeschrieben wird. Hier ruht das Dokument, das ihnen bezeugt, Gott liebe sie, gleich wie er seinen Eingebornen liebe; und neben diesem das andre, das die Eröffnung für sie enthält, wie sie in Christo schon alle ihre Feinde: Welt, Sünde, Tod und Teufel überwunden haben, und in Ihm bereits gestorben, auferstanden, mit Preis und Ehre gekrönt, und versetzt seien in das himmlische Wesen. Seht, da habt ihr einige Kleinodien, die in der Schatzkammer der Gläubigen verschlossen liegen. Ein geringes Wörtlein nur habe ich davon euch vorgestammelt; wer vermag den ganzen Reichthum der durch Christus uns erstrittenen Güter und Rechte auszureden?

Aber auch diese Kammer hat ihre Thür, und sie scheint in einem gewissen Sinne selbst Manchen der Gläubigen noch verschlossen. Ich sehe, wie sie an ihr auf und niedergehn, und gerne hineinträten in den reichen Saal, aber es nicht vermögen. Was sie auch vornehmen, zur Aneignung jener Schätze gelangen sie nicht. Dieselben sind auch ihnen erworben; aber sie drangen noch zu dem beseligenden Bewußtsein nicht hindurch: „Auch ich bin abgewaschen, gereinigt, gerecht gesprochen, ein Kind vom Hause, und ein Himmelserbe!“ Wann werden sie dazu gelangen? Nicht eher, als bis es dem Thürhüter, dem heiligen Geist, gefällt, ihnen auch hier die Pforte aufzuthun. Wie er sie öffne? Entweder so, daß er die Merkmale des Gnadenstandes, die sie unbewußt schon lange in der Tiefe ihres Herzens tragen, ihnen zur Anschauung bringt, und in denselben ihren Rechtsanspruch an alle Gnadenschätze ihnen nachweist; oder so, daß er unmittelbar, sie wissen selbst nicht wie, das laute, unwidersprechliche und entzückende Zeugniß gibt, daß sie Kinder Gottes seien, und hiedurch jede Bedenklichkeit, die das Zulangen ihnen erschweren wollte, dergestalt entfernt, daß es ihnen jetzt als eine große Thorheit erscheint, nicht längst schon ihres himmlischen Besitzes sich von Herzen gefreut zu haben. Nun aber werden sie erst recht inne, wie lieblich ihnen das Loos gefallen sei. Nun schmecken sie den Honig der Vergebung, und legen sich die Ehrenkleider an, die ihnen erworben sind. Es erfüllt sich jetzt an ihnen, was Sacharja 9 geschrieben steht: „Der Herr Zebaoth wird sie rüsten, daß sie verzehren und unter sich bringen mit Schleudersteinen, und trinken und rumoren als vom Wein, und voll werden als das Becken und wie die Ecken des Altars.“ Ja, nun ertönt in ihrem Herzen der Jubel Jes. 61,10: „Ich freue mich in dem Herrn und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott: denn er hat mich angezogen mit Kleidern des Heils, und mit dem Rock der Gerechtigkeit mich gekleidet, wie ein Bräutigam mit priesterlichem Schmucke sich ziert, und wie eine Braut in ihrem Geschmeide pranget.“

5.

Ich rede endlich von einer fünften Thür. Die Thür des Himmels ist es. Nun wissen wir zwar wohl, daß diese unseren Personen der Herr Christus mit blutender Hand erschlossen hat; aber unserm Auge und unserm Herzen öffnet der Thürhüter sie, der Heilige Geist. Er reicht uns das wunderbare Fernrohr der lebendigen Hoffnung dar, durch welches wir, hier schon selig, in die goldne Himmelswelt hinüberschauen. Er ist’s, der uns die Erstlinge der Paradiesesfreuden als lieblichen Vorgeschmack zu Herzen führt, und dadurch schon auf Erden den Himmel uns heimisch macht. Es ist der Geist, der je und dann uns in den dritten Himmel entrückt, und schon von ferne die Halleluja’s der vollendeten Gerechten uns mit Entzücken vernehmen läßt, und der aus den trüben Nebelthälern dieser Erde uns emporhebt auf den Gipfel eines geistlichen Nebo, um dort mit den Bildern des ewigen Canaans, welchem wir nahe sind, uns zu stärken, und zu neuen Kämpfen uns zu rüsten.

Doch von solchem Aufthun der Himmelspforte wollte ich eigentlich nicht reden. Vielmehr gedachte ich nur davon zu sagen, wie uns der Geist den Himmel öffne und den Thronsaal Gottes, wenn wir droben irgend etwas vorzutragen und zu handeln haben. Wenn wir hinauf wollen mit einer Bitte zu Gott, dem Herrn, oder es uns drängt, unser Herz in den Schoos des Allmächtigen auszuschütten, und wir nun nicht wissen, wie wir das Ziel erreichen, und es uns ein Wagstück dünkt, in unsrer Armseligkeit und Blöße dem dreimal Heiligen zu nahen: wie auch dann uns geholfen werde und durch wen, das wollte ich euch kundthun. Denn auch dann ist es wiederum der Heilige Geist, der uns holdselige Pförtnerdienste leistet. Er zeigt uns in dem dreimal heiligen Geist da droben den versöhnten Vater, entschleiert uns Gottes freundliches Angesicht, bringt uns den Fernen erreichbar nahe, gibt zu dem Majestätischen uns ein kindlich Herz, belebt in uns das Bewußtsein des hohen Standes, zu welchem wir vor Ihm in Christo gekommen sind, und beleuchtet uns den Schmuck der Gerechtigkeit, darin wir vor Ihm prangen, legt das Abba und das Gebet im Namen Jesu auf unsre Lippe, und lehrt uns den „Hinzutritt zum Gnadenthron mit Freudigkeit.“ Denn wie er der Geist der Gnade ist, so ist er auch der Geist des Gebetes, der unsrer Seele die Flügel der Kindeszuversicht zu dem Allmächtigen anweht, und auch hiedurch uns Pförtnerdienste thut, und die Perlenthore des Thronsaals Jehovas vor uns aufschließt.

Ein bekannter Dichterspruch sagt: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, Wie könnten wir das Licht erblicken?“ – Der Apostel spricht: „Der Geist zeuget, daß Geist Wahrheit ist.“ Um das Werk des Geistes zu verstehen, muß man erst selber geistlich werden. Wollte Gott, ihr Alle bedürftet nicht mehr, daß man vom heiligen Geiste zu euch rede, weil ihr selbst des Geistes Kinder wurdet! – Aber mein Wunsch läuft den Weg zu diesem Ziele schneller, als meine Hoffnung. Doch Eins tröstet mich im Blick auf Tausende: das Bewußtsein, daß der Geist gnädig ist, den Beginn seiner Wirksamkeit nicht erst abhängig zu machen von der Bitte der Sünder, sondern damit auch schon frei und ungehemmt dieser Bitte voran zu eilen. Thue er so in Bälde an allen denen unter uns, die noch Fleisch sind; zerbreche er jede noch verschloßne Herzenspforte vor dem Friedenskönige her, und verleihe er, daß bald Keiner mehr unter uns sei, der nicht aus eigener Erfahrung wisse, was das sei: “Demselbigen thut der Thürhüter auf, und die Schafe hören seine Stimme; und Er ruft seine Schafe mit Namen, und führet sie aus zur Weide!“ Amen.

Quelle: Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Sabbathglocke

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