Krummacher, Friedrich Wilhelm - Simeon

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Simeon

Festpredigt, gehalten am 2ten Weihnachtstage 1851.

Und siehe, ein Mensch war zu Jerusalem, mit Namen Simeon; und derselbe Mensch war fromm und gottesfürchtig, und wartete auf den Trost Israels; und der Heilige Geist war auch ihm. Und ihm war eine Antwort geworden vom Heilgen Geist, er sollte den Tod nicht sehn, er hätte denn zuvor den Geist des Herrn gesehn. Und er kam aus Anregen des Geistes in den Tempel. Und da die Eltern das Kind Jesus hineinbrachten, daß sie für es thäten, wie man pfleget nach dem Gesetz: da nahm er es auf seine Arme, und lobete Gott und sprach: Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehn; welchen du bereitet hast vor allen Völkern; ein Licht, zu erleuchten die Heiden, und zum Preis deines Volkes Israel.
Lukas 2,25-32.

Der sinnigsten und bedeutungsvollsten Weihnachtsbilder eins hat sich in dem eben verlesenen Evangelium auf’s neue vor uns aufgerollt. Oft schon haben wir vertieft davor gestanden, aber seinen Inhalt noch lange nicht erschöpft. Die Geschichte ist euch aus Betrachtungen, die wir früher über sie angestellt, ihren einzelnen Zügen nach hinlänglich bekannt; und darum sei es nicht sie, sondern ihr Held, der alte Simeon mit dem Jesuskinde auf dem Arme, um welchen ausschließlich der Kreis unsrer Festgedanken sich bewege. In welcher Weise der Alte wunderbarlich zu der herrlichen Höhe hinangeleitet wurde, auf der er uns jubelnd heut begegnet, das wisset ihr. O sehet ihn, wie er dasteht, ein Leuchtthurm in der Nacht dieser Welt, ein Richtzeichen allen Völkern der Erde, ein Alpengipfel, lieblich und verheissungsreich geröthet vom aufgehenden Tage einer neuen göttlichen Reichsperiode. Eine geschichtliche Person ist Simeon, wie sich von selbst versteht; aber zugleich, und offenbar nach Gottes Absicht, ein tiefes, bedeutungsreiches Sinnbild. Aus dem letzteren Gesichtspunkte schauen wir uns den Alten heute an. Er wird sich uns vorführen: 1) als Repräsentant des beim Ziele seiner göttlichen Führungen angelangten Israels; 2) als Träger der uns in Christo wieder erworbenen Menschenwürde; und 3) als Spiegel der zukünftigen Weltverklärung.

Erleuchte der Geist des Herrn uns den Blick, und lehre er selbst uns die göttliche Geheimschrift lesen, die in dem Bilde jenes Mannes uns entgegentritt.

1.

„Gott“, sagen wir mit dem Apostel, „ist nicht allein der Juden, sondern auch der Heiden Gott“. Sein Regiment erstreckte sich je und je mit gleicher Genauigkeit über diese, wie über jene. Israel war nicht das geliebtere, sondern nur das zum Heil der übrigen zeitweilig bevorzugtere, und durch seine Führung hervorgehobenere der Völker. Die lebendige Tafel war es, an welche Gott Angesichts der ganzen Welt, mit leserlicherer Schrift, als irgend sonst wo, seinen vollen Namen schreiben wollte. Die hohe Wand war’s, an der Er vor den Augen Aller, die sehen wollen, seine Herrlichkeit vorübergehn ließ. Das Gefäß war’s, verordnet, den der ganzen Menschheit zugedachten Schatz seiner heiligen Offenbarungen zunächst in sich aufzunehmen, und ihn für dieselbe zu bewahren; und der sorgsam gepflegte Baum, an dessen Aesten die Frucht des Heils für Millionen erwachsen und reifen sollte. Ein zweitausendjähriges Aller hatte zur Zeit Simeons das Volk in dieser besonderen göttlichen Obhut und Pflege erreicht. Großes hatte der Herr in diesem langen Zeitraum an ihm gethan. Alle seine Vollkommenheiten hatte er thatsächlich an ihm zur Erscheinung kommen lassen und verherrlicht. Israel ragte aus den Völkern der Erde hervor, wie ein riesiger Leuchter, auf welchem statt der Flammen sämmtliche Attribute des persönlichen Gottes ihren Glanz entfalteten. Ja als ein Wunderspiegel stand es da, in dem das Verborgenste des Herzens Gottes und seine geheimsten Rathschlüsse enthüllt zu Tage traten. Ueberfliegt nur einmal in raschem Blicke Jehovah’s Führen und Regieren, wie es an dem Volke offenbar geworden. In der Patriarchenzeit, der friedensreichen, von Engeln durchschwebten, wie von Seinem eignen Fuß durchrauschten, zeichnete der Herr seinem Knechte Abraham und dessen Kindern, ihre Sehnsucht zu nähren, ein wenn auch nur leises Bild der ungleich herrlicheren Zustände vor, denen er sie entgegen zu führen beschlossen hatte. Während ihrer Fremdlingschaft in Egypten überließ er sie eine Weile sich selbst, um sie erfahrungsmäßig inne werden zu lassen, was ohne Seine Hut und Leitung aus ihnen werden würde. Auf daß aber die dort eingetretene sittliche Zerrüttung das Maß nicht überschritte, griff er alsobald mit ausgerecktem Arme wieder zu, und verherrlichte in dem Wunder ihrer Rettung an den Verkommenen seine unwandelbare Treue. In der Gesetzgebung am Sinai zündete er ihnen hierauf das brennende Licht an, in dessen Feuerscheine sie für immer von der pharisäischen Lüge genesen, und zum heilsamen Bewußtsein ihres verderbten und fluchwürdigen Zustandes gelangen konnten. Damit sie aber, vom Gesetze verdammt, nun nicht der Verzweiflung zur Beute würden, richtete er ihnen neben den Fluch und Tod dräuenden Mosistafeln in dem Bildwerke der heiligen Hütte das Wahrzeichen der künftigen Erlösung auf. Wer verstand aber diese göttliche Geheimschrift ohne Deutung? Es bedurfte der Propheten; aber Propheten beschritten auch in unübersehbarer Reihe den Plan; und immer bestimmter und umfassender gestaltete sich die Weissagung von dem, der da kommen sollte, ein „Gerechter und ein Helfer“. Und wollte die Sehnsucht nach dem Verheißenen erlahmen, gleich sandte der Herr Gerichte, um den verglimmenden Funken wieder anzufachen. So hörte Er nicht auf, wie ein zärtlicher Vater über sein auserwähltes Volk zu wachen. Nicht einen Augenblick entließ er’s aus seiner Zucht. Sein ganzes Augenmerk schien nur auf den Samen Abrahams, diesen Tropfen im Völkermeere, hingerichtet.

Was war nun nach dieser zweitausendjährigen göttlichen Bearbeitung endlich aus dem so reich bevorzugten Volk geworden? Man möchte meinen, etwas Herrliches müsse es sein. Nun, objektiv (gestattet diesen Ausdruck,) ragte das Volk freilich, wie bereits bemerkt, als ein hoher Berg hervor, dessen sonnig beleuchteter Gipfel das unvergleichliche Schauspiel der allseitig entschleierten Klarheit und Majestät des lebendigen Gottes darbot. Was aber Israel subjektiv, oder seiner persönlichen Beschaffenheit nach war, das müßt ihr nach dem großen Haufen, der euch auf den Gassen Jerusalems und in den Städten Judäas begegnet, nicht bemessen wollen. Der trat, der erziehenden Hand Jehovah’s sich entwindend, aus der Bahn, in der die Väter wandelten, heraus; und wie er im Geiste nicht am Berge Sinai stand, noch je mit der Haltung der göttlichen Gebote es versuchte, so ging er auch nicht bei den Propheten in die Schule; sondern, statt mit Gottes Wort nur getränkt mit den Satzungen und Fündlein der Pharisäer und Rabbinen, zog er, verblendet über seinen wahren Zustand, und aufgeblasen in seiner aus todten Werkdiensten zusammengeflickten Gerechtigkeit, irr und wirr seine eigne Straße. Und da sich natürlich nun auch seine Messias-Erwartung seinem Geschmack gemäß gestaltete, erkannte er den bereits Gekommenen nicht, weil derselbe weder mit dem erwünschten Schlachtschwerdt gegen die Römer an seiner Seite, noch mit den irdischen Kronen und Schätzen in der Hand erschien, wonach dem geistig bedürfnißlosen Troß der Sinn stand. Er verneinte, daß der Verheißene da sei, obwohl der prophetisch vorherverkündete Zeitpunkt seines Erscheinens eingetreten war, und stempelte so den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zum Lügner, und das Wort seiner Seher zum Betrug. Einen widerlichen Anblick gewährt dieses Geschlecht. Die ganze Herrlichkeit Gottes könnte es uns verdunkeln. Aber wisset: dieser Haufe ist eben der Zögling Jehova’s nicht, sondern ein aus Seiner Schule entsprungener und Seiner Zucht entlaufener, tief entarteter Wildling. Wollt ihr dagegen das Volk Seiner Führung und Erziehung sehn, so schauet auf. In einem Repräsentanten führt sich’s euch vor. Fasset ihn wohl in’s Auge, diesen Typus der wahren Abrahamiden!

Wie ein Meteor taucht er aus der verkommenen Masse auf. Eine herrliche Erscheinung, die die Ehre Gottes wieder rettet, und den Schein der Ergebnißlosigkeit seines Führens und Regierens für immer zerstreut. Begehrt ihr den Juden zu sehn, wie der Herr ihn pflanzte, pflegte, zog; hier steht er vor euch. Fragt ihr nach dem Israel Gottes: in einem individuellen Bilde tritt er hier in euern Gesichtskreis. In dem silberhaarigen Simeon habt ihr den Israel Jehovas vor euch, wie er an dem Berge stand, der mit Feuer brannte; wie er, erschrocken vor der Majestät des Dreimalheiligen, begierig die Hieroglyphenschrift der heiligen Hütte lesen lernte; wie er lauschend zu den Füßen der Propheten saß, und Gott schaute in seinen Wundern, Führungen und Thaten. In diesem Simeon gewahrt ihr die gereifte Frucht der zweitausendjährigen Bildnerarbeit des lebendigen Gottes an seinem Volke. Denn beachtet nur die Beugung und Zerknirschung, mit der dieser Mann vor Gott am Staube liegt; bemerkt die tiefe Ehrfurcht, mit welcher er Seines Scepters Spitze küßt; schaut die unbedingte Hingebung bis in den Tod, in der er sich Ihm verpflichtet und verpfändet, die Sehnsucht nach dem verheißenen Heil, die, einer reinen Himmelsflamme gleich, sein Innerstes durchglüht, die starke Zuversicht, womit er auf die Verheißungen des Gottes Amen trotzt und traut, und endlich die Geistigkeit und Reinheit seiner Anschauungen von dem sehnsuchtsvoll erwarteten Erlöser, dessen Bild, unmittelbar dem Prophetenwort entnommen, bis in die kleinsten Züge hinein in unentstellter Schöne in seiner Seele lebt: und in diesem Allen seht ihr das liebliche Ergebniß des göttlichen Erzieherwerks sich spiegeln. Und nun schaut ihn hingestellt, das herrlichste Wahrzeichen, das je der Welt erschienen ist, auf die Höhe des Tempelberges, in seinem Auge die Wonne der „ewigen Hügel“, und auf seinen Armen das schnell erkannte, mit anbetungsvoller Inbrunst gegrüßte, über Alles theure Gottes- und Menschenkind! – Ja, es ist’s, das Wunderreis des königlichen Cedernbaums; des Weibes Sproß, der der Schlange den Kopf zertreten soll; der Zweig, aus Juda’s Stamm und Davids Wurzel; der Sohn, deß Herrschaft ist auf seiner Schulter; der Held aus Bethlehem Ephrata, dessen Ausgang von Anfang und Ewigkeit her gewesen; der gute Hirte, der das „Verirrte wiederbringen“, das „Verwundete verbinden und heilen“ werde! Dort steht ja die Königliche Jungfrau, die Mutter Imanuels; und die Stunde, die durch Daniel bezeichnete, schlug; und der Tempel, zu dem der Ersehnte kommen sollte, umragt ihn ja noch mit seinen Säulenhallen; und ausdrücklich wurde dem Alten ja vom Heilgen Geiste zugeraunt, er werde den Tod nicht sehn, er habe denn den Christ des Herrn gesehn. Es ist ihm nichts gewisser, als daß er den Sohn der Ewigkeit an seine Brust drückt. Und nun hört seine Lippe übergehn von dem, wovon sein Herz so voll ist. “Herr,“ frohlockt er, “nun entlässest du deinen Knecht mit Frieden; denn meine Augen sahen den Heiland!“ – Versteht ihr? – O, achtet genau auf dieses bedeutungsvolle Schwanenlied des Repräsentanten und Vertreters des Samens Abrahams. Israel ist am Ziele seiner göttlichen Führungen angelangt. Es sieht in Simeon die Pforten der alten zweitausendjährigen Haushaltung sich schließen. Nicht vom Priester läßt es sich das Kindlein zeigen; es zeigt es in Simeon dem Priesterthum als sprechenden Thatbeweis, daß es mit dem Schatten- und Hüllenwerke, nachdem der göttliche Zwiefalter herausgebrochen sei, nunmehr ein Ende habe. Es zeigt’s den Meistern auf Mosis Stuhl zum Zeugniß, daß die Gerechtigkeit fortan anders woher als aus dem Gesetze komme. Und Gott den Herrn preisend für die Treue, womit er ihm Wort und Bund gehalten, zeigt Israel das Wunderkind und beut es auf Simeons Armen dar - der ganzen Welt. In diesem feierlich stillen Darstellungsakte aber, bemerkt es wohl, erreicht der göttliche Sonderberuf des auserwählten Volkes seinen Abschluß, und geht nun in den allgemeinen und gemeinsamen Beruf des ganzen, aus allen Völkern, Sprachen, Zungen und Religionen zu sammelnden Gottesvolks über; in den Beruf, des erschienen Wunderkindes sich fortan zu freuen, mit ihm im Glauben zu verwachsen, auch denen es zuzutragen, die es noch nicht kennen, und zu sorgen, daß sein Name herrlich werde bis an die Enden der Erde. Auf diesen Abschluß der Führung und Bestimmung Israels deutet Simeon mit seinem „Herr, nun entlässest du deinen Knecht mit Frieden; denn meine Augen sahen deinen Heiland“; und ausdrücklicher und unzweideutiger noch mit dem unmittelbar darauf folgenden Zusatz: “Welchen du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht zu erleuchten die Heiden“.

Sehet ihn euch nun noch einmal an, den hochbeglückten Greis, wie er dasteht als das lebendige Sinn- und Spiegelbild des endlich zum Schlußpunkte seiner göttlichen Mission gelangten Israels. Sehet ihn, den ehrwürdigen Vertreter des Volkes Gottes, wie er, den Fürsten des Friedens auf seinen Armen, gleichsam hinausfragt in die weite Welt: „Was meint ihr? Thront und waltet nicht ein lebendiger Gott in der Höhe, und ist dieser Gott nicht ein Gott Wunderbar und ein Gott der Wahrheit und der Treue? Hat Er nicht Alles wohl ausgerichtet und Wort gehalten bis auf’s Jota? Vollführte er sein Werk nicht auf’s herrlichste, und bewältigte er nicht majestätisch, was hemmend sich in den Weg ihm wälzte?“ – Und was bleibt uns zu erwiedern übrig, als ein begeistertes: „Ja, ja, so ist es!“ Welch prächtiges Denkmal aller göttlichen Vollkommenheiten stellt uns die Führung Israels von ihrem Anfang bis zu ihrem Schlusse vor die Blicke! Wie unvergleichlich hat der Herr trotz aller Gebirge von Widerständen, welche die Sünder ihm entgegenthürmten, seinen Heilsplan in und mit seinem Volk zum Ziel gebracht! – O heiliges Land, du Schauplatz aller dieser seiner Offenbarungen und Wunder, wie begreiflich ist es uns, daß deinen Kindern in der Fremde das Lied auf der Lippe nicht ersterben wollte: „Jerusalem, wenn ich dein vergesse, so werde meiner Rechten vergessen immer und ewiglich!“ Wie wenig nimmt es uns mehr Wunder, daß schon ein Jakob und ein Joseph in Egypten heißes Begehren trugen, wenigstens in jener Erde, über der so Großes sich ereignen sollte, einmal begraben zu sein, und darum den Kindern Israel einen Eid abnahmen, sprechend: „Wenn euch Gott heimsuchen wird, so führet unsere Gebeine mit von dannen!“ O, du Land, leuchtend, wohin das Auge blickt, von den Fußtapfen des ewig Lebenden, du bleibst unserer Seelen Wallfahrtsziel und Heimath! – Nicht Alexandrien, nicht Athen, nicht Rom, nein, du Jerusalem bist die Stätte, wo dem Dürsten unsterblicher Geister unendliche Stillung quillet! –

2.

Wir blicken auf den alten Simeon zurück, in welchem uns noch ein Weiteres zur Anschauung kommt, als was wir bereits gesehen haben. Wie er den Israel Gottes seiner geschichtlichen Führung und Bestimmung nach vertritt, so repräsentirt er ihn zugleich nach der Fülle der Herrlichkeit, zu der derselbe in dem erschienen Wunderkinde gelangt ist. Als ein lebendiger Weihnachtsbaum steht der Alte da, an dessen wahrhaft grünen Aesten alles das zur Erscheinung kommt, was uns die Mutterliebe Gottes in der Sendung des ewigen Sohnes bereitet hat. Wir bezeichnen dies, die Fülle mannigfaltiger Segnungen in Eins zusammenfassend, mit dem Namen der wahren Menschenwürde. Diese büßten wir im Paradiese ein. Niemand besitzt sie mehr von Natur, wie keck er auch ihren Schein vor sich hertrage, und in dem Wahn ihres andauernden Besitzes sich spreize. Wir sind tief, tief erniedrigt und herabgekommen. In Christo erst gewannen wir die verlorne Würde wieder. Erblickt in Simeon deren ersten Träger. Die wahre Menschenwürde, denk’ ich, besteht in der Unabhängigkeit von dieser Welt, in der Entbundenheit von der Sünde Fluch und Herrschaft und in der Freiheit von der Furcht des Todes. Wenn dies, so seht ihr diese Züge sämmtlich wie drei himmlische Adelssterne aus der Erscheinung unsres liebenswürdigen Greises strahlend wiederleuchten.

Zuerst ist die Schmach eines Mannes, der dieser armen Welt zu seinem Glück und Frieden nicht entbehren kann, von ihm genommen. Simeon liegt nicht mehr als ein schmachtender Bettler an ihrer Schwelle, noch senkt er seufzend mehr sein Haupt, wenn sie die Flitter ihrer Güter, Freuden und Ehren ihm versagt. Er steht hoch über ihr, belehnt mit Schätzen, vor denen Alles, was jene ihren Kinder zu bieten hat, als jämmerlicher Tand zurücktritt. Der Allerhöchste ist fortan sein Gott, das Wohlgefallen dieses Gottes sein Glanz und Ruhm, Gottes Friede seines Herzens Kleinod und Gottes Wille seines Willens Maß und Ziel. „Herr“, ruft er mit tiefer, innerer Befriedigung, „nun lässest du deinen Knecht mit Frieden fahren.“ – „Wenn Dir’s gefällt,“ will er sagen, „so magst Du mich jetzt von hinnen nehmen; denn die Welt hängt mir nicht mehr an, und ich werde nichts an ihr vermissen, da ich in Dir, Allgenugsamer, Alles habe.“ In jenem “Nun“ löst sich die letzte Faser seines Wesens von der Scholle. Er ruft in jenem “Nun“ der Welt sein „Fahre wohl; dein bedarf ich nicht mehr.“ Ja, mit dem “nun“ stößt er gleichsam die Welt unter seinen Füßen weg; denn in der That beschränken sich alle seine Begierden jetzt auf die eine, Gott zu schauen und in dem Maße ihn lieben, loben und erheben zu können, wie er es so gerne möchte. O hoher, hehrer Standpunkt! O königliches Schweben über den Höhen der Erde! Ein rechter Freiherr ist der Alte jetzt. Ja, der “Herr über die Erde“, wie er in Adam einst das Paradies durchschritt, steht hier, dem Wesen nach erneuert, wieder vor uns. Zu dieser Herrscher-Stellung führt aber Einer nur zurück: das Bethlehemskind auf Simeons Armen. Keine Freiheit außer Christo. „So euch nun der Sohn frei macht,“ spricht er selbst, „so seid ihr recht frei.“ –

Schauet Simon. Mit der Schande der Abhängigkeit von der Welt ist auch die noch ungleich größere des Sündenfluches und der Sündendienstbarkeit von ihm genommen. O wie kann von Menschenwürde da noch die Rede sein, wo man als einen Gebannten Gottes sich weiß, und seiner Lüste Knecht, seines Fleische Sklave ist? Wo Ruthen und Knüttel erst über uns sich schwingen müssen, ehe wir das göttliche Gesetz vollbringen, und, vollbringen wir es endlich, dies nur aus Furcht vor der Geißel, und jedenfalls mit Widerwillen und innerm Widerstreben thun; wo blieb da unser Adel? In solchen Zuständen entsetzlichster Erniedrigung aber befinden wir uns Alle von Natur. Simeon ist ihnen glücklich entronnen. Nicht blos wich in ihm das Schuldbewußtsein demjenigen einer vollkommenen Rechtfertigung vor Gott, so daß es ihm von Gottes und Rechtswegen zusteht, in das paulinische „Wer will verdammen?“ mit einzustimmen; es trat zugleich in seinem Innern an die Stelle der Widerspenstigkeit, der Sklavenfurcht und des knechtischen Sinnes, die an der Liebe Gottes entzündete Gegenliebe zu Ihm; und diese ist „des Gesetzes Erfüllung“. O mit wie tiefer Wahrheit und Innigkeit spricht er in seinem Schwanenliede das “Despota“, “Herr und Gebieter“, und wie von Grund der Seele willig stellt er sich damit Demselben zur unumschränkten Verfügung! Und mit wie wonniger Bewegung seines Gemüthes ruft er sein „Herr, nun entlässest du deinen Diener!“ Ach, des Glückes, das er darin findet, der Diener dieses Herrn zu sein! Was mit Jehova’s Willen streitet, hasset er hinfort wie die Hölle selbst; und frei, frei, vom tiefsten, lebendigsten Bedürfnisse getrieben und gedrängt, läuft er, ein seliges Kind, den Weg der Gebote seines väterlichen Gottes. Welch ein Stand dies! Hier ist wahrhaftiger Adel! Hier ist Seraphsähnlichkeit! O, was vermag das Kindlein in der Krippe aus dem sündigen Erdenwurme, Mensch genannt, herauszubilden!

Wie hehr stand der Mensch einst da, der Gebieter über alle Kreatur, der Fürst des Paradieses! Aber wie tief stürzte er in Folge des Sündenfalls herab von seiner Höhe! Der zur Unsterblichkeit geschaffene wohnt gegenwärtig in der Welt wie zwischen Kerkermauern, ein elender Delinquent, gerichtet und zum Tode verurtheilt vom Gesetz. Welche Schmach! Sein Sterbebette harret seiner als sein Schafott, der Schreckenskönig als sein Henker. Er muß erzittern, wo er nur von Ferne dessen Tritte rauschen hört; denn nicht mit dem Verwesungsmoder nur droht dieser letzte Feind, sondern gar mit der Hölle. Sagt aber, wo da auch nur eine Spur von Hoheit und Würde noch zu entdecken ist, wo man, daß ich mit dem Apostel rede, sein “ganzes Lebenlang ein Knecht sein muß durch Furcht des Todes?“ Wo ist Schmach und Erniedrigung, wenn nicht hier? Doch auch aus diesem schimpflichen Stande uns zu erlösen, kam der Weihnachtsknabe; und wollt ihr einen durch ihn Erlösten sehn: in Simeon steht ein solcher vor euch. „Herr“, ruft er, „nun lässest du deinen Diener mit Frieden fahren.“ Was heißt das, als: “Ich sterbe nun mit Freuden?“ – „Mit Freuden?“ fragt ihr. So ist’s. Simeon steht jetzt triumphirend über dem Tode; ja das Verhältniß hat sich umgekehrt. Er ist nicht mehr des Todes Knecht, sondern sein Vasall und Unterthan ist jetzt der Tod. Der Schreckenskönig muß hinfort ihm, dem in Christi Blut Entsündigten, zu Diensten steh’n, und ihm die Staubeskleider auszieh’n, die letzte Bürde ihm von der Schulter nehmen, die Bande brechen, die ihn noch beschweren, und ihn zum großen, seligen Krönungsfeste heimgeleiten.

Brüder, ihr seht, in Simeon erscheint der Mensch, in den Besitz seiner vollen ursprünglichen Würde wieder eingesetzt. Seinen innersten Grundzügen nach habt ihr in ihm den paradiesischen Urmenschen wieder vor euch. Freilich begegnet er euch noch umkleidet vom Fleisch, und verhüllt in die Ueberreste der alten sündigen Natur; aber nichtsdestoweniger ist er vollgestaltet wieder da, gleich wie der Schmetterling in der schon brechenden Hülle, und die Rose in der grünen Blätterknospe schon vorhanden ist. Unabhängig von der Welt, entbunden von der Sünde Fluch und Herrschaft, und frei von der Furcht vor Tod und Grab, lebt er Gott dem Herrn aus dem innersten Liebesdrange seines Herzens. Wahrlich, hier ist “das Alte vergangen“, und „siehe, es ist Alles neu geworden.“ – Das Weihnachtskind aber ist’s, das solche Wunder wirkt. Beten wir’s an am Staube, und singen ihm jubelnd unser Halleluja! –

3.

Man hat den alten Simeon im edlen Sinne “den ewigen Juden“ nennen wollen. Er ist es insofern, als er in seinem Bilde uns das Israel zur Anschauung bringt, welches, herangewachsen zu der geistlichen Mannesgestalt, zu der es göttlich verordnet war, ewig bestehen und bleiben soll vor Gott. Man hat ihn nicht minder als den christlichen Janus bezeichnet, weil er, auf die Grenzmarke zweier göttlicher Haushaltungen gestellt, rückwärts und vorwärts blicke, und die Pforte einer alten Aera schließe, während er diejenige einer neuen aufthue. Und er darf also heißen, indem er vermöge seiner symbolisch nach allen Seiten hin so höchst bedeutsamen Erscheinung, auf seiner Tempelhöhe als Prophet vor uns hintritt, und in die Herrlichkeit einer zukünftigen Weltverklärung hinüber winkt. Ja, wenn die ganze Menschheit sein Bild und Gleichniß an sich tragen wird, dann wird sie an ihrer Bestimmung Ziel, und die Erde wieder ein Eden sein. Wem leuchtete dies nicht ein? Seht euch nur noch ein Mal unsern Alten an, wie er, das theure Kind auf seinen Armen wiegend, mit dem sonnigheitern Antlitz und dem vollkommenen Gottesfrieden in seinen Zügen, über alle und jede Sorge hinweggehoben, vor euch steht, und denkt euch dann das gesammte Geschlecht der Adamskinder in dieser seiner Stellung, Verfassung und Gestalt; was wäre noch zu wünschen übrig? – Und wie, daß es zu solcher Umbildung unsres Geschlechts nicht sollte kommen können? Sahen wir doch schon einmal in einem Nu eine Schaar von nicht weniger als drei Tausend auf den simeonischen Standpunkt hinaufgehoben. Freilich werden wir uns vorab noch auf schwere Geburtswehen und Kämpfe gefaßt zu halten haben; aber wem entgeht es, daß dieselben dem Beginne nach schon eingetreten sind? Die Welt ist wieder, wie in den Tagen, da Christus geboren ward, in eine entscheidende Periode eingetreten. Gar Vieles hat sich unwiederbringlich überlebt, und manche Stelle ist bereits für Besseres leer geworden, und manche wird es. Das morsche Gebäude des Rationalismus bröckelt zusehends und unhaltbar mehr und mehr auseinander. Die Tagesphilosophie des neusten Datums, welche sich rühmte, die Spitze aller Menschenbildung, ja die absolute Weisheit aller Vernunft zu sein, hat durch die schauerlichen Früchte, die sie auf dem Gebiete des politischen wie des gesellschaftlichen Lebens getrieben, sich selbst das Brandmal der Nichtigkeit und Lüge an die Stirn gedrückt. Gewisse Kirchensysteme werden mehr und mehr in dem schreienden Widerspruche, in welchem sie mit dem unzweideutigen Worte Gottes sich befinden, offenbar, und nur noch künstlich und unter großen Anstrengungen und Mühen aufrecht erhalten. Die Welt aber sehnt sich mit wachsendem Ungestüm nach Ruhe und Frieden auf zuverlässiger Grundlage; und diesem Sehnen, wie lange und weit es sich auch noch verlaufen mag, wird Befriedigung nur blühen da, wo Simeon sie fand.

Brüder, ein lieblich Gesicht zieht an meinem Geiste vorüber. Ich sehe, und siehe, es naht zuerst der Katholik, und nimmt simeonisch das heilige Kind von der Jungfrau Maria Armen, und drückt es in unvermittelter Gemeinschaft selig an sein Herz; und Maria erhebt dawider keinen Einspruch, sondern freut sich, wie sie des beherzten Alten sich freute und seines Jubels. Der Angehörige der griechischen Kirche tritt in seinen Tempel, und aus des Priesters Arm nimmt er in den seinigen das Kind. „Ich muß es näher haben,“ ruft er, „als dein fernes Zeigen mir’s gewährt;“ und der Priester nickt ihm lächelnd zu: „Nimm’s hin“ Geht’s dich doch eben so nahe an, wie mich, und ist’s doch eben so ganz und völlig dein, wie es mein ist. Nimm’s und sei selig!“ Der Protestant hebt’s aus den Buchstabenwindeln seiner kirchlichen Bekenntnisse heraus, und jubelt: „Dich selbst muß ich umarmen, nicht blos dein Lehrbild, noch von dir das Dogma!“ – Der Zögling glaubensloser Menschenschulen naht verlegen und beschämt, und huldigend sich vor dem Kinde neigend, ruft er: „Nun fahre auch ich mit Frieden!“ und bekennt es laut, daß er in der That unter allen den Weisheitsfahnen, denen er bisher gefolgt, nimmer gewußt, was innerer Friede sei, und an den Theorien, die er oft so laut gepriesen, doch nur wasserleere Brunnen besessen habe. Es nahet, - o, darf ich meinen Augen trauen? – nun endlich auch das verlorene Schaaf vom Hause Israel. „Weinend und betend“, wie ihn schon der Seher Jeremias im prophetischen Gesichte nahen sah, taucht wirklich nun auch er aus der Tiefe seines namenlosen Irrsals auf, der Mann des zweenfachen Fluchs, der Jude der Verbannung und Zerstreuung, und erkennt, nachdem die fast zweitausendjährige Decke der Verblendung von seinem Auge gewichen, in dem Kinde auf Simeons Armen endlich in brünstiger Huldigung seinen König David. – Und wie ich weiter schaue, siehe, da schreitet die Wissenschaft zum Tempelberge und enthebt den Armen Simeons das Kind, und hält es hoch empor, vor aller Welt bezeugend: „In dir liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und Erkenntniß!“ Und Kunst und Dichtung folgen und thun ein Gleiches. Hört, wie sie jauchzen, „Du bist der Schönste unter den Menschenkindern; holdselig sind deine Lippen, darum segnet dich Gott immer und ewiglich“; und sehet, wie sie nach langer, langer Irrfahrt an den Küsten Seines Reiches als des Wohnsitzes aller wahren und höchsten Idealität entzückt vor Anker gehen. Und von der göttlich belebten, neubegeisterten, und mit dem dem Oelbaum Gottes wieder eingepfropften Israel zu Einer Heerde unter dem Einen guten Hirten – vereinigten Christenheit gehen Blitze, Donner, Stimmen aus in’s Weite; und ringsum erwachsen massenweise die Heiden aus ihrem Todesschlafe, und strömen, Licht geworden in dem Glanze, der über ihnen aufging, in hellen Haufen jetzt herzu, um das liebliche Menschheitsbild, wie es prophetisch in der Weihnachtserscheinung des alten Simeon, des rechten Abrahamssohns, sich spiegelte, zu vollenden. Brüder, Solches schaue ich im Geiste, und wenn dieses Gesicht sich in Fleisch und Blut gekleidet haben, und die Welt zum Simeon mit dem Kinde wird geworden sein: dann haben wir das Ziel unsrer zeitlichen Bestimmung erreicht. So “wohnt“ alsdann, wie der Sänger des 85 Psalms gesungen, „die Ehre Gottes im Lande; Güte und Treue begegnen einander; Gerechtigkeit und Friede küssen sich; Wahrheit sprießt aus der Erde, und Gerechtigkeit schauet vom Himmel“. Ja, dann umblühet uns neu das verlorne Paradies, und von den Säulen unsrer Erde strahlt die Inschrift: „Siehe, eine Hütte Gottes bei den Menschenkindern!“

Doch bevor es im Großen zu dieser Weltverklärung kommen kann, muß dieselbe im Kleinen eine Wahrheit werden; und ehe die Weissagung, welche in der Person des alten Simeon verkörpert uns entgegentritt, in der Gesammtheit sich erfüllt, muß sie sich erfüllen in den Einzelnen. O, daß zu diesen Einzelnen denn auch wir gehören mögen! Brüder, das Ehrwürdigste und Schönste, was aus einem Menschenkinde hienieden werden kann, ist – eine Simeonsgestalt.

In sie, - mit diesem Weihnachtswunsche laßt mich schließen, - bilde der heil. Geist auch uns hinüber. Er lege, wie jenem, so auch uns das Gottkind in den Glaubensarm; auf unsre Lippe aber lege er uns die Siegeslosung: “Herr, nun lässest du deinen Knecht, und deine Magd, mit Frieden fahren, denn meine Augen sahen deinen Heiland.“ Amen. -

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