Krummacher, Friedrich Wilhelm - Hat Christus Gott gelästert?

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Hat Christus Gott gelästert?

Predigt, gehalten am Sonntage Lätare, den 21. März 1852.

Matth. 26,63-65.
Aber Jesus schwieg stille. Und der Hohepriester antwortete und sprach zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, daß du uns sagest, ob du seist Christus, der Sohn Gottes. Jesus sprach zu ihm: Du sagest’s. Doch sage ich euch: Von nun an werdet ihr sehn des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft, und kommen in den Wolken des Himmels. Da zerriß der Hohepriester seine Kleider, und sprach: Er hat Gott gelästert; was bedürfen wir weiter Zeugniß? Siehe, jetzt habt ihr seine Gotteslästerung gehört.

Geliebte in dem Herrn! Es ist der größten und bedeutungsvollsten Momente der ganzen Passionsgeschichte einer, zu dem wir heute mit unsrer Betrachtung kommen. Ein Vorgang ist’s, der, wo es die Entscheidung der Frage gilt, wer Jesus war und sei, unendlich schwer in’s Gewicht fällt, ja mit einem Male allem Hader ein Ende macht. Der Herr vom Himmel steht als Verklagter vor dem höchsten überhaupt: denn wer, ihrer sittlichen Beschaffenheit nach, die einzelnen Glieder des hohen Rathes auch immer waren, nach Jesu eignem Bezeugen saßen sie auf Mosis Stuhl, und trugen ihr Richteramt in einem ganz besondern Sinne von Gott zu Lehen. Vor diesem Tribunale nun, also auf dem criminalgerichtlichen Höhepunkte der Welt, Angesichts des Himmels, der Erde und der Hölle, ergeht an unsern Herrn und Meister durch den Mund des Hohenpriesters selbst in feierlichster Form die Aufforderung, eidlich bezeugen zu wollen, ob er sei Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, oder nicht. Welch ein Moment! Die Geister der Höhe und der Tiefe halten erwartungsvoll den Athem an. Was geschieht? – Jesus schwört den Eid, schwört ihn in der vorgeschriebenen solennen Form und Fassung, und betheuert’s zur Bestürzung Aller, die es hören, bei dem lebendigen Gott, daß er allerdings Christus, Gottes Sohn sei. Und der Hohepriester zerreißt seine Kleider und schreit daher, als sei eben ein Frevel vergangen, um deßwillen der Welt Untergang drohe: „Was bedürfen wir weiter Zeugniß? Er hat Gott gelästert. Siehe, jetzt habt ihr seine Gotteslästerung gehört!“ Und bei diesem Blitzstrahl folgt als rollender Donner das einmüthige Urtheil der Versammlung: „Er ist des Todes schuldig!“

Brüder, wie verhält sich’s denn? Hat Christus sich wirklich mit dieser seiner eidlichen Aussage einer Gotteslästerung schuldig gemacht? Diese Frage, ihr erkennt es, ist von unaussprechlich hohem Belange. Für Viele unter uns, ich weiß es, ist sie, und zwar zu Jesu Gunsten, längst entschieden. Es möge aber auch diese nicht verdrießen, auf dem stillen Betrachtungsgange uns das Geleit zu geben, auf welchem wir auch denjenigen unter uns zur endlichen und vollen Klarheit und Gewißheit zu verhelfen hoffen, für welche die große Frage heute noch unerledigt schwebt. Kommt; wir suchen zuerst auf jene Frage die einzig mögliche, und darum entscheidende Antwort; und erwägen dann, was, nachdem dieselbe verneinend ausgefallen, von Stund an uns Allen obliegt.

Ihr merkt, wie dicht der Handel unsres heutigen Passionsabschnitts uns selbst auf die Seele dringt. Verleihe der Herr, daß uns die nahe Berührung, in die wir mit ihm kommen werden, zu Heil und Frieden gereichen möge!

1.

Die Frage, ob Christus mit seinem Bekenntnisse Gott gelästert habe, zerlegt sich vor uns von selbst in drei andre. Zuvörderst fragt sich’s: Sprach Christus das Bekenntniß, das ihm hier in den Mund gelegt wird, in der That einst vor dem Hohenrathe aus, und haben wir es hier nicht etwa nur mit einer zweideutigen Sage, sondern mit einem historischen Faktum zu thun? – Es fragt sich zum Andern: Hat Er sein Zeugniß wirklich ebenso verstanden wissen wollen, wie seine Richter es auffaßten, oder ruhte das nachfolgende richterliche Urtheil auf einer Mißdeutung seiner Worte? – Es fragt sich drittens: War, was Er bezeugte, wirklich in der Wahrheit begründet, oder ist Er etwa in Verdacht zu nehmen, daß ihn der Flug seiner zu kühnen Phantasie über das Maaß einer richtigen Selbstschätzung hinausgeführt habe?

Mit der ersten dieser drei Fragen werden wir sehr bald im Reinen sein. Daß wir in dieser Scene vor dem hohen Rathe nicht etwa eine Dichtung, sondern eine historische Thatsache vor uns haben, bezeugt zuvörderst schon der Stempel geschichtlicher Wahrheit und Treue, den sämmtliche evangelische Berichte über dieselbe für jeden Unbefangenen an der Stirne tragen. Es bezeugt’s zum Andern der geschichtliche Zusammenhang, in welchem die Scene uns begegne. Nachdem die falschen Zeugen sich selbst in ihrer Lügennetz verfangen hatten, blieb dem Hohenpriester, um sich aus seiner peinlichen Verlegenheit heraus zu helfen, und sein schwer gefährdetes Ansehn zu retten, in der That nichts Andres übrig, als zu solch einer feierlichen Beschwörung des Verklagten sich in die Brust zu werfen. Es bezeugt’s drittens die wirklich vollzogene Hinrichtung des Herrn. Die über allen Zweifel erhabene Thatsache der Kreuzigung Jesu zwingt zu der Annahme, daß ihr eine Aussage des Verklagten vorhergegangen sein müsse, die sie ihm als Gotteslästerung deuten, und wenigstens mit irgend einem Schein des Rechts zur Grundlage eines Todesurtheils für ihn stempeln konnten. Es bezeugt’s, daß Jesus jene eidliche Betheuerung wirklich ausgesprochen, zum Vierten das ganze christliche Alterthum, indem vorzugsweise an sie der Gottessohnsglaube sämmtlicher Apostel und der ersten Christen sich anlehnte. Endlich besiegelt’s ein Zeuge, der noch unter das bekanntlich an Treue und Sorgfalt in Bewahrung seiner nationalen Ueberlieferungen auf Erden nicht seines Gleichen findet. Dieses Volk aber, obwohl seines an dem Gerechten verübten Justizmordes halber bis zur Stunde mit dem Bann geschlagen, erklärt noch heute wie mit einem Munde, daß Jesus mit vollem Fug und Recht gekreuzigt worden sei, weil er sich meineidig vor dem Synedrium Gott gleich gemacht, und hiemit die Schuld einer Lästerung des Allerhöchsten auf sich geladen habe. – So steht es denn felsenfest, und ist so überschwänglich constatirt, wie kaum ein andres Faktum der ganzen Weltgeschichte, daß Jesus einst hoch und theuer in gerichtlicher Form und Umgebung bei dem lebendigen Gott geschworen hat, daß er Christus der Sohn Gottes sei. Durch diese Feststellung aber haben wir nun ein gut Stück Grundes schon gewonnen, von wo aus wir in sichrer Operation die Schlacht gegen den Unglauben, der noch in unsrer Mitte hausen möchte, weiter schlagen können. Er möge sich, dieser Feind, in seinem Verstecke vorsehn. Wenn je, so werden wir ihm heute gefährlich werden. Es wird uns eine Waffe wider ihn in die Hand gelegt, mit der wir ihm Schild und Speer, ja Arm und Bein zerschlagen werden; und steht es auch so wenig in unsrer Macht, ihn in glauben zu verwandeln, wie wir eine Schlange zu einer Taube umzuschaffen vermögen, so wird es uns doch gelingen, ihn zum Verstummen zu nöthigen, ja bis zum Tode ihn zu verwunden.

An der Thatsächlichkeit der Erzählung, daß der Herr Jesus einst jenes große Bekenntniß vor dem Synedrium abgelegt habe, hat übrigens in vollem Ernste wohl Niemand noch gezweifelt. Wohl aber wird darum, was der wahre Sinn jenes seines Zeugnisses gewesen sein möge, immer noch viel gehadert und gestritten. Ja, es ist leider! in der Christenheit der Gegenwart die Zahl derer, - es sind die sogenannten Rationalisten, - heute noch Legion, welche jenem Bekenntnisse eine Deutung zu geben sich bemühen, vermittelst deren sie die Doppelwahl glücklich umschiffen zu können meinen, entweder Jesum, wovor ihnen doch gräuelt, mit den Juden einer wirklichen Gotteslästerung zeih’n, und das Bluturtheil gegen ihn mit unterschreiben, oder, was sie eben so wenig wollen, an Ihn glauben zu müssen, wie die Kirche an Ihn glaubt. Sie schwächen das Bekenntniß zu der mageren Aussage ab, er, Jesus, sei ein göttlich berufener Lehrer, der lediglich erschienen und aufgetreten sei, um mit seinem Wort und Vorbild die Welt zu erleuchten. Aber solche Deutung ist schlechthin unhaltbar. Die Gründe liegen vor der Hand. Zuerst wären, wie jeder fühlt, die Ausdrücke “Christus“ und “der Sohn des lebendigen Gottes“ zur Bezeichnung eines menschlichen, ob auch noch so vortrefflichen, Lehrherrn und Sittenpredigers doch gar zu stark. Es ist wahrer Unsinn, dieselben lediglich auf einen solchen deuten zu wollen. Zum Andern wird, zumal im Gange des gerichtlichen Prozesses, der Herr dem Hohenpriester unzweifelhaft doch in demselben Sinne geantwortet haben, in welchem er von ihm gefragt ward. Kaiphas dachte aber mit allen nur einigermaaßen schriftkundigen Angehörigen seines Volkes bei dem Namen “Christus“ unleugbar an den durch die Propheten verheißenen Messias; bei dem “Sohne Gottes“ an den Uebermenschlichen und Erhabenen, den David seinen „Herrn“ nannte, Daniel in den Wolken des Himmels kommen sah, und Micha als einen Solchen schilderte, „dessen Ausgang von Anfang und Ewigkeit her gewesen“ sei. Zum Dritten würde es dem hohen Rathe ja nimmer eingefallen sein, sowie er that, die Miene des Bestürzten aufzusetzen, und dem Herrn Jesu seine Betheurung als eine des Todes würdige Beleidigung der allerhöchsten Majestät auszulegen, wenn Jesus in derselben Größeres nichts von sich hätte aussagen wollen, als daß er ein Rabbi, ein Volkslehrer, oder selbst auch ein Prophet sei. „Aber könnten nicht“, wendet ihr ein, „die Richter ihn mißverstanden, und Bedeutenderes hinter seiner Bezeugung gesucht haben, als er selbst in sie hineinzulegen willens war?“ – O Freunde, in diesem Falle würde der Herr ja ohnfehlbar gegen ihre falsche Auslegung lauten Einspruch erhoben, und auf der Stelle ein so bedenkliches Mißverständniß berichtigt haben. Statt dessen aber, - und dies ist ein vierter schlagender Beweis dafür, daß er sich wirklich im höchsten Sinne des Wortes für Gottes Sohn erklärte, - bestätigte er die Deutung des Synedriums durch den höchstdenkwürdigen Zusatz zu seiner eidlichen Versicherung: “Ich sage euch: Von nun an werdet ihr sehen des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft, und kommen in den Wolken des Himmels.“ Ermesset das ganze Gewicht dieses Ausspruchs! – Zum Fünften stand das gerichtliche Zeugniß Jesu von seiner übermenschlichen Herrlichkeit nicht isolirt und vereinzelt da, sondern, wie es einestheils nur das Echo unzähliger Zeugnisse des Alten Testamentes war, welche alle darin übereinkommen, den zukünftigen Messias als den wesensgleichen Sohn des ewigen Vaters darzustellen, war es anderntheils nur feierliche Wiederholung aller der Erklärungen, in denen wir ihn früher schon auf’s Unzweideutigste von sich bezeugen hörten, er sei der Herr vom Himmel, mit dem Vater eins, vor Abraham schon dagewesen, und zum Richter der Lebendigen und der Todten bestellt. Endlich sechstens haben sämmtliche Apostel sein feierliches Bekenntniß vor dem hohen Rath im allerhöchsten, d.h. im Sinne der göttlichen Wesensgleichheit aufgefaßt; denn anknüpfend an dasselbe zeugen sie alle von Jesu Christo als von dem „Worte, das von Anfang bei Gott und Gott selbst war;“ als von dem „Gott geoffenbaret im Fleisch, und hochgelobet in Ewigkeit;“ als von dem „Ebenbilde des göttlichen Wesens, in welchem die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnete;“ als von dem „Herrn aller Herrn,“ dem „König aller Könige,“ dem Anbetungswürdigen und von den Engeln Angebeteten, der auf dem Stuhl der Majestät und Ehren sitze, und einst alle seine Feinde zum Schemel seiner Füße legen werde. So ist’s denn über allen Widerspruch erhoben, daß der hohe Rath den Herrn nicht anders verstand, als derselbe verstanden sein wollte; und der Rationalismus ist genöthigt, vollständig geschlagen das Feld zu räumen, und schaamroth mit seiner armseligen Deutung abzuziehn.

So stehen denn schon zwei überaus wichtige Sätze unwiderleglich bewiesen vor uns: zuvörderst der, daß Jesus einst wirklich, daß er sei Christus, Gottes Sohn, mit einem leiblichen Eide feierlich bekräftigt, und sodann der, daß er in diesem Zeugniß sich nichts Geringeres, als die Würde des gottgleichen Messias der Weissagung beigemessen habe. Jetzt tritt die Hauptfrage in den Vordergrund unsrer Betrachtung: Hat Jesus wahr geschworen oder schwur er falsch? Ihr fühlt das unermeßliche Gewicht derselben, und ahnet die ungeheuren Consequenzen, welche nach den entgegengesetztesten Seiten hin aus dem einen, wie aus dem andern Falle sich für uns Alle ergeben müssen. Schwur Jesus falsch, so ist die ganze christliche Kirche mit ihrem Glauben, ihrem Lehrbegriff, ihren Festen und Gottesdiensten eine große Götzenpagode, nichts Besseres werth, als sobald wie möglich, mit einem Schlage vom Erdboden vertilgt zu werden. Schwur Jesus wahr, dann ist Jeder, der ihm nicht huldigend zu Füßen liegt - - Doch, greifen wir nicht vor, sondern gehen wir erst unsern Untersuchungsgang ruhig weiter! Keinen Zweifel leidet’s, daß der Herr sich mit seiner eidlichen Bezeugung einer Gotteslästerung schuldig machte, wofern er nicht wirklich Christus war, Gottes Sohn, und zwar im höchsten alle Größe und Herrlichkeit der Creatur weit und wesentlich überragenden Sinne dieses Namens. Aber erwäget nun zuvörderst, mit wem wir es in dem Schwörenden zu thun haben. Er ist der Tadellose, welchem alle Welt einmüthig zugesteht, daß einen Gottesfürchtigern, als ihn, die Sonne nie beschienen habe. Der Heilige Israels ist er, „in dessen Munde nie ein Betrug erfunden ward,“ und dem selbst die scharfsichtigen Pharisäer und Schriftgelehrten, die auf Schritt und Tritt mit Argusaugen ihn bewacht, und über sein Leben gleichsam Buch gehalten hatten, so wenig etwas anzuhaben vermochten, daß sie, um nur irgend eine Schuld auf ihn zu bringen, zu dem Schandmittel der Dingung falscher Zeugen ihre Zuflucht nehmen, und es doch erleben mußten, daß selbst diese Schurken durch den stillen Gang seiner Heiligkeit in Verwirrung gebracht, entwaffnet, und gezwungen wurden, sich selbst als nichtswürdige Lügner an den Pranger zu stellen. Von den reinen Lippen dieses Mannes, der getrost an Himmel, Erde und Hölle die Frage richten durfte: „Wer kann mich einer Sünde ziehen?“ ertönte jenes Zeugniß. Brüder, wem könnte hier an Gaukelwerk und Trug auch nur der leiseste Gedanke kommen. – Bedenkt zum Andern, in welcher Situation und Form der Herr seine Erklärung von sich gab. Ihm, der ohnehin schon, wo er ging und stand, in der Furcht Gottes athmete und in der Gegenwart seines himmlischen Vaters lebte, wird hier ausdrücklich noch durch den Mund des Hohenpriesters eingeschärft, daß er jetzt nicht vor Menschen mehr, sondern vor dem Angesicht des Hocherhabenen stehe, der sich nicht spotten lasse. Es wird ihm, der da sagen durfte: „Dein Gesetz, o Gott, habe ich in meinem Herzen“ das Wort aus der heiligen Thora vorgehalten: „Du sollst nicht falsch schwören bei meinem Namen, noch entheiligen den Namen deines Gottes, denn ich bin der Herr!“ Und nach diesem wird er mit der gebräuchlichen feierlichen Formel: „Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott,“ in solennester Weise aufgefordert, seine Hand gen Himmel zu erheben, und, eingedenk seines zukünftigen Gerichts, die Wahrheit zu bezeugen, und nichts als die Wahrheit. Fürwahr, den fanatischsten aller Schwärmer, hätte ein Moment, wie dieser, zur Nüchternheit zurückeführen müssen; und Er, der die Besonnenheit und Klarheit selber war, sollte bei tageshellem Bewußtsein einen Meineid auf sich geladen haben? O, wenn wir für seine Messiaswürde und Gottessohnschaft keine Bürgschaft weiter hätten, als nur dies eine eidliche Wort seines Mundes, um dieses Wortes willen schon müßten wir an dieselbe glauben. Aber wie Vieles vereinigt sich außerdem, um seinem Zeugnisse das bekräftigende Siegel aufzudrücken! Nicht allein, daß sämmtliche Propheten des alten Bundes gleichsam im Chore uns entgegen rufen: „Seht doch, wie das Messiasbild, das viertausendjährige, welches Gott einst durch unsre Hand gezeichnet, bis zu den kleinsten Zügen hinzu in Ihm seine Verwirklichung und Verkörperung fand!“ Nicht allein, daß seine ganze Kraft- Licht- und Wunderreiche Erscheinung, wie wir sie im Spiegel der Evangelien sich vor uns entfalten sehn, seiner Aussage von der Hoheit seiner Person und seines Berufes so vollkommen entspricht, daß sie eine thatsächliche Wiederholung seines Eides heißen dürfte. Nicht allein, daß jede Scene aus seinem Erdenleben, mit einiger Vertiefung angeschaut, uns wenigstens innerlich ein ähnliches Geständniß abdringt, wie dasjenige, dessen seine Zeitgenossen sich nicht erwehren konnten: „Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit.“ Ich sage, nicht allein das Alles, - die ganze Weltgeschichte, in deren Gange nur sein prophetisches Programm sich verwirklicht vor uns entrollt, tritt als Zeugin für ihn auf, straft das Urtheil des hohen Rathes über sein Bekenntniß Lügen, und enthüllt uns Ihn als den zur Rechten der göttlichen Majestät erhöhten, aber darum auch in der Kraft Gottes auf Erden fortwirkenden und fortwaltenden Friedenskönig.

Gedenkt hier einmal wieder an jenen merkwürdigen Feldzug wider Ihn, zu welchem der von seinem Halbglauben an das Evangelium in’s Heidenthum zurückgefallene römische Kaiser Julianus, wahnsinnigen Angedenkens, einst Muth zu finden wußte. Es ging diesem Apostaten in seinem Hasse darum, das alte vom Synedrium gegen Jesum gefällte Erkenntniß auf Gotteslästerung nach Verlauf von drei Jahrhunderten noch wahr zu machen, und das über den Herrn ausgesprochene Bluturtheil zu rechtfertigen. Zu dem Ende erließ er an sämmtliche Juden in seinem weiten Reiche einen Kaiserlichen Aufruf des Inhalts, sie möchten sich zusammenschaaren, und in ihr Vaterland Palästina zurückkehren, um daselbst durch Wiederaufbau der heiligen Stadt und des zerstörten Tempels die Weissagung des Gekreuzigten, daß “Jerusalem von den Heiden zertreten bleiben werde, bis der Heiden Zeit erfüllet sei,“ zu Schanden zu machen, und dadurch zugleich das Vorgeben des Nazareners, als sei er Gottes Sohn, mit einem Schlage zu vernichten, und vor der ganzen Welt zur Lüge zu stempeln. Die Proklamation fand, wie sich voraussehen ließ, bei den Kindern Abrahams großen Anklang, und dies um so mehr, da der Kaiser ihnen sein Wort verpfändete, er werde zu dem auf den Sturz des Christenthums berechneten Werke mit Allem, was an Macht und Mitteln ihm zu Gebote stehe, ihnen helfend zur Hand gehen. Eine beispiellose Begeisterung bemächtigte sich der Juden aller Orten. Was nur noch sich regen konnte, machte sich mit auf die Wanderung. Selbst Greise, Frauen und Kinder schlossen sich den sogenannten „heiligen“ Zügen an. Binnen Kurzem wimmelte das gelobte Land wieder von den späten Nachgeborenen des alten Bundesvolkes. Es schien zu seiner einstigen Größe wiederkehren zu wollen. Die Feinde Jesu triumphirten schon im Geist, und selbst die Christen sahen nicht ohne wachsende Besorgniß dem Ausgange dieses wunderbaren Kriegs entgegen. Rüstig nahmen die Juden nach ihrer Ankunft das Werk in Angriff. Jeder glaubte persönlich mit Hand anlegen zu müssen. Selbst zarte Frauen und Mädchen sah man den Schutt in ihren silbergestickten Kleidern wegtragen. Die staunende Welt zweifelte kaum mehr, es werde sich Jerusalem binnen Kurzem aus seinen Trümmern wieder zu einer Herrlichkeit erheben, welche selbst die frühere in Schatten stellen würde. In diesem Glauben wurde sie vollends bestärkt, als es mit einen Male dem Kaiser einfiel, persönlich mit jenen Cohorten und Legionen den Arbeitern zu Hülfe zu eilen, mit denen er Länder erobert hatte, wie man Vogelnester ausnimmt, und Könige ein- und abgesetzt, wie man auf einem Spielbrett willkührlich die Figuren herüber und hinüber schiebt. Was gab’s denn nun? Gar etwas Andres, als man hätte vermuthen sollen. Es fand sich, daß leichter gegen eine Welt Krieg zu führen sei, als gegen den Galiläer in der Dornenkrone. Es wurde gearbeitet; aber es fehlte der Segen bei dem Werk. Ein neuer Anlauf um den andern wurde genommen; aber die Kräfte erlahmten in dem Momente, da man sie recht concentrirt zu haben meinte. Trotz aller Anstrengung rückte der Bau nicht vorwärts. Der Kalk festigte, die Steine fugten nicht. Krankheiten und allerlei anderes Ungemach traten ein. Ja, nach dem von Niemandem noch widerlegten Zeugnisse der alten Welt schlugen Feuerflammen aus den Tiefen hervor, in die man die Fundamente legen wollte, und riefen den Arbeitern mit ihrer stummen Sprache ihr nachdrückliches „Hinweg von hier – hier ist einstweilen nichts zu bauen!“ zu. – Und es währte in der That nicht lange, da bemächtigte sich des Volks eine so allgemeine und gründliche Entmuthigung, daß zur Verwunderung und Bestürzung der zuschauenden Völker, der Juden wie der Römer, der Heiden wie der Christen, das ganze Unternehmen aufgegeben werden mußte. Der mächtige Kaiser war wider alle Berechnung der Vernunft besiegt, und Christus feierte wie immer den glänzendsten Triumph. Sein Weissagungswort: „Jerusalem wird von den Heiden zertreten werden, bis der Heiden Zeit erfüllet ist,“ steht aufrecht bis zu dieser Stunde; und seine Prophetensprüche alle, alle, haben sich bereits erwiesen oder werden sich noch erweisen als untrügliche Orakel dessen, der mit Gottes Augen sah, und mit den Lippen Gottes redete und zeugte.

Ja, außer aller Frage steht’s, geliebte Brüder, daß Jesus mit Nichten Gott gelästert hat, als er eidlich bezeugte, daß er Christus, Gottes Sohn sei. Nein, er bezeugte damit die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Wie viele Beläge hierfür vermöchte ich außer den angeführten namentlich aus der Gründung, Führung und Regierung seiner Kirche noch beizubringen; aber wozu dies? Geschähe es doch zum Ueberflusse. Dem schlagendsten Beweise werdet ihr in euerm eignen Innern begegnen, sobald ihr euch selbst Ihm hingebt, daß er das Gotteswerk der Wiedergeburt, Heiligung und Erneuerung in euch wirke. Zu solcher Hingebung an ihn muß es nun aber mit uns Allen kommen. Nachdem es unwidersprechlich erwiesen ist, daß Jesus der Christ und der gottgleiche Sohn seines himmlischen Vater sei, so setzen sich jetzt die großen Folgerungen dieser Wahrheit eine nach der andern für uns in Bewegung.

2.

Was liegt uns ob? Zuvörderst und vor Allem, daß wir in tiefer Zerknirschung die verlorenen Jahre und Tage beweinen, in denen wir dem Erhabenen, den die erbarmungsvollste Liebe zu uns in’s Todesthal herabtrieb, den Glauben, die Ehre und die Huldigung versagten, die Ihm in Zeit und Ewigkeit gebühren. Entweder wußten wir, wer er war; und welch ein Frevel dann, dessen wir Rebellen uns damit schuldig machten, daß wir seiner Fahne und seinem Scepter uns entzogen! Oder wir erachteten ihn nur für den Sohn Josephs und einen menschlichen Rabbi von Nazareth; und dann haben wir mit dem Synedrium ihn zum Gotteslästerer gestempelt und hiedurch den gerechten Fluch auf unser Haupt geladen. Keine Ausrede hier, keine Entschuldigung! Es kann sein, daß uns über seine Person in Schule und Kirche eine falsche Kunde ertheilt worden ist. Aber wir hatten Gottes Wort, um selber zuzusehn, und hatten unsern gesunden Verstand, welcher der Erörterung einer so nah liegenden Frage nicht hätte ausweichen sollen, wie diejenige ist, ob Christus vor Kaiphas einen falschen, oder wahren Eid geschworen habe. In Vielen unter uns hat der Verstand über Alles gegrübelt und philosophirt; nur über jene wesentlichste aller Fragen nicht. Warum nicht? Ach, der Grund liegt klar zu Tage; aber nur, um uns gänzlich zu verdammen. Was uns retten kann vor Gottes Zorn, ist einzig und allein – die Buße.

Sie also vorab. Sodann, - dies ist das Zweite, das uns obliegt, - aufrichtige Huldigung dem Könige der Könige von heute an! Ja, Huldigung und Uebergabe an ihn von ganzem Herzen und auf ewige Zeiten! Denn er schwur entweder vor dem Hohenpriester falsch; und dann wirf deinen Christennamen von dir, und tritt ihn mit Füßen: der Nazarener war ein Gotteslästerer. Oder er hat wahr geschworen; und wer ist er dann? Entscheide selbst, ob er dann nicht dein höchster Souverän ist, welchem du mit jedem Athemzuge, mit jedem Tropfen Blutes dich selber schuldest. Wir haben aber heute den Beweis geliefert, daß er wahr geschworen hat, und verschmähst du dennoch dich ihm zu beugen, so wird jener durch nichts zu entkräftende Beweis hinfort dir nachgehn, wie ein Gespenst, und deines Unglaubens keinen Augenblick mehr dich froh werden lassen; ja wie ein Cherub mit flammendem Schwerdte wird er sich vor die Pforte deines Herzens stellen, um Allem, was Friede und Ruhe heißt, den Zugang zu versagen, und wird auf deinem Sterbebette noch wie ein schreckendes Phantom dich überfallen. Ich beschwöre dich, gib dem Beweise heute in deiner Vernunft, in deinem Herzen Raum, und huldige mit uns dem Manne, über dessen Person und Würde wahrhaftig die Akten geschlossen sind.

Was uns endlich und zum dritten obliegt, es ist Evangelistenwerk, das ein Jeder in seinem Kreise zu üben hat. Nachdem wir Ihn erkannten, der auf dem Stuhl der Majestät sitzt, und immerdar selig machen kann, die durch ihn zu Gott kommen, ruht auf uns die heilige und selige Pflicht, auch Anderen zu ihrer Seelen Heil zu sagen, wer er sei. Gerüstet mit dem Beweise, aus seinem Eide hergenommen, haben wir uns vor keiner verneinenden Philosophie, vor keinem gelehrten Unglauben mehr zu fürchten. Mit diesem Argumente schlagen wir alle Höhen nieder, die sich wider unsern Herrn erheben, und treiben Rationalisten und Naturalisten siegreich zu Paaren. Jesus ist ein Gotteslästerer, oder Christus, der gottgleiche Sohn des ewigen Vaters: diese Alternative bleibt unverrückbar stehn. Zwischen diesem Entweder-Oder führt keine sogenannte goldne Mittelstraße durch. Entweder du scheiterst links, oder du ankerst rechts an der goldnen Küste der ewigen Seligkeit. Unumstößliche Gründe aber haben entschieden, daß Jesus in seiner eidlichen Betheuerung die Wahrheit zeugte. So steiget denn auf die Dächer, und ruft es hinaus in alle Welt: „Wir haben den gefunden, von welchem Moses und die Propheten gezeugt haben: Immanuel, den göttlichen Friedensfürsten.“

Hiemit genug. Möge der Pfeil von der Bogensehne unsrer heutigen Betrachtung da getroffen haben, wohin er zielte! Mögen wir hoffen dürfen, daß die Gnade ihn begleitete, und er zum Heil und Frieden traf, und nicht etwa zur Erbitterung und zum Unheil!

Vernehmt, eine Stimme fällt zum Schlusse in unsre Versammlung herein, eine Stimme vom Throne des Allmächtigen und aus dem Munde dessen, der ewiglich lebet. Schlage sie durch in unseren Herzen, und beuge sie unser Knie tief zum Staube! Die Stimme ruft wie mit himmlischem Posaunenschalle: “Küsset den Sohn, daß er nicht zürne, und ihr umkommt auf dem Wege; denn sein Zorn wird bald entbrennen! – Amen.

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