Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der Kirchentag.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der Kirchentag.

Predigt über Jesaias 21, 11. 12.

Jesaias 21, 11. 12.
Dies ist die Last über Duma. Man ruft zu mir aus Seir: Hüter, ist die Nacht schier hin? Hüter, ist die Nacht schier hin? Der Hüter aber sprach: Wenn der Morgen schon kommt, so wird es doch Nacht sein. Wenn ihr schon fraget, so werdet ihr doch wiederkommen und wieder fragen.

Geliebte in dem Herrn! Vom fünften deutschen evangelischen Kirchentage zurückgekehrt, finde ich euch erwartungsvoll und auf Mittheilungen und Botschaften gespannt; denn ihr seid bereits gewohnt, dergleichen, so oft ich aus der Fremde zu euch wiederkehre, aus meinem Munde zu vernehmen. Und in der That pflege ich, wenn ich abwesend von euch bin, unwillkührlich wie eine Biene über Heide und Feld dahinzuschweifen, ob mir's nicht gerathe, wenigstens etwas geistlichen Honiges für euch einzusammeln. Unzweifelhaft schauen auch heute wieder wenigstens diejenigen unter euch, denen das Kommen des Reiches Gottes am Herzen liegt, wie weiland die Kinder Edoms in Seir zu dem Seher Jesaias, trost- und ermuthigungsbedürftig zu mir herauf, und fragen wie jene: „Hüter, ist die Nacht schier hin? Hüter, ist die Nacht schier hin?“ - Und was erwiedere ich? Wenn ich den unverfälschten Eindruck wiedergeben soll, den ich, und mit mir sicher Viele, von Bremen mit zurückgebracht, so muß ich die Antwort unsres Propheten zu der meinigen machen: „Wenn schon der Morgen kommt, so wird es doch Nacht sein; und wenn ihr schon fraget, so werdet ihr doch wiederkommen und wieder fragen.“ - „So käme also doch der Morgen?“ - Ja, ein Morgen dämmert herauf, und zwar über der dreifachen Nacht: des Abfalls von Christo; des Bruderzwistes in der evangelischen Kirche, und des Kampfes mit Rom.

Laßt mich, gestützt auf die Wahrnehmungen und Erfahrungen, die wir dem Bremer Kirchentag verdanken, dieses euch nachzuweisen suchen. Der Herr aber begleite unser Wort mit seiner Gnade.

1.

Keine Nacht im Reiche Gottes, oder es folgt auch wieder ein Tag darauf. Es müßte ja der Herr nicht auf dem Plane, und Sein Verheißungswort nicht Wahrheit sein, wenn es nicht so, wenn es anders wäre. Seine Kirche darf jeder Zeit das Lied der Sionitin bei Micha Kap. 7. singen: „Freue dich nicht über mich, meine Feindin, daß ich darniederliege, ich werde wohl wieder aufkommen. Er wird mich an's Licht bringen, und meine Feindin wird es sehn müssen, und mit Schanden bestehn, die jetzt zu mir sagt: Wo ist der Herr dein Gott?“ - Erquicklich wies Einer in Bremen aus der göttlichen Reichsgeschichte nach, wie auf jede Kirchennacht immer wieder ein Kirchentag, und nicht selten ein hellerer, als der zuletzt vergangene, gefolgt sei. Auf die israelitische Kirchennacht in Egypten folgte der Kirchentag des Wunderauszugs unter Mose; auf die Kirchennacht zur Zeit der abgöttischen Könige, der Kirchentag der heraufsteigenden Propheten; auf die Kirchennacht des babylonischen Gefängnisses, der Kirchentag der Wiederkehr gen Jerusalem; auf die alttestamentliche Kirchennacht überhaupt der große, helle Weltenkirchentag des neuen Bundes, den der „Aufgang aus der Höhe,“ Christus, machte. Nach der langen Kirchennacht des mittelalterlichen Irrwahns strahlte sonnig hell der Kirchentag der Reformation herauf. Aus der Kirchennacht des Indifferentismus, wie sie im ersten Decennium dieses Jahrhunderts unser Vaterland noch umgraute, erhub sich in den Jahren 1813 und 1814 mit dem Zeichen des Kreuzes der Kirchentag einer erneuten allgemeinen Völkerahnung von der Herrlichkeit des Evangeliums; und aus der Kirchennacht entschiedenen Abfalls, die uns namentlich im Jahre 1848 ihre schwärzeste Finsterniß zur Schau gestellt, ringt sich der jüngste Kirchentag hervor, in dessen erster duftiger Morgendämmerung wir eben jetzt, und ich denke, nicht ohne Grund, zu stehn vermeinen. Denn wenn alljährlich, wie es ja der Fall ist, in irgend einem Theile unsres deutschen Vaterlandes an die tausend Männer zusammentreten, meist Theologen, Lehrer der Universitäten und Hirten der Gemeinen, und dem bei weitem größeren Theile nach immer wieder andre, indem die Gauen, in deren Mittelpunkt der Kirchentag gehalten wird, das stärkste Contingent von Abgeordneten zu liefern pflegen; und alle die Versammelten im Bekenntniß des Evangeliums eins, Alle eins in dem Begehren, daß das Reich Gottes kommen möge; eins Alle in dem ernstlichen Bestreben, der Kirche Christi aufzuhelfen, und somit eine geschlossene und zum Theil auch wohl bewehrte Phalanx gegen den Satan, den Weltgeist, und Christi Feinde zur Rechten und zur Linken; - wenn, sage ich, Solches sich begiebt, so ist dies ja unbestritten eine Erscheinung, die, seit Menschengedenken unerhört, wohl etwas Morgenroth auf der Stirne trägt. Und wenn diese Tausend ohne Ausnahme bezeugen, wie von ihnen Keiner mehr daheim mit seinem Glauben ganz alleine stehe; wie sich vielmehr ein Jeder schon in einen größeren oder kleineren Kreis von Gleichgesinnten hineingestellt erblicke; wie diese Kreise in sichtlichem Wachsthum nach außen und nach innen begriffen seien, und, in christlicher Vereinbildung mannigfaltigster Art ihr Leben bethätigend, kaum selbst der Welt entronnen, nun ihrerseits wieder missionirten und zu den Fahnen Christi würben; so sind diese Männer ja wohl als Noahstauben mit dem Oelblatt zu begrüßen, die zu thatsächlichem Zeugniß dienen, daß die große Sündfluth des Unglaubens am Weichen sei, und hin und wieder schon grünendes Land zu Tage tauche.

Und O, daß ihr nur den Berathungen dieser Männer hättet lauschen können, unzweifelhaft würde daraus etwas wie Tagesanbruch nach der Nacht euch angeleuchtet haben. Es wurde zuerst verhandelt über die Einrichtung des Hauptgottesdienstes in der evangelischen Kirche. Wie trat bei dieser Unterredung schon des Tiefen und Lieblichen so mancherlei zu Tage! Die Gottesdienste, sagte man, müßten zuvörderst evangelisch sein, d. h. Ausdruck der Freude an Gott in Christo Jesu; sodann volksthümlich deutsch d. h. dem eigenthümlichen, sinnigen und herzvollen Charakter unsres vaterländischen Kirchenthumes angemessen; und endlich heilskräftig , d. h. die Seele der Reformation müsse in Bekenntnis), Gebet Liedern und sie beleben, und der Geist aus der Höhe sie durchweben und durchwalten. Erfreulich war die Wahrnehmung, wie es Allen so recht innig am Herzen lag, immer vertieftere, geistlich belebtere und fruchtbarere Gottesdienste zu gewinnen; und dieses Verlangen, in Verbindung mit gründlicher Einsicht in die noch vorhandenen Mängel und Uebelstände, verheißt ja schon mit Sicherheit mancherlei Gutes für die nächste Zukunft. Den zweiten Gegenstand der brüderlichen Besprechungen bildete das Beichtwesen der evangelischen Kirche. In wohlthuender Weise machte sich bei dieser Verhandlung sowohl die Furcht vor todten Formeln, als der Abscheu gegen den Mißbrauch der Beichte zu selbstischer Begründung einer fleischlichen Priesterherrschaft über die Gewissen der Glieder der Gemeinden bemerkbar. Man war im Allgemeinen darüber einverstanden, daß es mit dem Beichtwesen am lieblichsten da bestellt sei, wo der Prediger dergestalt das Vertrauen seiner Gemeinde besitze, daß seine Studierstube zu dem Beichtstuhle werde, wo seine Pflegbefohlenen aus freiem innerem Drange sich sammelten, um ihre Herzen vor ihm auszuschütten. Doch verkannte man auch nicht, daß auch das kirchliche Sündenbekenntniß ein lebendigeres, wahreres und persönlicheres werden müsse, und meinte, es werde es werden, wenn erst die Gemeinen lebendiger würden; geistlich Todte im Beichtstuhl und auf der Büßerbank würden nur eine Carrikatur des Heiligen sein. Hierauf wurde das Verhalten der evangelischen Kirche gegenüber den römisch-katholischen Jesuitenmissionen zur Sprache gebracht, und da kann ich euch zu meiner und eurer Freude versichern, daß es an erneuerten protestantischen Bekenntnissen und Fahnenschwüren lebenskräftigster Gattung nicht gemangelt hat. Seid ohne Sorge: Die Evangelischen unsres Vaterlandes, so weit sie wenigstens in dem Kirchentage ihre Vertretung fanden, sind himmelweit entfernt, eine Neigung nach Rom hin zu verspüren oder auch an die Möglichkeit einer Union mit Rom zu glauben, so lange Rom Rom bleibt, und der Pabst nicht zur Standarte der augsburgischen Confession schwört, und evangelisch wird. Träumen Manche von einer Union anderer Art, so geschieht es theils nur, weil sie, vorzüglich aus politischen Gründen, bei denen sie sich obendrein gar stark verrechnen möchten, eine solche wünschen; theils, weil sie die römische Kirche, in deren Princip die Vernichtung der evangelischen, d. i. der Kirche der Wahrheit liegt, nicht gründlich kennen; theils endlich, weil sie nicht auf dem Wege einer durchgreifenden Buße und Sündenerkenntniß zu der Einsicht gelangten, daß die evangelische Kirche schon in dem Einen, daß sie zu ihren Schätzen die unvergleichliche Perle des Artikels von der Rechtfertigung des Sünders aus lauter Gnade allein durch den Glauben und ausschließlich um des Verdienstes Christi willen zählt, eine Herrlichkeit besitze, gegen welche alle Einheits-, Herrschafts-, Kunst- und Prunkherrlichkeit Roms ein armer, dunkler Schatten bleibt. - Die hierauf folgende Besprechung über das Verhalten der evangelischen Kirche bezüglich der gemischten Ehen beurkundete unzweideutig, daß das Evangelium den Versammelten nicht als ein todtes Buchstaben-Conglommerat nur im Kopfe wohne, sondern als ein lebendiges Licht im Herzen brenne, welches allwärts hin seine beleuchtenden Strahlen werfe und ihnen jedwedes Ding in seiner wahren Gestalt erscheinen lasse. Es wurde nachgewiesen und anerkannt, daß zwischen Protestanten und römischen Katholiken, vorausgesetzt, daß sie das wirklich seien, was sie hießen, und den vollen Anschauungs- und Bekenntniß-Bestand ihrer beiderseitigen Confessionen in sich aufgenommen, hätten, aus dem einfachen Grunde, weil zwischen ihnen die Gemeinschaft im Worte, im Gebete, und im Sakramente fehle, unmöglich eine wahrhaft innige, beglückte und gesegnete Ehe bestehn könne, woraus denn folge, daß, wo ein solcher Ehebund geschlossen werden solle, eine liebevoll ernste Abmahnung seitens der evangelischen Kirche ganz an ihrem Orte sei. - Bei der Unterredung über Abfassung eines Kern„ und Stammgesangbuchs für unsre gesammte deutschevangelische Kirche stellte sich's wiederum in herzerhebender Weise heraus, daß die Zeit kirchlicher Mattheit und Verfluchung, in der man einem glaubensschwachen, modernen Singsang vor den urkräftigen Liedern der alten Kirche den Vorzug geben konnte, vorüber sei. Ja, man jauchzte dem Gedanken zu, daß in Zukunft 150 Gesänge aus den besten und salbungsreichsten Kirchenzeiten in ursprünglicher, gleichlautender Fassung zum Gemeingut des ganzen deutschen Zions erhoben werden sollten; und in der That sind alle Anstalten bereits getroffen, um diesen Gedanken binnen Kurzem der Verwirklichung zuzuführen. - Und wie viel Ermuthigendes vermöchte ich euch ferner zu berichten, wollte ich näher eingehn zuerst in die Besprechungen über die Behandlung der Verbrecher in den Gefängnissen, und der entlassenen Sträflinge; - welche schauerlichen Gemälde wandelten da an unserm Blick vorüber; aber wie vieler Rathschlage und Gelübde der Liebe hatten wir da zugleich uns zu erfreuen; - wollte ich schildern sodann die Verhandlungen über die Enthaltsamkeitssache, die, beiläufig bemerkt, in wahrhaft evangelischem Geiste und Lichte gepflogen wurden; wollte ich weiter auf die so höchst erquicklichen Unterredungen über schon gegründete und noch zu gründende Jünglings- und Gesellenvereine kommen; wollte ich Bericht erstatten von den gemeinsamen Berathungen über die Frage, wie der immer noch im Zuwachs begriffenen Auswandrung nach Amerika mit dem Evangelium des Friedens nahe zu kommen sei; und wollte ich endlich das einstimmige Glaubenszeugniß vor euch verlauten lassen, das die Versammlung gegen die Ja- und Nein-Theologie, wie sie der laodicäisch laue Landeskatechismus eines deutschen Herzogthums enthält, wie mit einer Stimme abzulegen sich gedrungen fand; - ich sage, wollte ich dies Alles, wie viel Wohlthuendes und Glaubenstärkendes würde ich euch dann noch darzubieten haben. Ich denke aber, das Angedeutete reicht schon hin, euch vollständig zu überzeugen, daß es über der Abfallsnacht, die unser Vaterland umschattet, wirklich morgenröthlich dämmere.

Freilich kann aber auch nur von Dämmerung erst die Rede sein. Immer bleibt's noch bei dem alten Prophetenwort: „Wenn schon der Morgen kommt, so wird es doch Nacht sein. Wenn ihr schon fraget, so werdet ihr doch wiederkommen, und wieder fragen.“ Waren etwa 800 Prediger in Bremen versammelt, so bildeten diese doch nur erst ein Dreizehntel der gesammten deutsch-evangelischen Geistlichkeit. Wo waren die fast Zwölftausend, welche fehlten, und wie steht's um sie? Es ist notorisch, daß die bei weitem meisten derselben noch schlafen, oder, sei's bewußt, sei's unbewußt, mit Wort oder Leben, oder gar mit Beidem zugleich, dem Evangelium nur entgegen wirken. Wußten auch die Anwesenden von Häuflein gläubiger Seelen zu sagen, die sie um sich gesammelt hätten, so stimmten sie doch alle darin überein, daß die großen Haufen noch die breite, finstere Straße des Indifferentismus, oder des entschiedensten Unglaubens zögen. Die menschliche Gesellschaft im Großen und Ganzen ist, verhehlen wir's uns doch nicht, auch in unserm Deutschland verpestet und verfault, und in Fleischlichkeit und Materialismus, ja, bei aller Gleiße scheinbarer Bildung und Gesittung, in geheimen Lastern und Verbrechen der Unzucht, des ehebrecherischen Wesens, oder der Heuchelei und Perfidie ersoffen. Die Gemeine der wahren Kinder Gottes gleicht überall noch einer „Nachthütte in den Kürbißgärten,“ und ihre Kraft, wie ihr Muth ist im Allgemeinen sehr, sehr geringe. Brausete doch selbst über den Kirchentag zu Bremen nicht einmal zu allen Stunden jener Wind, der die Getödteten lebendig macht. Ja wollte uns mitunter doch sogar bedünken, als habe die Lebensfrische der Kirchentage von 1848 und 1849 bereits einen bedeutenden Nachlaß erfahren, und als fange das ebenso bedenkliche als völlig unbegründete Gefühl fleischlicher Sicherheit, in das sich Millionen durch die Pausen, die Gottes Langmuth uns gegönnt, wieder einlullen ließen, auch schon die edlern Elemente der Gesellschaft und der Kirche zu ergreifen an. Ich kann nicht sagen, daß mir's beim Auseinandergehn der Versammlung so gewesen sei, als kehrete nun in jedem der Brüder ein geistlicher Gideon in göttlicher Waffenrüstung auf den ihm angewiesenen Posten des großen geistlichen Schlachtfeldes zurück. Vielmehr wollte mir zu Zeiten eine Empfindung kommen, als wären unsre Reihen von indifferenten ja selbst von eingeschlichenen Rationalisten nicht ganz rein geblieben. Ach Freunde, es bleibt noch Nacht; aber nicht zu leugnen ist's, der Hahn kräht durch sie hindurch. Es dämmert; und schon hiefür gebührt dem Herrn Lob, Preis und Ehre.

2.

Mit dem Glaubensmorgen bricht zugleich ein Morgen der Liebe an. Unsre evangelische Kirche in ihrem lebendigen Theil beginnt sich zu einen. Die Conföderation der Bekenntnisse wird eine Wahrheit. Ganz unzweideutig gab sich auch bei dem diesjährigen Kirchentage wieder fast in allen Versammelten ein tiefes und lebendiges Bedürfniß nach innigerer Verbrüderung und festerer Zusammenschließung kund. Fast einmüthig besiegelten die Anwesenden die Eröffnungspredigt über Joh. 17, 21, welche den confessionellen Bruderkrieg in der evangelischen Kirche als einen Gott mißfälligen bezeichnete, und den Kanon aufstellte, daß, wer als armer, gebeugter Sünder in Jesu Christo wie seinen Herrn und Gott, so seinen einigen Mittler und Seligmacher in lebendigem Glauben umfasse, ob er lutherisch heiße, oder reformirt, oder unirt, als gleichberechtigter und ebenbürtiger Genosse wie an dem heiligen Sakrament, so an allen Bundesgütern des neuen Testamentes anzusehn und zu lieben sei, mit einem freudigen und lauten Amen. Fast allgemein, und selbst auch da, wo man seinem Sondersymbol auch nicht ein Jota vergeben zu dürfen meinte, erkannte man mit evangelischer Weitherzigkeit an, daß die Differenzpunkte der beiden protestantischen Bekenntnisse das Wesen und den Kern des biblischen Christenthums nicht berührten. Durchgehends trat es zu Tage, daß Lutheraner, Reformirte und Solche, welche mit ihrem Glauben auf der Uebereinstimmung der genannten Bekenntnisse stehen, im brüderlichen Verkehr mit einander durchaus keiner trennenden Schranken sich mehr bewußt waren, sondern vielmehr herzinniglich sich freuten, in dem gemeinsamen, urchristlichen Glauben an die allgenugsame Gnadensülle Gottes in Christo Jesu den Feindeslagern zur Rechten und zur Linken gegenüber wie einen Mann sich zu erfinden.. Mächtiglich machte das Gefühl der Zusammengehörigkeit sich geltend; frei und ungehemmt wehte der Geist der Eintracht und der Liebe; und diese Wahrnehmung und Erfahrung gehört nicht zu den geringsten Beuten, die wir von dem Kirchentage mit uns nach Hause nehmen durften. Und daß man doch nicht sagen wolle, die Liebesverbrüderung unserer Kirchentage bestehe nur in schönen Worten, und sei bei Licht besehn eine unkräftige, eine leere! Es ist wahr, sie hat nur eine kleine Kraft; aber nichtsdestoweniger hat sie doch tatsächlich schon beweisen dürfen, daß sie mehr, als bloßer Schein und Name sei. Sie hat durch Zeugniß und Bitte schon mancher Landeskirche helfen dürfen, daß dieselbe zu besserer Verfassung, und unfehlbar auch zu gläubigeren Catechismen gelangen wird. Sie hat dem evangelischen Deutschland endlich das lang ersehnte, gemeinsame und dem Bedürfniß entsprechende kirchliche Gesangbuch in gewisse Aussicht gestellt. Sie hat eine Anstalt gegründet, in welcher Candidaten des Predigtamts zu allen Thätigkeiten der innern Mission herangebildet und angeleitet werden. Sie ist mit dem großen Plane bereits zu Werke gegangen, binnen weniger Jahre fünfzig Arbeiter für die eben genannten Thätigkeiten erziehen zu lassen. Sie hat den verwahrlosten Tagelöhnermassen an der Ostbahn im Oderbruch und in einem Theil Westphalens Evangelisten zugesendet. Den Auswandrern im fernen Antwerpen hat sie einen Bibelboten und Missionar bestellt; in Constantinopel an der Gründung einer evangelischen Schule, in Schlesien an Hospitaleinrichtungen für die Typhuskranken sich mitwirkend betheiligt; die Abfassung nicht weniger trefflichen Volksschriften veranlaßt; zur Gründung vieler Rettungshäuser die erste Anregung gegeben; durch Veranstaltung christlich-wissenschaftlicher Vorträge einen Anfang mit der Mission unter den Gebildeten gemacht, und endlich, daß ich manches Andere übergehe, einen Jünglings- und Gesellenbund in's Leben gerufen, der bereits viertausend wandernde junge Männer mit dem Bande seiner Liebeszucht umschließt, und ebenso vielen Elternpaaren die Sorge um ihre Söhne in der Fremde abnimmt, indem letztere durch ihr Brüderwanderbuch von Ort zu Ort immer wieder in christliche Kreise eingeführt, ja hie und da schon in christliche Herbergen gewiesen werden. Dies und dergleichen mehr hat doch die Liebesverbrüderung des Kirchentages schon zu Stande gebracht, während andre Brüder nutzlos um Satzungen, oder gar nur um Ausdruckformen theologischer Schulen sich gezankt und verhadert haben. Die Kirchentagsvereinigung darum in Ehren! In ihr ist die Dämmerung eines schönen Liebes- und Friedenstages angebrochen.

Aber freilich heißt es auch hier: „Wenn der Morgen schon kommt, so wird es doch Nacht sein.“ Wenn nicht alle Anzeigen trügen, so werden wir in manchen Theilen unsrer evangelischen Kirche noch bejammerungswürdige Dinge zu erleben bekommen. Wahrscheinlich wird, ehe wir's uns versehen, eine neue Auflage des siebzehnten Jahrhunderts streitsüchtigen Angedenkens in Scene treten. Wahrscheinlich, wenn Gott noch eine Weile mit seinen Gerichten verzieht, geschieht es, daß wieder Lutheraner, Reformirte und Unirte mit dem Bannstrahl einander gegenübersteht“ und wechselseitig, wie uns dieses Schauspiel hie und da bereits gegeben wird, die kirchliche Gemeinschaft sich künden; das Anathema legen auf „gemischte Ehen“ d. h. auf Ehen zwischen Lutheranern und Reformirten oder Unirten; den Römischen freundlicher gegenüber stehn, als ihren Confessionsverwandten; wiederum nur von einer alleinseligmachenden Kirche, nemlich derjenigen, der sie angehören, wissen wollen: ich sage, möglicher Weise wird dieses Alles, und was der düstern Erscheinungen dieser Art noch mehr sein mögen, ehe wir es uns versehen, neu in die Erscheinung treten. Machen wir uns nur darauf gefaßt, aber thuen wir dies nicht in müßigem Zuschauen, sondern mit brünstigem Anliegen zu Gott, daß er vor einem todten Formeln-Kirchenthum, in dem nur das Fleisch in der Maske des Geistes sein Wesen treibt, uns gnädig bewahren, und uns eine Kirche des Lebens, und weil des Lebens, so auch der Liebe und des Friedens schaffen wolle.

3.

Eins wäre mir jetzt noch zu berichten übrig. Die ihr mit euerm: „Hüter ist die Nacht schier hin?“ mich angeht, denkt sicher auch an den neuentbrannten Kampf, zu welchem sich Rom wider uns gerüstet hat. Es ist wahr, seit den Tagen der Reformation hat die römische Kirche so gewaltige Anstrengungen nicht gemacht, um die Alleinherrschaft in der Welt sich wieder zu erobern, wie gegenwärtig. Es war unmöglich, daß der Kirchentag nicht zu einem Hauptgegenstande seiner Berathungen die Frage hätte erheben sollen: wie die evangelische Kirche den römischen Jesuitenmissionen gegenüber sich zu verhalten habe; und wen kann es wundern, daß dieses Thema in ganz besonderm Maße das Interesse der Versammlung in Anspruch nahm, und mit größerer Lebhaftigkeit als irgend ein andres besprochen wurde. Wisset nun zuvörderst, daß sämmtliche Anwesende über folgende Sätze ziemlich in Einklang waren. Die katholische Kirche ist allerdings von der römischen zu unterscheiden, wenn nämlich unter jener die Gesammtheit derjenigen Katholiken verstanden wird, die ein tieferes Sehnen über die werkbündischen Satzungen ihrer Priesterkirche hinausträgt, und dem unverkümmerten Christus als ihrem einzigen Trost im Leben und im Sterben entgegendrängt. Nicht zu unterscheiden aber ist zwischen dem Romanismus und dem Jesuitismus. Die Jesuiten vertreten in Grundsatz und Tendenz vollständig das römisch-kirchliche Prinzip. Dieses Prinzip aber zielt auf nichts Geringeres, als auf die völlige Vernichtung und Ausrottung der evangelischen Kirche, der Kirche der Wahrheit. „Untergang den Ketzern“ lautet die Devise in dem Wappenschilde jener Emissaire. Sie stehen, wie die Kirche selbst, die sie als ihre entschlossensten Vorfechter ins Feld gestellt, grundsätzlich als unsere abgeschworensten Feinde uns entgegen, und wir haben um so mehr vor ihnen auf unserer Hut zu sein, je unschuldiger sie sich gebehrden, und je weniger sie ihre wahre Absicht offen zur Schau tragen. Durch Mittel der Intelligenz und Wissenschaft drohen sie uns keine Gefahr; denn solche stehen ihnen, die sich darum auch klüglich von dem Gebiete des Schriftenthums fern zu halten pflegen, nicht zu Gebote. Gefährlich aber werden sie uns durch den unermüdlichen Eifer, den sie unverkennbar, aus welchen trüben Quellen er auch immer fließe, beurkunden; durch die Energie, mit der sie, die da wissen, was sie wollen, während tausende von Protestanten nur Meinungen, aber nicht wie jene, Ueberzeugungen und Grundsätze haben, ihre Ziele verfolgen; durch die praktisch einschlagende, und die Gewissen der Individuen erfassende Macht ihrer Predigten, eine Macht, die sie größtentheils den Erfahrungen, die ihnen der Beichtstuhl gewährt, zu verdanken haben; und endlich durch das imponirende Blendwerk der menschlich gemachten Kircheneinheit, auf die sie pochen, so wie der sinnlich berauschenden Altardienste, mit deren Nimbus sie sich umgeben. So bedarf es denn allerdings für uns einer ernstlichen Rüstung wider sie, und zwar vor Allem einer Rüstung durch erneuerte Vertiefung in die Lehrherrlichkeit unsrer evangelischen Kirche, durch freies, tapferes, wenn auch von der Liebe getragenes, Zeugniß in Wort und Schrift und Leben für die evangelische Wahrheit wider den Wahn, und überdieß durch Kirchenvisitationen, wie sie jetzt in unserm Lande eingeleitet werden, so wie durch Reisepredigt, aber freilich durch eine solche, die Hand und Fuß hat, und in jeglicher Beziehung den gegnerischen Kräften gewachsen ist. Einverstanden übrigens waren wenigstens die meisten der zum Kirchentag Vereinigten auch darin, daß, falls wir nicht schliefen, sondern wachten, und auf unserm Posten ständen, für unsre evangelische Kirche Seitens Roms etwas Ernstliches für die Dauer nicht zu besorgen stehe. Wider Willen wird Rom genöthigt, immer unzweideutiger seine wahren Absichten zu verrathen. In Italien verurtheilt es diejenigen seiner Kinder, auf welche etwa eine bei ihnen vorgefundene Bibel den Verdacht evangelischer Gesinnung wälzt, zu strenger Kerkerhaft, oder gar, wie in den neuesten Tagen erst geschehen ist, zu grausamer Galeerenstrafe. In Frankreich schließt es, ohne Angabe irgend eines Rechtsgrundes, eine protestantische Kapelle nach der andern. Bis nach England hin verfolgt es einen zur evangelischen Kirche übergetretenen Priester mit schweren Anklagen und peinlichen Prozessen. Ueberall säet es den Samen der Zwietracht in gemischte Ehen. Genug, feine Intentionen legen sich immer deutlicher zu Tage. Sein Vorgeben, daß es die Throne und die Verfassungen stütze, stellt sich der Welt immer klarer als ein eitles Rühmen dar. Am Tage liegt's, daß Rom seine politische Stellung allezeit nur nach Berechnung des Vortheils nimmt, den es daraus für sein Herrschergelüste zu ziehen hofft. Wie es in Belgien einst die Revolution begünstigte, so liegt es in Frankreich jetzt der Usurpation zu Füßen, und drückt dieser sein kirchliches Siegel auf.

Ja, in zunehmendem Maße stärkt und belebt sich, Rom gegenüber, auch das protestantische Bewußtsein der evangelischen Kirche. Wir zittern nicht; wir schauen siegesgewiß in den großen Prinzipienkampf hinein. Es fehlt uns nicht an geistesverwandten Bundesgenossen in der römischen Kirche selbst. Das Licht der Reformation leuchtet auch in sie hinüber. Hie und da treten die Einverstandenen schon schaarenweise unter unser Panier heraus. Durch Italien weht ein starker reformatorischer Lufthauch. In Frankreich setzen sich unablässig evangelische Gemeinlein von der römischen Mutter ab. Irland scheint auf dem Wege, binnen weniger Jahrzehnte ganz protestantisch zu werden; und auch in unserm Deutschland dürfte das katholische Element das romanistische bald überflügeln. So mag es weniger aus Uebermuth, als aus dunkler Sorge um seine Zukunft geschehen, daß Rom so gewaltig zu den Waffen ruft. Es bereitet eine Union sich vor; aber freilich in ganz anderer Weise, als Manche unerleuchtet sie sich träumen.

Doch spannen wir auch nach dieser Seite hin die Saiten unserer Hoffnung nicht zu hoch. „Wenn gleich der Morgen kommt, so wird es doch noch Nacht sein.“ Es wird wohl noch eine Weile währen, ehe die Stunde schlägt, da wir auch in diesem Kampfe das Schwerdt des Geistes werden in die Scheide stecken dürfen. Wer weiß, was uns vorab erst noch bevorsteht? Wie es scheint, treten Politik und Kirche mehr und mehr in eine Verbindung mit einander, wie wir sie herbeizuwünschen nicht eben Ursache haben. Hinter rein staatlichen Verhandlungen tauchen immer unzweideutiger versteckte confessionelle Motive auf. Rein bürgerliche Fragen scheinen mehr und mehr auf kirchlichem Gebiete ihre Lösungen zu suchen. Wahrlich, es könnte uns wohl bange werden, wüßten wir nicht, wer mit uns auf dem Plane stehe. Brüder lehnen wir uns immer fester auf die Schultern Dessen, der da bezeugte: „Die Pforten der Hölle werden meine Gemeine nicht überwältigen;“ und halten wir gläubig treu an dem unwandelbaren Verheißungsworte: „Er muß herrschen, bis daß Er alle seine Feinde zum Schemel seiner Füße lege!“

Hiemit genug! - Es ist unleugbar, daß allerlei verhängnißvolles Dunkel uns noch umgraut. Doch durchwebt dasselbe so viel Morgenroths bereits, daß wir uns wohl berechtigt halten dürfen, die Zeit, in der wir leben, mit apostolischem Ausdruck eine „angenehme“, ein „Jahr des Heils“ zu nennen. Wenn aber dies, so steht es uns, den Wächtern Zions, auch unbestritten zu, mit dem Apostel weiter in eure Mitte hineinzurufen: „Wir ermahnen euch aber, als die Mithelfer, daß ihr nicht vergeblich die Gnade Gottes empfahlt!“ - Ja, wir machen unbedenklich schon den Zuruf Römer 13, 12 zu dem unsrigen: „Die Nacht ist vergangen, der Tag aber herbeigekommen; so lasset uns nun ablegen die Werke der Finsterniß, und anlegen die Waffen des Lichts!“ - Wozu jedoch so fern her ein Mahnwort holen, das uns schon unmittelbar vor der Hand liegt? Denn wisset, wie auf einem altersgrauen Pergamente, einem sogenannten codex rescriptus, eine frühere, aber längst erblichene Urschrift durch die neu aufgetragenen Zeilen noch hindurchscheint, so taucht bei genauerer Beschauung aus den Wollen unsres Textes: „Wenn ihr schon fragt, so werdet ihr doch wieder kommen, und wieder fragen,“ noch ein anderer Sinn hervor, als der sich zunächst ergebende, ein Sinn, den der Geist des Herrn an euern Herzen kräftig und lebendig machen wolle. Es leiden die besagten Worte nemlich auch diese Uebersetzung: „Wenn ihr fragen wollt, so fraget recht; bekehret euch - und kommet!“ - Amen.

Quelle: Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Sabbathglocke

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