Krummacher, Friedrich Wilhelm - Barsillai.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Barsillai.

Predigt über 2. Samuel 19,31-39.

2. Sam. 19,31-39.
Und Barsillai, der Gileaditer, kam herab von Roglim, und fuhr mit dem König über den Jordan, daß er ihn im Jordan geleitete. Und Barsillai war sehr alt, wohl achtzig Jahre; der hatte den König versorget, weil er zu Mahanaim sich aufhielt, denn er war ein sehr trefflicher Mann. Und der König sprach zu Barsillai: Du sollst mit mir hinüberziehn, ich will dich versorgen bei mir zu Jerusalem. Aber Barsillai sprach zum Könige: Was ist’s noch, daß ich zu leben habe, daß ich mit dem Könige hinauf sollte gen Jerusalem ziehn? Ich bin heute achtzig Jahr alt. Wie sollte ich kennen, was gut oder böse ist, oder schmecken, was ich esse oder trinke, oder hören, was die Sänger oder Sängerinnen singen? Warum sollte dein Knecht meinen Herrn König weiter beschweren? Dein Knecht soll ein wenig gehen mit dem König über den Jordan. Warum will mir der König eine solche Vergeltung thun? Laß deinen Knecht umkehren, daß ich sterbe in meiner Stadt, bei meines Vaters und meiner Mutter Grab. Siehe, da ist dein Knecht Chimham, den laß mit meinem Herrn Könige hinüberziehn und thue ihm, was dir wohlgefällt. Der König sprach: Chimham soll mit mir hinüberziehn, und ich will ihm thun, was dir wohlgefällt; auch Alles, was du an mir erwählest, will ich dir thun. Und da alles Volk über den Jordan war gegangen, und der König auch, küssete der König den Barsillai, und segnete ihn; und er kehrete wieder an seinen Ort.

Theure Freunde! – In einer Zeit, die wie die unsrige, des sittlich Verwerflichen so viel, und des wahrhaft Erhebenden so wenig aufzuweisen hat, thut es doppelt wohl, vor den Bildern wahrhaft edler Persönlichkeiten zu weilen. Die heilige Geschichte ist an Gestalten dieser Gattung reich, und mit gesteigerter Wonne nehmen wir neuerdings zu ihr unsre Zuflucht. In Tagen, da man mitunter versucht wird, an der Menschheit gar zu verzweifeln, sind Erscheinungen, die thatsächlich an die Welt erneuernde Wundermacht des Heiligen Geistes mahnen, doppelt willkommen; und eine solche Erscheinung begegnet uns heute in der Person des alten Barsillai. „Aber warum“, höre ich sagen, „führst du uns grade jetzt diesen Alten vor?“ – Eben, weil Charaktere seines Schlages, wie es wenigstens scheint, zu unsrer Zeit so selten worden sind, und immer noch zu viel Veranlassung zu dem Wunsche sich findet, es möchte sich einmal wieder in unsern Gemüthern eine Begeisterung für das Ideal eines rechten Ehrenmannes entzünden. Ein solcher begegnet uns aber in der Person Barsillai’s, der in unserm Texte ein “sehr trefflicher Mann“ genannt wird, und dies mit allem Grunde. Wir werden ihn in dieser Eigenschaft näher kennen lernen, indem wir ihn 1) als Patrioten, 2) als Mann des Glaubens, und 3) als Familienhaupt an uns vorübergehen lassen. –

Begleite uns der Heilige Geist auf dem Wege unsrer Betrachtung, und bilde er auch uns in wesentlicher Weise die Züge des Mannes ein, mit dem wir heute in nähere Bekanntschaft treten.

1.

Der Zeitpunkt, in welchem Barsillai uns heute begegnet, beschloß eben eine sehr traurige Periode der Geschichte Israels. Es war diejenige der Empörung Absalon’s gegen seinen Vater David. Ihr wißt, in welcher Weise der ehrgeizige Bastard die Aufruhrsfahne in die Stämme Israels zu schleudern wußte. Er reizte das Volk zur Unzufriedenheit mit der bestehenden Regierung, indem er theils Uebelstände ersann, die gar nicht vorhanden waren, theils wirklich vorhandene Gebrachen in der Staatsverwaltung mit den grellsten Farben ausmalte, ja bis zum Riesigen steigerte, und zugleich, an die Habsucht und den Ehrgeiz der Menge sich wendend, goldene Berge für den Fall in Aussicht stellte, daß man ihn zum Herrscher über das Land erheben würde. Es fehlte dem Verräther an willigen Werkzeugen nicht, die auf seine Pläne eingingen, und allewege insgeheim das Feuer der Unzufriedenheit schüren halfen; und so geschah es denn endlich, daß der Aufruhr an allen Enden mit vollen Flammen ausbrach, David die Flucht ergreifen mußte, und Absalon unter der Losung: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ mit einer zahlreichen bewaffneten Macht gegen Jerusalem rückte. „Wie“, fragt ihr befremdet, „unter der eben genannten Losung?“ – Im Grunde, ja. Ein Hauptaufregungsmittel bestand darin, daß er die Hoffnung einer völligen Aufhebung des Standes und vielleicht gar des Besitzes rege machte. Er fraternisirte mit Jedem, der ihm nahe kam. Wer ihm mit den gebräuchlichen Zeichen der Ehrerbietung entgegentrat, den umarmte er wie seines Gleichen einen. Dazu verhieß er allen in Gerichtshändel Verwickelten eine schnelle und günstige Erledigung ihrer Angelegenheiten, und verstand sich schon trotz dem besten späterer jesuitischer Diplomaten auf die Benutzung und Ausbeutung der Neigungen und Leidenschaften einer nach Gott und dessen Gebot nicht mehr fragenden Menge. Ihr wißt, welches der nächste Erfolg dieser empörerischen Schilderhebung war. Wie schon bemerkt, mußte der König vor seinen eignen Unterthanen, mit denen er es in Wahrheit treu und wohl gemeint, ja vor seinem eignen ungerathnen Sohne fliehen, und die Residenz verlassen. Umgeben von einem kleinen Häuflein Treugebliebener überschritt er den Bach Kidron, das Haupt verhüllt, das Auge thränennaß. Welch ein Angst- und Schmerzensweg war dies für ihn! Wohin er kam, sah er sich mit Spott und Hohn bedeckt. Die Gemeinheit rechnete sich’s zur Bravour, dem gestürzten Könige einen Fußtritt zu versetzen. Unweit Bathurim ging unter andern in einiger Entfernung über einer Anhöhe ein dem Hause Saul’s verwandter Mann, namens Simei, neben dem Zuge her, und warf unablässig mit Steinen und Koth nach David, und schäumte Flüche um Flüche gegen ihn, und schrie: „Hinaus, hinaus mit dir, du Bluthund, du loser Mann! Sieh, nun hat dich dein verdientes Geschick erreicht; nun steckst du im Unglück, der du die Krone Saul’s an dich gerissen. Du bist ein Bluthund!“ So tobte er, hämisch hindeutend auf den Handel mit Uria. Das aber däuchte dem treuen Hauptmann Adisai, dem Sohne der Heldenmutter Zeruja, doch zu viel, und entflammte das Blut ihm in den Adern. Die Hand an seines Schwerdtes Knauf, spricht er zu David: „Sollte dieser todte Hund meinem Herrn, dem Könige, fluchen? Laß mich hin, daß ich ihm den Kopf abreiße!“ Aber der König, ihm den Weg vertretend, spricht, unendlich gebeugt, im Bewußtsein seiner Schulden, unter der gewaltigen Hand seines Gottes: „Nicht also. Laß ihn fluchen; denn der Herr hat ihm geheißen: Fluche David! Vielleicht wird der Herr mein Elend ansehn und mir mit Güte vergelten sein heutiges Fluchen.“ Ihr seht, als ein Gericht Jehovah’s über sich faßt David die über ihn hereingebrochene schauerliche Katastrophe auf. Und freilich urtheilte er darin recht. Aber Heil dem Könige, daß er sich die göttliche Zeichenschrift in dieser dunkeln Führung zu entziffern wußte! Heil im, daß er der erste seines Volkes war, der an seine Brust schlug! - “Welche der Herr demüthiget, die macht er groß!“ – Alles war jetzt wiederum zu hoffen. – Auch der alte Barsillai dachte so, und mit gutem Grunde.

In eine einsame Gebirgsgegend bei Mahanaim zog David sich zurück. Hier, wo an Allem Mangel war, drohte jetzt dem Heer der schon vorhandenen Nöthe auch noch der Hunger sich zuzugesellen. Wer sollte sich bewogen finden, dem entthronten Fürsten Nahrung zuzuführen? Das ganze Land war in den Empörungstaumel mit hineingerissen, und in der ersten Zeit des entsetzlichen Rausches gehörte mehr als gewöhnlicher Muth dazu, für den verjagten König und die gestürzte Regierung irgend eine Sympathie zu äußern. Doch völlig ausgestorben war die Zahl der Getreuen keinesweges noch. Zu ihnen gehörte auch der alte Landmann Barsillai in dem Dorfe Roglim, sammt seinem Hause. Der hatte sich, während Alles trunken war und taumelte, die Nüchternheit bewahrt; und hatte den Kopf oben behalten, während selbst der sonst Vernünftigsten und Besonnensten viele von einer politischen Tarantel gestochen, alle Haltung verloren hatten. Barsillai hielt sich einfach an Gottes Wort, das jeder gewaltsamen Auflehnung gegen die göttlich verordnete Obrigkeit nicht Segen, sondern etwas gar andres in Aussicht stellt. Er sagte sich vor, daß David sich nicht selbst auf den Thron gesetzt habe, sondern König sei von Gottes Gnade. Ihn leitete die einfache Politik, daß, falls etwas einmal nicht tauge im Staate, man Solches in Liebe und Treuen bittend und rathend an den Thron zu bringen habe; und von dieser seiner Politik wäre er auch nicht gewichen, wenn selbst David auch nicht, wie er es gethan, ein gottesfürchtiger Regent, sondern ein Tyrann, und somit eine Zuchtruthe und eine Geißel für sein Volk gewesen wäre. Ueberdies durchschaute der Alte mit klarem und gesundem Blicke gar wohl den Geist und den Charakter der ganzen absalomischen Bewegung, wie dieselbe nur die Gottlosigkeit zu ihrem Grunde, die Lüge zu ihrer Waffe, und den Umsturz aller von Gott gesetzten Ordnungen zum Ziele hatte; und wie, falls sie wirklich siegen sollte, nichts Andres, als, neben einer allgemeinen Entsittlichung, dem Untergange aller und jeder Pietät, und der Schreckensherrschaft einzelner ehrgeiziger Emporkömmlinge, eine furchtbare Enttäuschung des armen hartbetrogenen Volks, und ein ewiger Krieg im Lande ihr Ergebniß sein würden.

Als unser Bauersmann nun hörte, daß sein flüchtiger König bei Mahanaim weile, war er der ersten einer, der sein Maulthier sattelte, es mit Bettwerk und allerlei Proviant belud, und es so in das Lager des Bedrängten hinaustrieb. Andere Ackerleute, Genossen seiner Gesinnung, schlossen sich bald ihm an und thaten ein Gleiches. Der rechte göttliche Muth aber schon eines Einzigen in solchen Zeiten kann wunderthätig wirken, ja in der ganzen Lage der Dinge den Wendepunkt heraufbeschwören. Barsillai aber wußte nicht, was dazu sonderlich für Muth gehören sollte, auf dem Wege Gottes und der Pflicht, wenn es also sein müsse, von Gottes Feinden nicht allein mit Schmach sich krönen zu lassen, sondern auch für die gute Sache des Herrn und seines Rechtes zu sterben; und daß er dies nicht wußte, und es ihm so etwas sich von selbst Verstehendes und gar Geringes däuchte, um des Herrn willen, wo es gälte, für König und Vaterland eidsgetreu auch das eigne Leben nicht anzusehn: das eben war sein Muth, und machte ihn zum Musterbilde eines Patrioten, wie ihn freilich nur Gottes Geist erzeugen kann. Mahanaim war die Stätte, wo dem Altvater Jakob einst in seiner Betrübniß die Engel Gottes begegneten. Wie Engel Jehovah’s fast mögen dem gedemüthigten Könige David dort auch jene treuen Bauersleute erschienen sein, als sie mit ihrem offnen Bekenntnisse zur Sache der Gerechtigkeit, und mit den Spenden ihrer Liebe in’s Lager traten. Ihm mußte sein, als durchbrächen in ihren Personen die ersten erquicklichen Sonnenstrahlen der wiederkehrenden Freundlichkeit Jehova’s seine Trübsalsnacht. Und wirklich war er auch zu solcher Anschauung vollkommen berechtigt. Abgesehn davon, daß jene wackern Männer ihre Liebesgaben gewiß auch mit manchem Worte der Ermuthigung, mit manchem „Sei unverzagt, Herr König, der Gott Israels lebet noch!“ werden begleitet, und dadurch der Wiederermannung des tief gebeugten Fürsten nicht wenig Vorschub geleistet haben, waren sie, wie es scheint, die ersten, welche durch ihren tapfern Vorgang viele der Verblendeten und Berauschten, oder doch der Kleinmüthigen und Verzagten im Volke wieder zur Besinnung brachten. Freilich war es mittlerweile immer deutlicher zu Tage getreten, wo es am Ende mit der ganzen Empörung hinauswollte. Ungeheure Schandthaten, welche nur zu augenfällig Zeugniß gaben, daß Sitte, Zucht und Ordnung nichts mehr gelten sollten, waren durch Absalon und seine Horde zu Jerusalem verübt worden, und nicht Wenigen gingen dadurch mit Schrecken die Augen auf. Aber den Ausgangspunkt einer edlern sittlichen Ermuthigung der Bessern im Lande haben wir doch in Mahanaim zu suchen. Genug, die Sache wandte sich. Täglich gesellten sich der kleinen Schaar des vertriebenen Königs neue Haufen zu, die nüchtern geworden waren von des Teufels Strick: und es währte nicht lange, da konnte mit Gott ein offner Kampf gegen die Aufständischen unternommen werden.

2.

Gott der Herr hatte das Land Israel nicht erwählt, daß es eine Behausung der Anarchie, der Gottlosigkeit und der Barbarei werden sollte; sondern gedachte in Israel Quellen zu graben, aus denen sich Ströme himmlischen Heils und Segens über die ganze Erde ergössen. Gott der Herr hatte Israel lieb, und noch Großes mit ihm vor; aber das Land war üppig geworden und übermüthig, und hatte Jehovah’s unaussprechliche Gnade und Güte nicht erkannt. Die Großen waren sicher, die Unterbehörden vielfach zu herrisch und despotisch, die Priester laß und wenig bekümmert um den Schaden Josephs geworden, und, wie die Reichen zu vornehm und zu geizig, so die Armen zu wenig darauf bedacht, reich in Gott zu werden. Da thaten göttliche Gerichte Noth; und sie brachen herein. Aber der König demüthigte sich, und mit ihm ein großer Theil des Volks. „Den Demüthigen aber“, heißt es, „gibt Gott Gnade;“ und die gute Sache, die Sache des Herrn muß immer wieder siegen, wie tief und lange sie auch untertreten ward. Die Sache der Gottlosen dagegen, ob sie auch zeitweilig siegt, ist unfehlbar verloren. So stellte sich’s auch jetzt wieder heraus. Es kam zur Schlacht. Das Heer der Aufrührer wurde auf’s Haupt geschlagen. Absalon selber blieb, ihr wißt, in welcher Weise, auf dem Platz. David hatte dringend gebeten, seines Sohnes zu schonen; aber Gott der Heilige und Jehovah’s wunderthätiges Dreinsehn war die furchtbare, die Herrlichkeit Israels mit dem entsetzlichsten Umsturz bedrohende Empörung gründlich gedämpft. David kehrte sieggekrönt nach Jerusalem zurück; und welch ein Triumphzug war dies! Ein schönerer, lieblicherer und dem Herrn wohlgefälligerer ist wohl nie gefeiert worden: denn alle Ehre wurde einzig Ihm gegeben. Auf dem Wege finden sich nun die Reuigen ein. David denkt: Gott hat mir Gnade erwiesen; wie, daß nicht auch ich Gnade vor Recht ergehn lassen sollte? Unter Andern tritt auch Simei herzu, der Flucher von Baruhim, und spricht, dem Könige zu Fuße fallend: „Mein Herr König, dein Knecht erkennet, daß er gesündigt hat. Reche mir nicht zu die Missethat, die ich gethan und gedenke nicht, was dein Knecht Verkehrtes handelte!“ – Abisai, der Hauptmann, springt wiederum dazwischen und spricht: „Wie, nicht sterben sollte dieser Mensch, so er doch dem Gesalbten des Herrn geflucht hat?!“ – „Werde mir heute nicht zum Satan,“ entgegnet David. „Sollte heute jemand sterben in Israel?!“ – Dann, zu Simei hingewandt, fährt er fort: „Du sollst nicht sterben;“ und schwört ihm feierlichst, daß er nicht sterben solle. Nichts als Thaten der Milde, der Verzeihung und der Gnade für Alle, denen ihr Vergehen leid, bezeichnen des Königs Weg: denn seine eigne Seele siehet in seiner Wiedererhöhung nur Gottes unverdiente Huld und Barmherzigkeit.

Der König langt am Ufer des Jordans an. Die Fähre steht schon bereit, ihn hinüber zu führen. Siehe, da tritt mit strahlendem Angesichte auch der alte achtzigjährige Barsillai ihm entgegen, er, der mit unbeschwertem gutem Gewissen seinem wiedererhöhten Könige sich nähern durfte. Barsillai hatte den weiten Weg aus dem Gebirge Gilead nicht gescheut, um dem Könige auch seinerseits zu dessen Siege seine Glückwünsche darzubringen. O, wie hätte dem letztern eine theuerwerthere Begegnung werden können, als diese. Kaum, daß er seiner ansichtig geworden, schreitet er auf den alten Bauersmann zu, reicht ihm auf’s Herzlichste die Hand, und, als wollte er sagen: Du hast meine Noth zu der deinigen gemacht, so mußt du nun auch meine Freude theilen, spricht er zu ihm: „du sollst mit mir hinüberziehn; ich will dich versorgen bei mir zu Jerusalem.“ In des Königs Schlosse soll er hinfort mit ihm wohnen und mit dem Könige von einem Tische essen. Ach ja, Schurzfell oder Hermelin: in solchen Zeiten sind Rang, Stand und Titel nichts; aber das treue Herz ist Alles. O wie viele, die des Königs Brod gegessen hatten ihr Lebenlang, und, als die Unterthänigsten sich gebehrdend, hoch an’s Brett gekommen waren, waren, sobald die Wagschale der günstigen Entscheidung sich auf Absalons Seite zu neigen schien, schnell hinter sich gegangen; aber dafür kannte sie nun auch nicht allein der König und das Land, sondern auch der, der im Himmel wohnt; und sie standen da als die Geächteten. Es sind solche Zeiten wie das „Feuer des Goldschmieds“. Vieler Menschen Gesinnungen werden offenbar. Gold und Schlacken sondern sich; und die Schlacken werden auf die Straße hinausgeschüttet.

Doch wie verhält sich Barsillai dem königlichen Anerbieten gegenüber? Er ist seinem gnädigen Gebieter recht dankbar für dessen Güte; aber mit ihm nach Jerusalem zieht er nicht. Hört die Gegenvorstellungen, die er seinem König macht. Sie lassen uns einen tiefen Blick in das Innere des Alten thun, und sind ausnehmend köstlich. „Was ist es noch“, spricht er, „das ich zu leben habe, daß ich mit dem Könige sollte hinauf gen Jerusalem ziehn? Ich bin heute achtzig Jahre alt. Wie sollte ich kennen, was gut oder böse (d.i. was in den höheren Gesellschaftskreisen sich schickt, und wohlanständig) ist, und was nicht; und wie sollte ich schmecken,“ fährt er halb scherzend fort, „was ich esse und trinke?“ (Die künstlich zubereitete Speise, will er sagen, ist für mich nicht, laß mich bei meiner ländlichen Kost.) „und wie soll ich hören (und beurtheilen,) was die Sänger und die Sängerinnen singen?“ „Ich verstehe mich,“ will er sagen, „auf eure Künste nicht. Mir singen die Vögel in den Bäumen um meine Hütte her, und daran habe ich des Conzertirens genug.“ – „Warum“, fährt er fort, „sollte dein Knecht meinen Herrn König weiter beschweren? dein Knecht soll ein wenig gehn mit dem Könige über den Jordan. Warum will mir der König eine solche Vergeltung thun? (That ich mehr, ist seiner Worte Sinn, als meine Schuldigkeit?) Laß deinen Knecht umkehren, daß ich sterbe in meinem Ort, bei meines Vaters und meiner Mutter Grab!“ – O hört den lieben Alten, wie er so klar in Allem ist, und welch einen Geist stiller Heiterkeit und tiefen Friedens alle seine Worte athmen! Nichts Geringes ist es, was er an Ehre und Herrlichkeit hier verschmäht und von sich weist. Tausend Andre hätten in gleicher Lage mit beiden Händen zugegriffen, und wenn sie auch an Jahren nicht jünger gewesen wären, als Barsillai. Alter schützt ja vor Thorheit nicht; ja führt nicht selten erst recht in sie hinein. In der Regel geizt das Alter nach irdischer Ehre mehr noch, als die Jugend, und ist in unzähligen Fällen instinktmäßig darüber aus, die Abnahme der Kräfte hinter allerlei äußerliche Flitter zu verstecken und zu verbergen, und das schwindende Vermögen, durch eigne Persönlichkeit etwas zu gelten, vermittelst schillernder Umhängsel von Würden, titeln, hohen Verbindungen und dergl. zu ersetzen. Ja, also das Alter, dem das Leben in Gott eine fremde Sache geblieben ist. Mit unserm Barsillai steht es besser. Sein Schatz ist der Herr, und die Vorzüge und Güter, welche er in Ihm besitzt, haben ihm einen Maßstab in die Hand gegeben, der ihm die Herrlichkeiten dieser Erde freilich als sehr geringfügig und eitel erscheinen läßt. An seinem Gott und dessen Gnade hat er genug. In seines Gottes Führung, die ihn sein Glaube immer für die beste und heilsamste erachten lehrte, ist er zufrieden und vergnügt. Er freut sich, daß er bald das Angesicht Jehovah’s schauen werde. In dieser sein ganzes Wesen erheiternden, belebenden und verjüngenden Hoffnung blickt er in sein Grab hinab, wie in sein Bett. Er hat im Glauben die Welt überwunden, und steht hoch über ihr. Er ist kein schroffer Rigorist, und denkt nicht etwa kleingeistig und mönchisch beschränkt, er dürfe dies und das, was nun einmal zu dem erforderlichen Pomp und Dekorum eines königlichen Hofes gehöre, weil er der Frommen einer sei, an sich nicht kommen lassen; sondern steht schon innerlich zu evangelisch frei, und ist am Glauben zu gesund, um so eng und befangen zu urtheilen. Er weiß, dass unrein nicht sei, was mit lauterlicher Danksagung zu Gott genossen werden könne; und daß so Manches, was an sich eitel, nun einmal zum Schmuck des Throns gehöre, das weiß er auch. Nur hungert und dürstet ihn nach solchen Dingen nicht. Er ist durch die Herrlichkeiten vollkommen gesättigt, ja verwöhnt, die er am Throne des Königs aller Könige findet. Ach, wie thut die Erscheinung solch eines mit seinem Herzen von der Scholle abgelösten, zu göttlicher Freiheit hindurchgedrungenen und tiefbefriedigten Mannes so unaussprechlich wohl! Ein solcher Mann ist durch die Wundermacht seines Glaubens selbst ein König. Welt, Tod und Grab liegen zum Schemel seiner Füße. Eine durch nichts zu überwindende Heiterkeit glänzt als Diadem um seine Stirn. Ein unvergleichlich herrliches Erbe ist ihm beigelegt im Himmel. Und wie er Niemanden hienieden zu beneiden hat, so hat er auch Niemanden und Nichts zu fürchten. Sein ist Alles; und er ist Gottes.

3.

Der König David verstand den alten Barsillai wohl, und mochte denken: „Ja, Alter, du erwählest dir das gute Theil, indem du auf deinem Acker bleiben willst. Die schimmernde Thronesherrlichkeit ist oft nur ein geschmücktes Leichentuch über der Bahre des holden Zwillingspaares Friede und Freude; und gegen was auch die stolze Königsburg sich abzuschließen im Stande sei: Sorge und Mühe finden immer, und eher zu ihr den Weg, als zu deiner Hütte!“ – Gerne jedoch erwiese der König dem Alten irgend etwas Liebes. Barsillai merkt’s, und spricht, hinwinkend auf seinen in einiger Entfernung stehenden Sohn: „Siehe, da ist dein Knecht Chimham; wenn du willst, so laß ihn mit dir ziehn, und thue ihm, was dir wohlgefällt.“ Er will sagen: „Du magst ihn irgend etwas lernen lassen, und ihn dann, wie und wozu es dir beliebt, verwenden.“ Er weiht seinen Sohn dem Dienste des Vaterlandes. Er meint, daß derselbe, wie jeder Sohn, dazu geboren sei, vor Allem irgendwie des Vaterlandes allgemeines Wohl zu fördern. Und daß er seinen Chimham dem Könige mit gutem Gewissen anbieten darf, des ist er sich bewußt. Der Knabe ist wacker und wohlerzogen; denn Barsillai hielt vor Allem auf seine häusliche Zucht, die er schon ohne Wort und Mahnung durch das bloße Licht seines Wandels und Vorgangs übte, und hielt dafür, daß in der häuslichen Ordnung und Erziehung der eigentliche Grundstein aller wahren Landeswohlfahrt ruhe. Der König geht auf Barsillais Vorschlag ein. „Ja“, spricht er, „Chimham soll mit mir ziehn, und ich will ihm thun, was dir wohlgefällt. Auch Alles, was du von mir wünschest, will ich dir thun.“ – Er sprach’s, und er hielt Wort, und hat nachmals, da er das Ende seines Lebens herannahen fühlte, nach 1. Könige 2,7. der Kinder Barsillais dankbar selbst in seinem Testamente noch gedacht.

Die Barke ist bestiegen und die Ueberfahrt geht vor sich. Am jenseitigen Ufer des Jordans angelangt schließt der König den Alten in seine Arme, küßt ihn herzlich zum Abschied, und entläßt ihn, nachdem er ihn inniglich gesegnet. Barsillai aber zog still und bewegt zu seiner Hütte und seinem bescheidenen Ackerwerk zurück, und lebte, so lange er noch zu leben hatte, mit den Seinen vergnügt in Gott; aß, nach Gottes Befehl und Ordnung, sein Brod im Schweiße seines Angesichtes, ließ, wenn er Nahrung und Kleidung hatte, sich genügen, machte die Erfahrung, daß „gottselig sein und sich genügen lassen ein großer Gewinn“ sei, und daß, wenn man nur Gott den Herrn in seinen Lebenskreis mit hereinziehe, auch dem kleinsten und unscheinbarsten Hausstande ohne viel Aufwands eine schöne Idealität zu Theil werden könne. Er beneidete in dem friedlichen, von der Liebe und Eintracht durchschrittenen Ebengärtlein seines Familienlebens nicht Könige noch Kaiser. Unter offnem Himmel wandelnd nahm er jedwede, auch die geringste Wohlthat, die ihm wurde, als ein neues Unterpfand der Freundlichkeit seines Gottes hin. Wohl manchmal stand er still betrachtend an seines Vaters und seiner Mutter Grab, und dachte: „Ihr Lieben habt schon lange ausgesorgt. In Kurzem sehn wir uns wieder. Was wird da sein!“ – Und als nun endlich wirklich sein Stündlein schlug, da segnete er das Irdische getrosten Muths, und ward mit Frieden versammelt zu seinen Vätern; und Gott gab ihm im Tode noch eine säuberliche Gebehrde, und einen guten Spruch durch Kindes- und Nachbarnhand auf seinen Leichenstein.

Seht, Brüder, ein solcher war Barsillai: als Patriot, als Mann des Glaubens, und als seines Hauses Haupt. Denkt euch, solche Leute wären wir alle; und was fehlte noch, daß die Erde schon ein Vorhof des Paradieses wäre. – Und es hindert nichts, daß wir solche werden, wenn wir nur wollen. Derselbe Geist, der den Barsillai bildete, webet noch, und ist bereit, sobald wir uns ihm hingeben, gleich schöpferisch sich an uns zu bethätigen. – Er komme denn über uns, und mache aus uns Allen Etwas „zum Lobe Seiner herrlichen Gnade!“ – ich sehe keinen andern Weg, in welchem uns, den Einzelnen, wie der Gesammtheit unsres Volkes wieder aufgeholfen werden könne, als diesen. – Jedes Haus werde „zu einer Hütte Gottes bei den Menschenkindern“, so wird es alsobald auch zum ganzen Lande heißen: „Fürchte dich nicht, liebes Land, sondern sei fröhlich und getrost: denn der Herr hat große Dinge an dir gethan!“ – Amen.

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