Krummacher, Friedrich Wilhelm - Anathema, wer den Herrn Jesum Christ nicht liebt!

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Anathema, wer den Herrn Jesum Christ nicht liebt!

Gewillkommnungspredigt über 1. Corinth. 16,22., gehalten am 15. August 1852.

1. Corinth. 16,22.
So Jemand den Herrn Jesum Christ nicht lieb hat, der sei Anathema; Maran atha.

Dies Pauli Scheidegruß an die Gläubigen zu Corinth, eigenhändig von ihm den Schlußworten seines im Uebrigen dem Freunde Sosthenes in die Feder diktirten ersten Sendschreibens an die genannte Gemeinde beigefügt. Dies, geliebte Brüder, zugleich mein Bewillkommnungsgruß an euch, deren Angesicht nach mehrwöchentlicher Abwesenheit wiederzusehn mir zu herzlicher Freude gereicht, euch aber durch Gottes Gnade zum Segen gereichen möge. Ihr werdet denken: „Ein seltsamer Gruß dies! – Ein Blitz aus blauer Luft, ein Donner statt sanften Sausens!“ – Und allerdings ist es so. Aber ich denke, grade so wird es recht und passend sein. Laßt mich zur Beschwichtigung eures Befremdens zuerst die Veranlassung euch bezeichnen, aus welcher ich dieses Wort zu meinem Bewillkommnungsgruße mir ersah; und dann in den Inhalt des Apostelwortes selbst mich tiefer mit euch versenken, und dasselbe euch näher an’s Herz zu legen suchen.

Der Herr unser Gott aber bekenne sich zu unsrer Betrachtung, und bereite der ernsten Wahrheit, der wir heute in’s Auge schauen, eine gute Statt in unsern Herzen.

1.

Ja, Brüder, es ist immer noch in unsern deutschen Landen um die Kirche und das Glaubensleben sehr traurig bestellt. Man braucht nur einige Schritte auf die große Heerstraße der Welt hinauszuthun, um alsobald an tausend Symptomen wahrzunehmen, daß der Abfall vom Evangelium unermeßlich und vollkommen ist. Ruft man den süßen Jesusnamen in den weiten Menschenwald hinein, so verhallt er tausendmal einsam in der Wüste, ehe er einmal, und selbst auch dann gewöhnlich in schüchternem Echo nur, zu uns zurückkehrt. Spricht man von der Nothwendigkeit einer Umkehr des heutigen Geschlechtes zum Glauben der Väter, so wird man mit mitleidigem Achselzucken angesehn, und heißt ein Obscurant“, der hinter der Zeitbildung zurückgeblieben sei, und nicht wisse, daß das Christenthum bis auf einige Reste seiner Moral im Schmelztiegel der fortgeschrittenen Wissenschaft längst seine Auflösung gefunden habe. Der Herr Christus sank den Leuten mehr und mehr zu einer Art jüdischen Sokrates herab. Er ist ihnen aus den Augen und aus dem Sinn entschwunden. Die absolute Gleichgültigkeit gegen Ihn und sein Evangelium ist im Allgemeinen weit größer und weiter verbreitet noch, als die positive Feindschaft wider seinen Namen und seine Sache. Kaum nimmt die moderne Welt ein tieferes Interesse noch an ihm, als ihr die Gestalt eines alten Sagenkreises, oder der Held einer Dichtung einflößt, von der man meint, daß sie einmal zu sehr schon den Reiz der Neuheit verloren habe, und sodann zu unzweideutig die Spuren kindischer und unaufgeklärter Anschauungen an sich trage, um dem gebildeten Geschmack eines fortgeschrittenen Jahrhunderts, wie das unsre, auch nur von ferne noch zu entsprechen. Die heutige Welt glaubt nicht an ihn, noch hofft sie auf ihn, geschweige, daß sie ihre Knie vor ihm beugen und zu ihm beten sollte.

Ich verweilte im Wiegenlande der Reformation, aber habe dort kaum noch etwas mehr, als in manchem guten, alten, kirchlichen Formen, etliche übrig gebliebene Fetzen der Windeln vorgefunden, in denen jenes edle Kind einst groß wuchs. Von dem Geiste des Kindes wehte nur etwas aus einzelnen, hin und her zerstreuten Brüdern mich an, die im Kittel des Landmanns, oder in der Tagelöhnerjacke, wie einst die trauernden Juden auf dem Schutte Jerusalems, so klagend und ihre Harfen an die Weiden hängend auf den Trümmern der reformatorischen Kirche saßen. In dem ehrwürdigen Gemache, in welchem einst das unter dem Namen der „schmalkaldischen Artikel“ bekannte gute und tapfere Bekenntniß verlautete, hat man in neuerer Zeit in unerhörter Naivität neben das Bild des Gottesmannes Luther die Portraits eines der Haupträdelsführer der „freien Gemeinden“, so wie des schon verschollenen Stifters der längst in unaufhaltsamer Auflösung begriffenen deutsch-katholischen Gemeinschaft als ebenbürtiger reformatorischer Größen aufgehängt; und noch Niemandem ist es eingefallen, darüber Lärm zu schlagen, geschweige in heiligem Eifer dieser Conterfey’s von der Wand zu reißen, und sie auf die Gasse zu schleudern. Bis zu solchem Grade ist das christliche Bewußtsein in der großen Menge unserer Zeitgenossen erloschen. Ich stand bei der “Lutherbuche“, dem dreihundertjährigen im Laufe der Zeit aber durch Sturm und Wetter seiner einst so prächtigen Krone beraubten, und nur noch in einem einzigen dichtbemoosten Aste fortgrünenden Baume, bei welchem im Jahre 1521 der theure Kämpe, dessen Namen die Buche trägt, auf seiner Rückfahrt vom Reichstage zu Worms in Gemäßheit einer von dem edlen Churfürsten Friedrich dem Weisen getroffenen Veranstaltung von einem Trupp vermummter Ritter aufgegriffen, und vor den meuchelmörderischen Nachstellungen seiner Feinde hinter die sichern Mauern des hohen Adlerhorstes, der alten Wartburg, geflüchtet wurde, und ich dachte Angesichts dieser morschen Zeugin jenes bedeutungsvollen Vorgangs: „O, Doktor Martine, siehe in diesem Baume hier das traurige Bild und Gleichniß deiner heutigen Kirche!“ – In einem Gotteshause nahm ich Anlauf, aus dem dort gebräuchlichen kirchlichen Gesangbuche die angeschriebenen Verse mit anzustimmen; aber der Mund versagte unwillkührlich seinen Dienst; dergestalt waren die alten Kernlieder unsrer Kirche verwässert und ausgeleert, und die neuen in Unglauben getaucht, in Plattheit und Seichtigkeit verwaschen. Ich erkundigte mich nach den Predigern im Lande umher; aber von einem andern an die Hirten der Gemeinden anzulegenden Maßstabe, als demjenigen einer äußern Redefertigkeit und einer unterhaltenden Phrasenvirtuosität hatten die Leute keine Ahnung. Man sollte meinen, das Jahr 1848 habe der Welt doch die Augen darüber öffnen müssen, daß, wo dem Evangelium Valet gegeben werde, sofort dem Teufel und seinen verheerenden Operationen das Feld geräumt sei. Aber nur Wenige drangen gründlich zu dieser Einsicht durch, und selbst auch unter den Intelligenteren, unter den Lenkern der Staatsschiffe, ja sogar unter den Volkshirten und Predigern im Grunde nur wenige. Die letzteren sind dem bei Weitem größeren Theile nach in unsern deutschen Ländern immer noch Rationalisten, die, verschleiert oder öffentlich, die Grund- und Centralartikel des biblischen Christenthums verleugnen, und das fast überall nur spärlich um ihre „Rednerstühle“ sich sammelnde Volk mit einer am liebsten an Texte aus Jesus Sirach angeknüpften Pflichtenlehre abzuspeisen pflegen, die ein jedes Gemeindeglied ebensowohl sich selber predigen kann, und welche die Leute nothwendig auf den Gedanken bringen muß, daß es Ueberflüssigeres unter dem Himmel doch nicht gebe, als den Stand der Pastoren. Die in neuster Zeit doch hie und da sich wieder kundgebenden ernsten Bestrebungen, die Kirche auf ihr uraltes und ewiges Glaubensfundament zurückzusetzen, werden von der großen Menge mit entschiedenstem Mißtrauen angesehn. Man beschuldigt uns der Heuchelei und nennt es einen Widerspruch mit unsrer innersten Ueberzeugung, dessen wir uns schuldig machten, wenn wir die alte Lehrstandarte wiederum erhüben. So hoch schlägt man die elenden lichtfreundlichen Argumente an, durch welche man sich selbst zum Abfall vom Evangelio verführen ließ, und vermag sich nicht zu der Vorstellung zu erheben, daß alle diese Einwände längst überwunden und durchlöchert zu unsern Füßen liegen könnten. Man bezeichnet mit sehr geringschätzigen Namen den Alt, in welchem vor Kurzem die Glieder unsres ehrwürdigen Oberkirchenraths protokollarisch theils zur lutherischen, theils zur reformirten Confession, oder zum Consensus beider, sich bekannten, indem man mit der größten Bestimmtheit voraussetzt, daß mindestens nur äußerst wenige von ihnen alle dem von Herzen beipflichteten, was die Augsburgische Confession, oder was der Heidelberger Katechismus bekenne. Ich denke, die Verleumder werden Gelegenheit finden, sich eines Besseren zu überzeugen. – Man sagt, mit der ganzen kirchlichen Reaktion unsrer Tage sei es nur darauf abgesehn, das Volk um die Resultate der neueren Bildung zu betrügen, und dasselbe blind zu halten und zu “verdummen.“ Als ob nicht gerade umgekehrt das lautere Evangelium wie nichts Anderes die höheren Kräfte im Menschen erst weckte und recht zur Entwicklung brächte, und als schlösse dasselbe nicht die Saat aller wahren Geistes- und Gemüthsbildung in sich. Man gibt vor, daß durch die Glaubensrestauration, zumal wo sie von den Regierungen ausgehe, nichts als die Heranbildung recht blind und knechtisch gehorchender Unterthanen bezwecket werde. Mein Gott, als wäre es nicht eine ausgemachte Sache, daß gerade das Evangelium es sei, welches den Menschen erst wahrhaft frei mache, die Individualität ihm rette, zu seinen höchsten Rechten ihm verhelfe, und jede, auch die unscheinbarste und untergeordnetste Persönlichkeit zu der unaussprechlich hohen Würde eines unmittelbar dem König aller Könige untergebenen, und mit dem Privilegium des freien Zugangs zu Ihm belehnten Gotteskindes erhebe! – Doch von dem Allem ahnet man da Draußen nichts. Die unsinnigsten Vorurtheile wenden sich den treuest gemeinten Bemühungen um die Wiederbringung des tief verirrten Volkes zu dem Einen, was noth ist, wie riesige Felsblöcke in den Weg. Die große Menge schlendert nach wie vor die breite Heerstraße des Unglaubens oder des vollendetsten religiösen Indifferentismus fort, und lächelt über die vereinzelten Bekenntnißtreuen, die hin und wieder dem Herrn Jesu noch die gebührende Ehre geben, als über blödsinnige Pietisten, oder verfolgt sie als verkappte Jesuiten, und wer weiß, als was Alles sonst noch.

Und doch hätten diese hin und her zerstreuten Bäuerlein und Handwerker, was sie ja der Mehrzahl nach sind, das Rechte ergriffen, und die große Menge, an ihrer Spitze die Mehrzahl der Gebildeten, und unter diesen der Edlern und Ehrsamern so manche, ginge irre? Die Tropfen im Meere gleich in der sie umgebenden Menschenmasse sich Verlierenden und oft nur zu zweien, dreien oder vieren in einer Bevölkerung von Tausenden Zersprengten befänden sich auf dem Wege zur Seligkeit; und die Andern alle, die Tausende, nicht selten von ihren Predigern angeführt, und als „wahre Christen“ von ihnen gepriesen, lägen, blos weil ihnen der Herzensbund jener mit Jesu etwas Fremdes ist, unter dem göttlichen Fluche, und zögen der Verdammniß zu? – Ich gestehe, daß dieser Gedanke, wie auch wohl früher schon, so auch diesmal wieder, zu mehreren Malen in der Fremde mich peinigend berücken wollte; ja, daß er einmal wie ein Feuerpfeil des Bösewichts auf mich zufuhr, und für einen Augenblick meinen Glauben an die untrügliche Wahrheit der ganzen heiligen Schrift zu erschüttern drohte. „Mein Gott“, dachte ich, „kann es wohl möglich sein, daß die Bevölkerung der Erde, - wenigstens die sogenannte christliche, wenn etwa der Heiden, die hier das Evangelium nicht vernahmen, noch jenseits eine Zeit der Gnade und Bereitung wartet, - fast nur, weil sie in den großen allgemeinen Abfall mit fortgerissen ward, für die Hölle da sei, und daß nur eine unbedeutende Handvoll Seelen den Himmel erben werde? Sollte denn in der That und Wahrheit die Glaubensgemeinschaft mit Christo zur Ererbung der Seligkeit so unbedingt und unumgänglich nöthig sein, und nicht auch schon eine redliche Pflichttreue und ein ernstes Streben nach sittlicher Vervollkommnung, wenn auch nicht jene ersetzen, so doch vor Gott etwas gelten, und wenigstens vor der Verdammniß schützen und zu irgend einem Vorhof des Himmels erheben können?“ - - Ich dachte es, nicht zwar der Anfechtung schon erlegen, aber doch bereits sehr bedrängt und geängstigt. Da schlug wie ein Donnerhall meine Betrachtungen von dem Irrgang, den sie einzuschlagen im Begriffe waren, gewaltsam zurückschreckend, unser heutiges Texteswort an mein Ohr: “So Jemand den Herrn Jesum Christum nicht lieb hat, der sei Anathema; Maran atha.“ Und mir ward bei diesem Klang zu Muthe, wie einem Delinquenten, dem zur Strafe für seinen nichtswürdigen Zweifel Gott der Herr selbst durch einen der Diener seines Thrones einen wohlverdienten Streich mit dem Stabe Wehe versetzen ließe. Nachdem ich von der ersten Bestürzung und Beschämung mich erholt, sprach ich zu mir selbst: Aus wessen Munde geht dieser Posaunenstoß? Aus eines Schwärmers etwa, oder eines gesetzlichen Treibers, oder eines unklaren Zeloten? – Nein; es redet hier vielmehr der alte Paulus, der Zeitgenosse Jesu, der Zeuge der Gründung Seines himmlischen Reichs, der den Herrn der Herrlichkeit persönlich und leibhaftig schaute, und an Geistestiefe, wie an hoher Erleuchtung kaum seines Gleichen fand. Der besonnene Paulus mit der Devise in seinem Wappenschilde: Prüfet Alles, und das Gute behaltet;“ der durch und durch lautere Mann, dem es nie um ein Eigenes, sondern immer nur um die Ehre des Herrn und um die Sache der Wahrheit ging; der Mann voll Demuth, welcher denjenigen gegenüber, die ihn hörten, nie begehrte, ein Herr ihres Glaubens, sondern nur ein Gehülfe ihrer Freude zu sein; der Mann voll Sanftmuth, der lieber sich selber schelten ließ, als daß er Andere schalt; der Mann der Mildigkeit und Nachsicht, der, wo wirklich Gutes sich fand, allezeit der erste war, der dasselbe auch schon in den zartesten und unscheinbarsten Keimen freudig anerkannte; der klare und feste Mann, der da wußte, was und an wen er glaubte, und der, nachdem er das Fundament, auf welchem er, - freilich nicht so kopfüber, sondern erst nach gewaltigen innern Ueberführungen, Platz gegriffen, allseitig erprobt, und göttlich ächt und bewährt gefunden hatte, in jedem Augenblick, in dem begeisterten nicht blos, sondern auch in dem nüchternsten bereit war, seinen Glauben mit seinem Blute zu besiegeln, und nachmals wirklich damit besiegelte; - dieser Mann, sagte ich mir, „spricht mit den Lippen, die des Fluchens nicht, sondern nur des freundlich Redens und des Segens gewohnt waren, - und schreibt mit der Feder, die herrlich, wie keine andere, von Gottes freier Gnade, Freundlichkeit und Liebe geschrieben hat, - schreibt und spricht vor Gottes Angesichte, und in dem klaren Bewußtsein, daß es für Jahrtausende geschehe, und von einem Pol zum andern wiederhallen werde, in die weite Welt hinaus - was? – was? – Hört, dieses: - „So Jemand den Herrn Jesum Christum nicht lieb hat, der sei Anathema (ein Fluch;) Maran atha (der Herr kommt und wird’s besiegeln.) – Wo,“ – fuhr ich fort, bei mir zu denken, - „wäre eine Autorität, die dieser auch nur von ferne zu vergleichen wäre? – Die Autoritäten auf allen Lehrstühlen der Nachtwelt, wie verbleichen sie vor dieser auf Christi Apostelstuhl? Wer zeigt mir in der Weltgeschichte noch einen Paulus? Ein Augustinus, ein Origenes und Luther verkrochen sich vor ihm, und sie thaten damit nur, was sich gebührte. Es war ja Keiner, - der Jünger, der an seiner Brust lag, alleine ausgenommen, - in dem Maße, wie er, ein Vertrauter des erhöhten Christus. In Keinem, außer in Johannes, gewann Christus eine so vollendete Gestalt, wie in dem Manne, der von sich sagen durfte: „Ich lebe nicht mehr, sondern Christus in mir!“ Ja, wenn an Pauli Maß gemessen die ganze Erdbevölkerung der Hölle zugesprochen werden müßte; es muß so sein, wie er sagt: “Verflucht, wer den Herrn Christum nicht lieb hat!“ Wenn die ganze Welt Zeter darüber schriee, und mit Händen und Füßen sich dagegen sträubte, - trotz aller Proteste bleibt es dabei fest und unverrückt: “Anathema, wer Ihm nicht angehört!“ – So dachte ich, und übersah dabei nicht, wie auch der Herr selbst schon dasselbe ausgesprochen in dem Worte: “Niemand kommt zum Vater, denn durch mich;“ und durchschaute zugleich die ganze Wahrheit und Vernunftmäßigkeit des paulinischen Ausspruchs, indem ja einzig in der Liebesgemeinschaft mit Christo die neue Creatur in’s Leben trete, die allein für die himmlische Welt sich eigne. Ueberdieß glaubte ich die anfängliche Erfüllung des paulinischen Wortes bereits an allen denen wahrzunehmen, die mit dem Strome des ungläubigen Zeitgeistes schwammen. Ich sah, wie bis in’s Kleinste hinein der Egoismus sie beherrschte; wie sie, aller himmlischen Gesinnung baar, grob oder subtil um die goldenen Kälber der Erde ihren Reigen führten; wie die Furcht des Todes ihr Leben lang mit schmählichen Sklavenfesseln sie gebunden hielt, und wie sie nicht Frieden hatten, sondern ein leeres, verödetes Herz, und keines wirklichen Aufschwungs über die Grenzen der Sichtbarkeit und des Vergänglichen hinüber fähig waren. Dieses, und wie Manches sonst, nahm ich wahr und dachte: „Ich das nicht schon ein vorlaufender Funke des Anathemas, das der Apostel im Namen Gottes auf Alle schleudert, die Den nicht lieben, der sie zuerst und so hoch geliebet hat?“ Und dachte weiter: „Wie würden sie in den Himmel passen, wenn Gott auch beide Flügelthüren seines Thronsaals vor ihnen öffnen wollte, sie, die auf dem ““Bauche kriechen““, und nur ““Erde zu essen““ gewohnt sind?“ – „Doch nein, - sagte ich mir ferner, - „Er könnte und dürfte sie Creaturen nicht öffnen, die, wie jene, die Anstalten seines Heils verachten, und Den der blutige Retterarme ihnen entgegenstreckt, hartnäckig ihr Herz verschließen! - Er ist geneigt, sie unter seine Gnadenflügel zu sammeln; aber sie wollen nicht, und schlagen die Lockungen seiner Liebe frevelnd in den Wind. Wie könnte Er sie aufnehmen in sein Reich, wie sie bergen in der Wohnung des Lichts und der Herrlichkeit? Und strahlten sie auch im Uebrigen von Unbescholtenheit und Tugend, wie kann, und wie darf Er, der Heilige und Gerechte?“ – Ich dachte es. Jemehr aber in mir die Ueberzeugung neu sich festigte, daß, wer nicht glaube, d.h. mit Christo sich nicht einige, unrettbar verloren sei, um desto weicher wurde mir Angesichts derer das Herz, die ich dafür halten mußte, daß sie, dem Zeitgeist huldigend, noch den breiten Weltweg zögen. Der Ausspruch Pauli, der in dem Momente nahender Anfechtung als Jakobstab mich gestützt, berührte nun auch als Mosisstab den Fels meines Gemüthes, und entschlug ihm reiche, warme Wellen herzinnigen Mitleids. O, die armen, beklagenswerthen Menschen! dachte ich, wenn sie es ahneten, an welchem Abgrunde sie taumeln, und in welche Wüsten heute oder morgen ihr Lebensweg sich niederneigen könne! In demselben Momente aber sprach ich zu mir selbst: „Mein Gott, warum sagt man’s nicht Jedem, der uns begegnet: Freund, so Jemand den Herrn Jesum Christum nicht lieb hat, der sei Anathema; Maran atha? Warum predigt man es nicht noch zehnmal lauter und unzweideutiger von den Dächern herab, als selbst von denen es geschieht, welchen durch des Geistes Erleuchtung die ganze Wahrheit jenes Wortes aufgegangen ist, daß außer Christo an Heil, Leben und Seligkeit in Ewigkeit nicht zu denken sei?“ – So dachte ich, und nahm mir vor, nach meiner Rückkehr zu euch, Geliebte, es noch entschiedener euch zu bezeugen, als es bisher geschehen, und faßte den Entschluß, das apostolische Wort, das mir auf’s Neue so tief zu Herzen gedrungen war, und mir so dankenswerthe Dienste geleistet hatte, zum Texte meiner ersten, meiner Bewillkommnungs-Predigt unter euch, zu wählen. So wisset Ihr denn, welches die Veranlassung ist, aus der ich heute mit solchem Donner vor euch erscheine. Ihr werdet die Wahl meines Textes jetzt begreifen, aber auch gerechtfertigt finden. Ich traf sie nicht in Willkühr; der Herr nöthigte zu ihr.

2.

Kommt, Brüder, und vertiefen wir uns nun auch noch für einige Augenblicke in den Inhalt des großen Apostelwortes. Ihr hört, um Liebe wirbt das Wort. Unter Androhung des Entsetzlichsten im Verweigerungsfalle fordert es Liebe. Liebe aber für Wen? Darüber kann kein Zweifel sein. Sehr bestimmt drückt sich der Apostel aus. Er beansprucht Liebe nicht für einen menschlichen Rabbi Jesus aus Nazareth: ein solcher existirte nicht; nicht für ein selbstgeschaffenes nur mit dem Christusnamen geschmücktes Sittlichkeitsideal: ein Gedankenwesen dieser Art kann uns nicht erretten; nicht für einen Phantasie-Christus, wie ihn die Aesthetik dem Geschmack und Bedürfniß des natürlichen Menschen angepaßt hat. Nein, Liebe fordert’s für den wirklichen, den historischen “Herrn Jesum Christum.“ Hört diese drei centnerschweren Worte. Sie führen uns den rechten und wahren Christus vor: den “Herrn“, der der Gottgleiche ist und das Wort, das von Anfang bei Gott war; “Jesum“ d.i. den zu unserer Errettung Mensch gewordenen Heiland, und Christum: den von Gott verordneten ewig waltenden König des Gnadenreichs. Nun sollte man zwar dafür halten, daß es Ueberflüssigeres nichts geben könne in der Welt, als die Aufforderung, diesen Herrn zu lieben. Aber es ist eine constatirte und himmelschreiende Thatsache, daß Niemand auf Erden weniger geliebt wird, als gerade Er, Er, der die Liebe selber ist. Ja, von Natur liebt ihn Niemand. Ermesset darnach den ungeheuern Verfall unsres Geschlechts! Sehet euch nur um, wer ist geächtet in der Welt, wie Er? Wer, wie Er, ein Fegopfer der Leute? Man schämt sich Seines Namens, wo man selbst der ärgsten Greuel sich oft nicht schämt. Man achtet es nicht selten für eine größere Schmach, Seinen Anbetern beigezählt, als für einen Hurer und Ehebrecher erachtet zu werden. Man ereifert sich tausendmal heftiger gegen diejenigen, die Ihn erheben und in Lobgesängen feiern, als gegen Solche, die vielleicht den Satan und die Hölle leben lassen. Man läßt sich’s gefallen, daß Einem der wahnsinnigste menschliche Philosoph zum Führer auf der Lebensbahn anempfohlen wird, während man dem, der uns Jesum als solchen anzupreisen Miene macht, unwirsch oder höhnend den Rücken kehrt. Ach, möchte man nicht ergrimmen im Geist, und in den Ruf ausbrechen: „Herr Jesu, warum hast du diese nichtswürdige Brut des Adamsgeschlechtes nicht lieber dem Zorne Gottes und den Mächten der Hölle überlassen, als dein heiliges, theures Blut für sie vergeudet?“ Möchte man so nicht schreien, und den Herrn darum angehn, daß er die Säulen seiner Heilsanstalt wieder abbrechen, und die greuliche undankbare Art den Schrecken ihres verdienten Looses überlassen wolle? – Wie aber klärt sich dieses düstere Geheimniß der Feindschaft wider Ihn? Was sollen wir Ihm antworten auf die durch des Propheten Mund an uns gestellte Frage: “Was habe ich dir gethan, mein Volk, oder womit habe ich dich beleidigt, das sage mir? Ach, Herr Jesu, unser Bettelstolz mag von einem Mann nicht wissen, der sich uns, die wir uns selber helfen zu können wähnen, als Erlöser anbeut. Unsrer Fleischlichkeit kann ein Heiland nicht anders, als zum Aergerniß gereichen, der ein „Kreuziget euer Fleisch sammt Lüsten und Begierden!“ in seinem Fähnlein vor sich her trägt. Unsre Eigengerechtigkeit scheut den Spiegel, der in deiner lichten Persönlichkeit und Pharisäern unsre Schwärze enthüllt. Unsre fleischliche Sicherheit flieht einen Mann, der mit der weckenden Posaune naht, und aus der süßen Todesruhe uns aufschreckt! Dies die Gründe, aus denen wir von Dir nicht hören mögen. Ja, ergriffest du statt der Palme die Fluchesgeißel wider uns, uns geschähe Recht. Doch, du weißt, was für Gebilde wir sind; und nicht der Menschen Seelen zu verderben, sondern in der Erlösung der Fluchwürdigen dich zu verherrlichen, kamst du.

Liebe, theure Freunde, kann nicht geboten werden. Liebe entzündet sich an der Erscheinung der Liebenswürdigkeit. Die Liebenswürdigkeit des Herrn Jesu Christi geht uns verdüsterten Geschöpfen aber nicht auf, es habe denn zuvor der Heilige Geist ein großes Werk in uns gethan, und den Wahn der eigenen Gerechtigkeit in uns gebrochen, die Lüge zerstreut, und unseren verlorenen Zustand uns zum Bewußtsein gebracht. Der arme Sünder muß in uns ausgeboren werden. In der Nacht der Zöllner- und Magdalenentrauer geht erst der göttliche Morgenstern in seiner Pracht und Schöne vor uns auf. Wir lieben Ihn erst, indem wir uns hassen lernen. Wir gewinnen erst Wohlgefallen an Ihm, wenn wir vor uns selbst erschrecken. Die erste Lebensäußerung der Jesusliebe ist dann derjenigen in dem jetzt geborenen Säugling ähnlich, der nach der Mutter weint. Im Schmachten und Verlangen nach dem Mutterherzen Gottes in Christo Jesu offenbart sich zuerst das Dasein jener Liebe. Jesus ist nun nicht mehr der verschmähte und übersehene Mann. Man faßt es nicht, wie man erst jetzt, wie man so spät erst, den lieben könne, der unser Leben ist, sehnt und drängt sich Ihm entgegen. Die Liebe schlägt die jungen, zarten Flügel, und fleucht mit dem seufzenden Herzen aus der armen Welt davon gen Osten in’s Licht der Gnadensonne. Ach, wie uns Alles jetzt hier so gar anders anlacht, denn weiland! Was sonst uns so fremd und entlegen war, wie geht es uns jetzt so nahe an! Was uns einst so gar nicht kümmerte, wie ist es jetzt so tief in unsere heiligsten Interessen verflochten! Da stehen wir im Geist zu Bethlehem an der Krippe: „O Kindlein, bist du wohl auch für mich gekommen?!“ – Da sehn wir den holden Knaben auf Simeons Armen liegen: - „O Simon, wer an deiner Stelle wäre!“ Da sitzt Maria zu ihres Meisters Füßen. – Ach, was gäbe man darum, säße man nur auch erst so! – Da sieht man Jesum um die Sünder weinen. „O Jesu, um mich weine hinfort nicht mehr; hie bin ich, mache mit mir, was die gefällt!“ – Da gewahrt man, wie er dem blinden Bartimäus Gnade zusagt. „O Herr, hier sitzt ein zweiter Bartimäus an der Straße, erbarme dich auch meiner!“ – Da hört man den Meister sagen: „Wer mein Jünger sein will, der nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach;“ und man ruft Ihm zu mit seinem ganzen Herzen: „O nur her mit deinem Kreuze, mit deiner Dornenkrone, du süßer Heiland! Wenn ich nur Dich habe, frage ich nichts nach Himmel und nach Erde!“ - - Seht, Freunde, dergleichen Dinge ereignen sich jetzt in der Gemüthswelt des Sünders; und was in diesem Allem in ihr hervorgrünt, ist die Liebe Christi, die nichts Schöneres mehr kennet, als Ihn, und nichts Begehrenswertheres als seine Gemeinschaft.

Und was ereignet sich erst, wenn das Bewußtsein empfangener Begnadigung wie ein himmlisches Oel diese ersten Liebesfunken zur hellen Flamme anfacht? Wenn der große Todte am Kreuz huldvoll sein Auge gegen uns aufschlägt, und der blutbeflossene Mund uns Sünder gnadenreich beim Namen ruft? Wenn die Geistestaube den Oelzweig des Friedens von Golgatha, und den Ring der geistlichen Vermählung uns Sehnenden zuträgt, und der Arm der ewigen Erbarmung fühlbar uns umschlingt, und die Botschaft durch unsere Seele tönt: „Siehe, Alles, was ich mit meinem Schweiß und Blut erworben, ist auch dein und dein für immer?“ – O dann kann uns werden, als überströme uns der Seligkeit mehr, als zu tragen sei. Man steht stumm im Schatten seines Kreuzes, und nur durch die Hintergründe des tief bewegten Gemüths tönt, während die Lippe nicht Worte zu finden weiß, der Jubelklang: “Das Lamm, das erwürget ist, ist würdig zu nehmen Preis und Ehre!“

Nicht immer jedoch geht die Liebe zu Jesu mit solchem Empfindungsüberschwang verpaart. Es gehört auch dies brandende Gefühl nicht zum Wesen der Christusliebe. Man kann arm an Empfindung sein, und ist darum doch der Liebe noch nicht baar. Wenn der Herr uns wahrschaut, „daß wir die erste Liebe nicht verlassen möchten,“ so hat er hier nur die tiefe Beugung, die entschieden Zukehr zu Ihm, das kindliche Anschmiegen an Sein Knie und das einfältige Vertrauen auf Ihn in jener ersten Liebe im Auge; und es kann freilich dieses Alles wohl noch vorhanden sein, wenn auch auf dem Meere der Gefühle eine Windstille eintrat. Was Liebe ist, weiß jedes Kind; und der größte Philosoph ist doch nicht im Stande, den Begriff der Liebe erschöpfend zu bezeichnen. In der Liebe Jesu lebt man nicht mehr sich selbst, sondern einzig Ihm, der uns zuerst geliebt hat. Man hat sich selbst verlassen und hat an Ihn sich aufgegeben. Wir leben, doch nicht mehr wir, sondern Christus lebet in uns. Ist Er uns nahe, wie beglückt uns Seine Gemeinschaft! Dünkt Er uns ferne, so wohnt im Schmerze um Sein Fernsein unsre Liebe. Hält Er sich hart gegen uns, so offenbart sich unsre Liebe bei uns im Seufzer der Cananäerin. Finden wir uns kalt und gleichgültig gegen den Herrn, so ist es der tiefe Gram über diesen unsern Herzenszustand, in welchem unsre Liebe wie die Perle in der dunkeln Muschel verborgen ruht. Ja, nicht blos im Nachtigallenschlag der Inbrunst, noch blos im Lerchenjubel der Freude, sondern auch im klagenden Girren der Turteltaube manifestirt sich die Liebe. Die Liebe ist Gesinnung, und nicht blos ein Wellenschlag des Affekts. Eine willige Magd ist sie, die unablässig ihrem Herrn nach den Augen schaut, und keine größere Ehre noch Wonne kennt, als nach Seinem Willen zu thun, als Ihm zu dienen. Eine Streiterin ist sie, eine Debora, die die Waffen nicht aus der Hand legt, bis dem Siffera des alten Menschen der Nagel durch die Schläfe drang, und Christus allein als Sieger auf dem Plane steht. Sie kann nicht genug von ihrem Geliebten hören, sondern muß immer da sein, wo Seine Ehre wohnt. Von den irdischen Klängen ertönt ihr keiner süßer, als der Klang der Glocken, die zu Seinem Tempel laden. Sie ist eifersüchtig auf ihres Bräutigams Ruhm, und wie sie in heiliger Entrüstung auffährt, wo man Seinen Namen zu schmähen sich erfrecht, so theilt sie herzinnig die Freude der Himmlischen, so oft irgend wo ein Sünder Buße thut, und Ihm die Ehre giebt.

Doch was stammeln wir weiter von einer Sache, die über allem Ausdruck und aller Beschreibung ist? Genug, ihr ahnet wenigstens jetzt, um was es geht, auf was es ankommt. Durchforscht euer Inneres, und begegnet ihr in euch der Liebe Christi, und glömme sie auch nur in der Sehnsucht nach Ihm, oder im Schmerze darum, daß ihr Ihn noch nicht liebt, wie ihr ihn lieben möchtet: O, dann Heil euch! Ihr seid geborgen. In dem heiligen Feuer, das, und wäre es auch erst als Fünklein, auf dem Altare eures Herzens brennt, besitzt ihr Unterpfand und Siegel, daß auch ihr vom Vater und vom Sohn geliebet seid. – Ihr aber, deren Herz an Allem hängt, nur an dem Schönsten der Menschenkinder nicht, euch wehe, wehe! O, wie ein Donner Gottes rolle hinter euch her der Spruch unsers Apostels: “So jemand den Herrn Jesum Christum nicht lieb hat, der sei Anathema; Maran atha!“ Es verfolge euch dieser Spruch, bis auch ihr zerknirscht zu Seinen Füßen liegt. Es wird nicht fehlen, daß ihr dann bald auch im Genusse Seiner Gnade euch wieder erheben, und mit der Braut im hohen Liede frohlocken werdet: “Mein Freund ist mein, und ich bin Sein, der unter den Rosen weidet!“ Amen.

Quelle: Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Sabbathglocke

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