Krummacher, Friedrich Wilhelm - Pilgersruhe

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Pilgersruhe

Galater 6, 14.
Es sei ferne von mir, mich zu rühmen, denn allein des Kreuzes unsres Herrn Jesu Christi.

Wie die Großen dieser Erde ihre friedlichen Landsitze haben, auf welche sie von Zeit zu Zeit aus dem Geräusch ihrer Residenzen und dem Drange aufreibender Regierungsgeschäfte erholungsbedürftig sich zurückziehn, - (wer kennt nicht irgendwo ein „Friedrichs-“ oder „Wilhelms“ oder „Ludwigsruhe“ u. s. w.) so lacht dem Pilger Gottes auch der seine. An Schloß und Villa ist hier freilich nicht zu denken. Bewegen wir uns doch' in einer geistigen Sphäre. Nichtsdestoweniger reden wir von einer Stelle der Rast und Erquickung, wo Tausende frommer Seelen täglich zusammentreffen. Das verlesene Apostelwort zeigt uns den Weg dahin. Unter dem Kreuze ruht der Gottespilger von der Mühsal seiner Wallfahrt aus; unter dem Kreuze schöpft er neuen Athem, verjüngt sich seine Kraft, wenn des Lebens Kämpfe ihm den Muth zu brechen drohten. Niemand unter euch wird mich fragen wollen, wie man sich gegenwärtig noch im Schatten des Christuskreuzes niederlassen könne. Ich deutete schon an, daß wir von einer Versetzung im Geiste unter das Kreuz des Herrn reden, und etwas Aehnliches meinen, wie wenn wir von einem ergrauten Feldherrn sagen, er wandle vergnügt unter den durchlöcherten Fahnen der Regimenter, die er einst zum Siege führte, indem diese seiner Phantasie vorschwebenden Fahnenbilder das erheiternde Bewußtsein in ihm frisch erhalten, daß er nicht umsonst gelebt, nicht vergebens seinen Degen getragen habe. Was ist's nun aber, das der Wanderer nach der himmlischen Heimath unter dem Kreuze antrifft? Vieles, Großes, Unvergleichliches. Es eröffnet sich ihm hier zuerst eine herzerhebende Aussicht in die Vergangenheit; dann umleuchtet ihn hier der volle Strahlenglanz der ewigen Liebe; und endlich findet er unter dem Kreuze die Stätte seines höchsten Ruhmes und Triumphes. Wie das? Ihr werdet es vernehmen, und das apostolische Wort, das unsrer Betrachtung zum Grunde liegt, verstehen lernen. Lasse der Herr unsre Erwägung uns Allen, vornehmlich aber denen in unsrer Mitte zum Segen gereichen, welche heute bei der heiligen Bundestafel so recht unter dem Kreuze zusammen zu treffen gedenken!

I.

In weiter Welt gab es einst ein schmachvolleres und verächtlicheres Zeichen nicht, als dasjenige, welches jetzt das Sinnbild unsres Glaubens ist. Ehrloser und verrufener, als Pranger, Henkerblock und Scheiterhaufen, flößte es namentlich den Römern, Griechen und Juden ein Grauen ein, welches an Stärke dasjenige weit überbot, von welchem spätere Völker beim Anblick eines Galgens sich ergriffen zu fühlen pflegten. Kein römischer Bürger, welch himmelschreiendes Verbrechen er begangen haben mochte, durfte zum Kreuzestode verurtheilt werden. Die ungeheure Infamie dieser Strafe war lediglich der Hefe des Volks, d. i. den gröbsten Verbrechern aus dem Heloten- oder Sklavenstande aufbehalten. War irgendwo eine solche Exekution vollzogen, so wich ein Jeder ängstlich und mit Abscheu dem Anblick des also Hingerichteten aus. Und wenn das Schlachtopfer längst verscharrt war, blieb der Ort, wo er gehangen, eine Schauerstätte, wie selbst diejenige nicht, die einmal durch einen Selbstmord entweiht war. Bis zur Stunde noch kennen die Juden keinen entehrenderen Namen, als den eines „Gehenkten.“ Und ihr wißt, wen sie mit demselben, um ihren gründlichen Abscheu und Haß wider ihn dadurch kund zu geben, zu bezeichnen pflegen. Ja, Ihn, Ihn! Denkt nur! der Herr vom Himmel, der Heilige in Israel, starb an dem infamirten Pfahl, an dem schauerlichen Holze, auf welchem nach Mischer Überlieferung obendrein der Fluch des allmächtigen Gottes ruhte. Unser Pilger versenkt sich still in diese Betrachtung, und siehe, da öffnet sich ihm zuerst eine Aussicht in eine achtzehnhundertjährige Geschichte. Und in dieser Geschichte fällt sein Blick auf eine von Jahrhundert zu Jahrhundert von hellerer Glorie umleuchtete Sieges- und Verherrlichungsbahn, die, - immer bleibt's vor feinen Augen ein Wunder, - jenes verachtetste aller Zeichen in der Welt durchlaufen hat. Was gewahrt er? Oft schon hat er's gesehn, und muß doch immer sich auf's neue fragen, ob er seinen Sinnen trauen dürfe. Kaum ist das Kreuz von der Höhe des Schädelberges verschwunden, da richtet Petrus dasselbe in Zeugniß und Predigt auf dem Berge Zion, dem Tempelberge, wieder auf, und Dreitausend aus Israel, überwältigt von des Zeichens Macht, sinken vor demselben huldigend in den Staub, und schwören sich ihm zu als dem Paniere, unter welchem sie leben und sterben wollen. Die Apostel tragen's dann im Bilde sammt der Botschaft von dem, was sich einst daran begeben, unter die Völker; und was geschieht? Die Barbaren strecken vor dem Zeichen, dessen Anblick sie vor Kurzem noch mit Schauder flohen, anbetend Streitaxt und Keule, und bedecken's, wie durch einen Zauber aus Löwen zu Lämmern umgeschaffen, mit Dankes- und Huldigungsküssen. Und was mehr noch ist, als das: die stolze Weisheit Griechenlands und Roms erbleicht und neigt sich vor dem geheimnißvollen Symbol, 'und die Göttertempel öffnen ihre Pforten, damit der Gekreuzigte zu ihnen triumphirend seinen Einzug halte, und sie zu Stätten der Anbetung seines Namens weihe. - Der Beherrscher der Welt, Constantin der Große, glaubt das Zeichen von Golgatha gar in überirdischem Strahlenglanze funkelnd am Firmament des Himmels erblickt zu haben, und nachdem er's mit der Inschrift, die er darauf gelesen: „In diesem Zeichen wirst du siegen!“ in die Banner seiner Legionen verzeichnen lassen, erhebt er den, der einst an diesem Marterholz gehangen, Krone und Scepter zu seinen Füßen niederlegend, zum obersten Regenten und Schirmherrn seines unermeßlichen Reiches, - Nun währt's nicht lange mehr, da ragt das Kreuz bereits auf tausend Thürmen, Kirchenkuppeln und Kapellen. Kaiser und Könige verschmähen es nicht, dasselbe auf ihren Reichsapfel zu pflanzen; Paladine und Ritter heften es als hehrste Dekoration auf ihre Brust. Gewichtige Urkunden und Diplome werden mit dem Kreuz eröffnet und besiegelt. Als Zeichen der Hoffnung erhebt sich's über den Gräbern aller christlichen Gottesäcker. Fürsten geben den mehrsten Ehrenzeichen, womit sie ihre Helden schmücken, des Kreuzes Gestalt. Die Aerzte zeichnen, - und so geschah es bis zu dem Momente, da der Höllenabgrund der französischen Revolution sich aufthat, noch allgemein, - an die Stirn ihrer Verordnungen das Kreuzeszeichen. Selbst in der seit zwölf Jahrhunderten bereits bestehenden Sitte, daß des Schreibens unkundige Personen unter Briefe und Urkunden zur Beglaubigung statt ihrer Namensunterschrift drei Kreuze malen, bricht sich noch ein Schimmer von der Ehre, zu der im Lauf der Zeiten das schmachbedeckte Symbolum gelangte. „Für welch' eine Anziehungskraft des Kreuzeszeichens spricht diese seine Geschichte! In wie hohem Maaße muß, was das Zeichen bedeutet, den tiefsten und schreiendsten Bedürfnissen des Menschengeschlechts entsprechen! Und wie muß der Allmächtige dasselbe fort und fort mit seinem Geiste und seiner Macht begleitet haben!“ So ruft der Gottespilger staunend aus, indem er den Siegesgang des Kreuzes überschaut. Seinem Glauben an das Kreuz, als an den Mittelpunkt aller Heils- und Friedensrathschlüsse Gottes für die Welt der Sünder, erwächst aus dieser Betrachtung eine neue Stärkung, und seine Seele fühlt sich erquickt, beglückt und unaussprechlich hoch gehoben.

Doch wisset, daß eine noch wohlthuendere Aussicht, als die bezeichnete, sich vor ihm eröffnet, so oft er an das' Kreuz des Herrn gedenkt. In seinen Gesichtskreis tritt dann die gesegnete Familie, der er angehört. Er wird der Gemeinschaft sich gewiß, in 'welcher er mit den Gläubigen, den „Kindern Gottes“, aller Jahrhunderte steht. Diese bilden ja alle eine Kreuzgemeine. Das Kreuz ist das Panier, zu dem sie schwuren. Das Kreuz ihre Liebe, ihre Freude. Das Kreuz der Mittelpunkt ihrer heiligsten Betrachtungen. Das Kreuz die Säule ihrer Hoffnung, der Grund ihres Trostes, der Lebensbaum, von dem sie sich die Früchte des Friedens brechen. Die Apostel rühmen sich, wie wir heute vernehmen, allein des Kreuzes Christi. Die ersten Christen grüßten einander mit dem Kreuz als mit dem Wahrzeichen ihres Bruderbundes. In die Grabsteine ihrer Märtyrer meißelten sie, wie in den römischen Katakomben heute noch zu sehen ist, ein einfaches Kreuz, weil sie die innerste Richtung und Gesinnung der edlen Blutzeugen nicht besser und treffender zu bezeichnen wußten. Mit dem Zeichen des Kreuzes segneten die späteren Gläubigen sich und Andre. Die ehrwürdigen Väter der Kirche sehen nach Ausweis ihrer Schriften alles Heil der Welt durch Jesu Kreuz vermittelt. Mit dem Kreuze in 'Hand, Mund und Herzen gingen einst jene Herolde Christi aus, die auch unsre Väter von den falschen Göttern zu dem lebendigen Gott bekehrten. Den Kreuzfahrern, unter denen immer ein Stamm wahrhaftiger Gottesmenschen, wehte die Kreuzesfahne voran, wie sie auch das Kreuz auf ihrer Brust trugen. Die feurigsten Lieder, die die Kirche des Mittelalters durchklangen, ertönten dem Kreuze. Das Werk der Reformatoren, auf was zielte es ab, als darauf, Christi Kreuz in der unverkümmerten Fülle seiner trostvollen Bedeutung der Welt wieder vor Augen zu stellen? Und jene edlen Zeugen, von denen später die Ströme befruchtenden und belebenden Wassers über den Weinberg Gottes sich ergossen, die Paul Gerhard, Zinzendorf, Franke, Spener, und wie sie weiter heißen, wer waren sie? Männer, die in dem Kreuzgeheimniß ihr Eins und Alles gefunden hatten. - So kennt denn der Pilger Gottes in Folge solchen Rückblickes in die Vergangenheit seinen Stammbaum. So sieht er sich der Gemeinschaft eingegliedert, deren einiger Ruhm das Kreuz Christi. Dieser Gedanke aber, dem achtzehn Jahrhunderte durchreichenden Orden anzugehören, dessen Großmeister die zwölf Apostel sind, gewährt seiner Seele ein unaussprechlich süßes Labsal. Der Adel, dessen Signatur und Abzeichen das Christuskreuz im Kern des Herzens ist, ist ja derjenige dem Gott der Herr selbst das Diplom geschrieben hat.

2.

Der Pilger Gottes sieht sich aber zu noch ungleich beseligenderen Betrachtungen, als die eben bezeichneten, veranlaßt, so oft er im Geiste unter dem Kreuze sich niederläßt. Hier sitzt er im vollen, entfalteten Strahlenglanze der ewigen Liebe: der Liebe des Vaters, der, um uns, das gefallene Geschlecht, nicht dem endlosen Verderben preisgeben zu müssen, welches wir sündigend an uns rissen, seines eingeborenen Sohnes nicht verschont, sondern Ihn als Sühnopfer für uns dem Tode weihte; des Sohnes, der, um der väterlichen Gnade den Weg zu öffnen, auf dem sie unbeschadet der ewigen Gerechtigkeit, Heiligkeit und Wahrheit Sünder segnen und erhöhen könne, als anderer Adam, nicht blos in unserm Namen die Gerechtigkeit darbringt, die unerbittlich von dem göttlichen Gesetz erfordert wird, sondern auch den Kelch des über uns verhängten Fluches für uns leert, und an unserer Statt dem ewigen Rechte und der unwandelbaren Reichsordnung Gottes die unerläßliche Genüge leistet. Aus diesem Gesichtspunkt nehmlich sieht der Gottespilger die Passion des Herrn an; und wer sie anders deuten will, dem wird es freilich verborgen bleiben, wie am Kreuze die ewige Liebe ihre höchsten Triumphe feiere. Es muß aber die Bedeutung des Leidens und Sterbens Christi so aufgefaßt werden, wie unser Pilger sie auffaßt. Es muß, und das nicht allein um des Wortes Gottes Willen, das sie auf's unzweideutigste überall so darstellt; sondern auch schon darum, weil bei jeder andern Anschauung aus der ganzen Passion des Herrn ein widerspruchsvolles und zweckloses Gewirre wird. Widerspruchsvoll erscheint die Leidensgeschichte: denn man denke nur, ein Heiliger, den Gott seiner Verheißung gemäß wie den Apfel in seinem Auge behüten sollte, wird in Schmachen und Martern hinabgetaucht, welche nur den ärgsten Frevler und Missethäter treffen dürften; ein völlig Sündenreiner, auf den also das Wort eine Anwendung leidet: „Thue das, (nehmlich das Werk des Gesetzes,) so wirft du leben und nicht sterben“ stirbt. Und wie, und wo stirbt Er? Er muß also zahlen, was er nicht schuldet: den Tod; denn der Tod ist nicht der Lohn der Gerechtigkeit, sondern „der Sünde Sold“, wie auch die Schrift ihn mit diesem Namen bezeichnet. - Denkt weiter: ein Held, dem Tode vollkommen gewachsen, wie er dies eben erst am Grabe des Lazarus bethätigte, zittert, wie ihm selbst der Schreckenskönig naht, und bricht in das Geständniß aus: „Wie ist mir so bange, bis die Bluttaufe an mir vollzogen werde;“ einem Gerechten, dem vom Himmel herab das Zeugniß wird: „Dieser ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe“, und der von sich bezeugte, daß er nie allein, sondern überall der Vater bei ihm sei, widerfährt es, daß seinem Herzen die angstvolle Frage abgedrungen wird: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ - Nun aber sagt, ob das nicht Widersprüche sind, Widersprüche der allergrellsten und schreiendsten Gattung? Wer löst sie, wer gleicht sie aus, wenn er den Schlüssel der apostolischen Stellvertretungslehre von sich wirft? - . Und nicht weniger zwecklos, als widerspruchsvoll, erscheint das Leiden und Sterben Christi, wenn man demselben irgend eine andre Bedeutung unterschieben will, als die vorhin bezeichnete. In ein undurchdringliches Dunkel hüllt sich dann seine ganze Passion, und ein vernünftiger Zweck ist in derselben nirgends zu entdecken. Denn sagt man, Christus habe sich allen den Martern preisgegeben, damit einmal das allgemeine Verderben der Menschheit zu Aller Anschauung gelangen möchte; so sagen wir zuvörderst, daß dieses allgemeine Verderben aus seiner Leidensgeschichte ja nicht einmal ganz klar erhelle, indem ja nicht Alle Ihn kreuzigten und verwarfen, sondern wenigstens Manche, wie Johannes und die Frauen, Ihm eine mustergültige Treue bis in den Tod bewiesen; und fragen dann zum Andern, was die Anschauung unsres Elends und unsrer Schuld uns helfen konnte, wenn nicht zugleich eine sichere Aussicht auf Tilgung der letzteren uns eröffnet wurde.

Sagt man, es habe der Herr Christus uns zeigen wollen, wie man auch in den tiefsten und bittersten Nöthen getrost sein könne, so sagen wir gewiß wie mit einem Munde, zuerst, daß Christus in seiner Passion keinesweges allezeit so überaus getrost erscheine, und dann: „Christus hatte gut getrost sein, da er ein Heiliger war; wir aber sind Sünder. Wie mag sein Getrostsein uns zum Spiegel und zum Vorbild dienen?“

Sagt man, es habe der Herr im Feuertigel seiner Passion geläutert werden und seinen Gehorsam bewähren sollen, so fragen wir wiederum, was denn uns das fromme, wenn Er für seine Person nur die schwere Probe bestand. Es hatte für Ihn dann das Leiden allerdings einen Zweck; aber war es für uns nicht so gut, wie zwecklos? - Sagt man, seine Absicht sei gewesen, als Märtyrer feine Lehre mit seinem Tode zu besiegeln, so entgegnen wir, daß sein Verhalten in Gethsemane und seine Klage über Gottverlassenheit am Kreuz viel eher auf den Gedanken führen könnten, Er sei zuletzt doch noch selbst an seiner Lehre und seiner ganzen Sache irre geworden. - Sagt man endlich, Er habe nur mit wohlwollender Gesinnung zu unsrer Ermuthigung in unser Erdenloos mit eingehn wollen, so sprechen wir: „Was war doch uns damit geholfen, daß Einer mehr oder weniger an unserm Elend teilnahm, wenn derselbe uns dem Jammer nicht entreißen konnte?“ - War es bei Christi Leiden blos auf Prüfung seiner Tugend, auf Läuterung und auf Vorbildgeben abgesehn, wie könnte dann dasselbe auch noch ein „Mysterium“, ein „Geheimniß“ heißen, wie die Schrift es nennt, und noch dazu ein solches Geheimniß, in dessen Tiefen sogar, wie Petrus versichert, auch „die Engel Gottes gelüste, hineinzuschauen?“ Ich meine, nichts wäre verständlicher dann, und läge planer auf der Hand, als die Bedeutung der heiligen Passion. Kein Kind brauchte in diesem Falle daran lange zu studiren; wie viel weniger ein Engel, ein Seraph aus der Höhe. Wie würde es dann auch zu begreifen sein, daß der Herr im Blick auf seine Leiden sagen konnte, er sei gekommen sein Leben zu geben „zum Lösegeld für Viele?“ Wie wären wir denn durch seine Passion erlöst? Wie durch die Hinopferung seines Lebens frei geworden? - Nein, der Pilger Gottes hält festiglich dafür mit allen Aposteln, ja mit der ganzen heiligen Schrift, daß das Leiden Christi ein genugthuendes, ein sühnendes war. Bleibt denn auch das Wie dieser sühnenden Stellvertretung in seinem tiefsten Grunde auch für ihn noch immer ein Geheimniß, und weiß er auch, daß an der Art, wie er sich dasselbe, selbst nach dem Vorgange der Apostel, vorstellig mache, noch immer viel Menschliches hange, was dem Lichte der Ewigkeit weichen werde, so lebt er doch der unerschütterlich festen Ueberzeugung, daß die Selbstdargabe des Erlösers in Marter und Tod unerläßlich nothwendig war, um den Kanal zu eröffnen, durch welchen frei und unbehindert Gnade statt Fluch vom Himmel herab auf die Sünder niederströmen könnte. Und eben, weil dies ihm feststeht, kennt er einen köstlicheren Ruheplatz auf Erden nicht, als den unter dem Kreuze. Hier spricht er mit der Braut des Hohenliedes: „Ich sitze im Schatten deß, deß ich begehre, und seine Frucht ist meinem Gaumen süße!“ Hier sieht er wahrhaft über sich den Himmel offen. Hier kommt ein Rathschluß göttlicher Erbarmung zum Vollzuge, von welchem auch nicht eine leise Ahnung je in eines Menschen Herz kam; denn „Gott ist“, wie die Schrift sagt, „größer als unser Herz.“ Hier findet er die himmlischen Mächte vereint, um sein, des armen Sünders, ewiges Heil zu begründen. Hier schwimmt er in einem Meere der Liebe und Leutseligkeit. Was hier ihn umstrahlt, was er hier athmet, nur Liebe ist's: des Vaters und des Sohnes Liebe; und was hier zu seinem inneren Ohre dringt, ist der süßeste Laut, der im Himmel und auf Erden gehört mag werden: der Laut: Gnade, Gnade! Was Wunder drum, daß ihm an diesem Orte wohl ist, und er hier auch die Stätte seines Ruhms und seines höchsten Triumphes findet?

3.

Denn wer will hier unter dem Wiederhall des Mittlerrufes: „Vater, vergib, vergib!“ ihn noch verdammen? Wer der Sünde ihn zeihen hier, wo das Gotteslamm dieselbe sühnend trägt, und sein Schuldbuch auf ewig „ans dem Mittel“ thut? Wer mit dem zukünftigen Gericht ihn schrecken Angesichts des himmlischen Bürgen, der mit seiner eigenen Gerechtigkeit vor dem Richter der Lebendigen und der Todten ihn vertreten will? Wer von den Schrecken des Todes hier ihm reden, wo ein Schacher, ein Auswurf der Menschheit, das große Wort vernimmt: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein“, und wo dem Tode der Stachel, welcher ist die Sünde, genommen wird, auf daß er hinfort für Alle, die da glauben, nicht mehr sei des Sünders Tod, sondern der Tod Gerechtgesprochener, und darum ein Eingang in das ewige Leben? O, wie billig verlauten darum hier die Jubelrufe: „Wer will beschuldigen?“ - „Wer mag mich scheiden von der Liebe Gottes?“ - „Tod wo ist dein Stachel? Hölle wo ist dein Sieg?“ - „Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott“! - und wie sie weiter heißen. Nicht zu sagen ist es, was Alles für einen Jeden, der es zu finden weiß, an Siegeskränzen, Freibriefen, Rechtsverschreibungen, Anwartschaften, Ehrendiplomen und dergleichen mehr unter dem Kreuze bereit liegt! Ihr wißt, Jahrhunderte lang lagen diese unvergleichlichen Schätze einst unter römischem Kirchenwahn und Ceremonienwust vergraben. Die Reformatoren deckten sie wieder auf, faßten sie an, eigneten sie sich zu, und - wie standen sie in Folge dessen da? Triumphaleren über Sünde, Welt, Tod, Teufel und Hölle; ja, aller Mächte Meister und Herren, und selbst nur Christi eigen, und durch Christum Gottes. Und denke doch Niemand, jene Himmelskleinodien, am Kreuz erkämpft, seien darum jetzt entschwunden, weil in den heutigen Tagen, den Tagen des großen Abfalls, nur Wenige mehr sie kennen und zu würdigen wissen. Sagt mir doch, was der jüngstgeborene Prinz unsres königlichen Hauses gegenwärtig noch in seinem Wieglein von der Zollernkrone, dem Preußenzepter, und dem Besitztitel über Länder und Leute weiß, woran doch ein ererbtes Anrecht unzweifelhaft ihm zusteht? Ahnungslos ruht er inmitten aller dieser Herrlichkeit; und sie ist doch für ihn vorhanden. Laßt erst das prinzliche Bewußtsein sich in ihm entwickeln, und er' wird sein Erbtheil schon entdecken, und die Reichthumsfülle desselben wird ihm den Busen schwellen. So gibt es auch ein Glaubensbewußtsein. Wenn das erst in uns erwacht, o, wie überschwenglich gesegnet, wie hoch erhöht finden wir uns dann durch Gottes Gnade in Christo Jesu! Belebe sich dieses Bewußtsein neu in euch, die ihr heute zu Seinem Tische naht! Erwache es über dem Grunde einer durchgreifenden Herzenszerknirschung in euch Allen! Geschieht dies, was gilt's? auch ihr stimmt dann von ganzem Herzen in den apostolischen Ausruf ein: „Es sei ferne von mir, mich zu rühmen, denn allein des Kreuzes unsres Herrn Jesu Christi“, und ihr versteht den christlichen Sänger, wenn er singt:

Suche Jeder, wo er will,
Sich die Friedensstätte;
Mir vergönnet, daß ich still
Unter'm Kreuz mich bette!
Holdes Gnadenparadies,
Das mich hier umschattet,
Und, was ich in Eden ließ,
Doppelt mir erstattet!

Rechte, die mit höchster Zier
Dort mein Leben krönten,
Neu errungen sind sie hier
Mir dem Gottversöhnten;
Um mein Herz das ehrne Netz
Dumpfer Angst zerrissen;
Stumm das dräuende Gesetz,
Fröhlich das Gewissen.

Unter'm Kreuze! - O wem hat
Je sich's ganz erschlossen,
Wie mir hier aus blut'ger Saat,
Herrlichstes entsprossen! -
Was auch Andre da und dort
Starker zieh' und reize:
Meinen Stand- und Ruheort,
Fand ich unter'm Kreuze! - Amen.

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