Krummacher, Friedrich Wilhelm - VIII. Irrgänge.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - VIII. Irrgänge.

„Ich habe den Herrn allezeit vor Augen; denn Er ist mir zur Rechten. Ich werde nicht wanken.“ So mit freudigem Geiste unser David im achten Verse des sechszehnten Psalms. Es könnte scheinen, als überschreite er mit diesen Worten die Grenzen der Demuth. Aber er redet, wie er im zehnten Verse des Psalms andeutet, nicht sowohl in seinem eigenen als vielmehr im Namen vollendeter „Frommen“, bei denen er eine Stetigkeit des Wandels vor dem Angesichte Gottes voraussetzt, wie er sie selbst erst ringend und betend anstrebt. Er spricht somit Wahrheit. „Gott immerdar vor Augen haben,“ sagt Luther, „macht einen frischen Muth und unerschrocken Herz, das freudig und willig ist zum Dulden, wo es Unglück, Kreuz und Leiden zu tragen gilt. Ein solcher Glaube ist unüberwindlich.“ - Auch Davids tiefstes und lauterstes Begehren ging dahin, den Herrn und sein heiliges Gebot nicht einen Augenblick aus dem Auge zu verlieren; aber wie willig auch sein Geist war, das Fleisch war schwach. Bei seinem erregbaren Naturell konnte es nicht fehlen, daß Anfechtungsstürme ihm viel zu schaffen machten, sollten sie ihn nicht, ob auch vorübergehend nur, aus seiner Richtung herauswerfen. So hat er allerdings zu verschiedenen Malen gewankt; aber der Magnetnadel gleich, die momentan wohl wider ihre Neigung einem mechanischen Drucke nachgiebt; aber sobald derselbe beseitigt ward mit innerer Nothwendigkeit in die frühere ihr eigenthümliche Richtung wieder eingeht. Wo David in einer unbewachten Stunde einmal strauchelt, wird im Lager des Feindes allezeit zu frühe Triumph geblasen. Ehe man sich's versieht, steht der Gefallene mit der Bußthräne an der Wimper wieder ganz und unverletzt auf dem Plane, und ist wieder „der Mann nach dem Herzen Gottes.“

1 Sam. 21,1. David kam gen Nob zum Priester Ahimelech. V. 10. Und David machte von da sich auf, und floh vor Saul und kam zu Achis, dem Könige zu Gath.

Diese dem Zusammenhang enthobenen Worte bezeichnen uns die Schauplätze, die wir heute im Geiste betreten werden. Die Erlebnisse Davids an dem einen und dem andern nehmen unsere regste Theilnahme in Anspruch.

Auf seiner zweiten Flucht von Gibea kam David zuerst nach Nob, einem in der Nähe Jerusalems gelegenen Städtlein, das wir wahrscheinlich in dem heutigen El Isawijeh d. i. „Esaus-“ oder „Edomsdorf,“ so benannt nach der dort vollbrachten Greuelthat des Edomiters Doeg, von der wir später hören werden wiederzuerkennen haben. In Nob befand sich damals die Stiftshütte, dies geheimnißvolle Sinnbild der Wohnung Jehova's, der nur ihr heiligstes Geräth, die Bundeslade fehlte, welche zu der Zeit noch zu Kiriath Jearim (deutsch: Waldstadt) im Hause des Leviten Abinadab weilte, wohin man sie zwanzig Jahre früher, nachdem sie den Räuberhänden der Philister wieder entrissen worden war, geflüchtet hatte. So lange also war in Israel die gottesdienstliche Ordnung durchbrochen gewesen, und eine kirchliche Anarchie eingetreten. Die Priester errichteten Altäre und brachten Opfer, wo es ihnen beliebte, und Saul war nicht der Mann, um diesen gesetzwidrigen Zuständen ein Ziel zu setzen. Doch blieb das heilige Zelt der Mittelpunkt des gottesdienstlichen Lebens für diejenigen im Volke, denen es noch anlag, unverrückt in den Wegen des Gesetzes Mosis zu wandeln. Zu diesen gehörte auch David, der das vor Zeiten gesprochene Wort Jehovas nicht vergessen hatte: „An welchem Orte ich meines Namens Gedächtniß stiften werde, da will ich zu dir kommen und dich segnen!“ Zu Nob wartete auch noch der Hohepriester seines hehren Amtes; und der heiligen Lade glaubte man auch schon dadurch die gebührende Ehrfurcht zu bezeugen, daß mau betend das Angesicht der Gegend zuwandte, wo sie damals aufbewahrt wurde. Ueberdies befand sich der Hohepriester auch noch im Besitze des geheimnißvollen Brustschildes, des „Urim und Thummim,“ deutsch: der „Erleuchtungen und Vollkommenheiten,“ vermittelst dessen sich Jehova in einer uns nicht mehr bekannten Weise bei wichtigen Vorgängen und Unternehmungen in Israel zu offenbaren pflegte. Was nun den David bewog, gen Nob seinen Weg zu nehmen, war wohl die zweenfache Hoffnung, bei den dortigen Altären Schutz vor seinen Verfolgern zu finden, und durch priesterliche Vermittlung eine göttliche Weisung für sein ferneres Verhalten zu empfangen. Daß er auf Letzteres sich Rechnung machte, erhellt aus dem 10. Verse des nächstfolgenden Kapitels unsres Buches, wo es ausdrücklich heißt, der Hohepriester habe für ihn „den Herrn gefragt.“ Freilich vernehmen wir nicht, daß ihm eine Antwort auf seine Frage geworden sei. Schwieg der Herr, so hatte David dies sich selber zuzuschreiben, indem sein Verhalten zu Nob keineswegs ein gottgefälliges war. Als nämlich der Hohepriester Ahimelech in dem herannahenden Wandrer den David erkannte, war der erste Eindruck, den diese überraschende Begegnung in ihm hervorrief, ein nicht geringes Befremden, den Eidam des Königs unbewaffnet, und sogar ohne Gefolge daherkommen zu sehen; und der andere eine geheime Sorge, er möge ihm irgend eine unerwünschte Botschaft von dem Könige zu überbringen haben. In tiefster Ehrerbietung tritt er dem hohen Gaste mit der Frage entgegen: „Warum kommst du allein, und ist kein Mann bei dir?“ Und wie lautet Davids Antwort? Wohl manchmal mag ihm später die Erinnerung an die klägliche Schwäche, die ihm dieselbe eingab, die Schamröthe in's Angesicht getrieben haben. Doch üben wir Nachsicht. David, von der langen Irrfahrt auf's äußerste ermüdet, bedurfte zunächst und vor allem Andern einer leiblichen Stärkung. Fand er auch in Nob keine Herberge, wohin sollte er dann sich wenden? Und freilich mußte er besorgen, er werde eine solche nicht finden, wenn er dem Priester verriete, daß er als ein Gebannter und Verfolgter des Königs vor ihm stehe. So nahm er denn zu einer Nothlüge seine Zuflucht, indem er vorgab, der König habe ihm mit einem Auftrage abgeordnet, den er unter allen Umständen vor Erreichung seines Ziels geheim zu halten habe. Seine Begleiter, sagte er, habe er eine Strecke weit hinter sich zurück gelassen, und sie dort warten geheißen, bis er nach kurzer Frist wieder zu ihnen stoßen werde. Ahimelech möge ihm nun ein Brod, oder, damit auch jene sich stärken könnten, deren fünfe überlassen. Es betrübt uns auf's tiefste, unsern Freund urplötzlich von der Höhe seines Glaubens in diesen Kleinmuth herabsinken zu sehen. Es ist der erste sittliche Flecken, den wir an ihm wahrnehmen. Wohl ist es wahr, daß wir öfter alttestamentliche Heilige unter ähnlichen Verhältnissen in dieselbe Sünde verfallen sehen; doch ist ihrer keinem die göttliche Strafe dafür erlassen worden. Selbst Davids großer Ahnherr, der Vater Abraham, befleckte sich einmal mit einer Lüge, da er aus Furcht vor dem Könige von Gerar sein Weib für seine Schwester ausgab. Wir wissen aber auch, mit welcher Beängstigung und Beschämung er seine feige Kriegslist büßen mußte. Und diese Buße ward, wie wir vernehmen werden, auch dem David nicht erspart.

Zunächst erreichte der Flüchtling durch seinen Kunstgriff allerdings seinen Zweck. Der Priester, der damals „gemeines Brod“ in seinem Hause nicht vorräthig hatte, nahm nicht Anstand, dem Tochtermanne des Königes von den heiligen Laiben des Schaubrodtisches in der Stiftshütte darzureichen. Er that dies um so unbedenklicher, da David ihm versicherte, daß er sammt seinem Gefolge levitisch rein sei, und da er seine Bereitwilligkeit schon dadurch für gerechtfertigt erachtete, daß der Bethlehemite nicht allein als Vertreter Sauls, des Gesalbten Jehovas, sondern auch, wie eine lebhafte Ahnung ihm sagen mochte, als ein zu hohen Dingen göttlich Ausersehener vor ihm stehe. Auf dem heiligen Schaubrodtische lagen der Vorschrift des göttlichen Gesetzes gemäß allezeit auf goldenen Schüsseln zwölf ungesäuerte Brode, die an jedem Sabbath abgenommen und durch frische ersetzt wurden. Sie versinnbildlichten zunächst den zwölf Stämmen Israels das Bundesverhältniß, in welches Gott zu ihnen eingetreten sei, indem er ihnen gleichsam hausväterlich den Tisch bereite, und selbst für alle ihre Nothdurft sorge. Dann mahnten sie das Volk, wie an den Auszug aus Egypten, so an seine Schuldigkeit, Alles, was ihnen der allmächtige Erhalter ihres Lebens nach seiner Freundlichkeit in Feld und Garten wachsen lasse, auch ihm wieder zu weihen, und es zu seiner Ehre und in seinen! Dienste zu verzehren. Endlich wiesen sie prophetisch auf die Tage des neuen Bundes hinüber und veranschaulichten das geistliche Brod, das dann als Speise zum ewigen Leben vom Himmel zur Erde herabkommen werde. Die vom heiligen Tische am Sabbath aufgehobenen Brode gehörten den Priestern, welche davon unter gewissen gesetzlichen Voraussetzungen, in Nothfällen auch Andern, die nicht dem Stamme Levi angehörten, darreichen durften. Auch David war in diesem Falle, und nahm die ihm dargebotenen Brode dankbar entgegen.

Bekanntlich sah nach Matth. 12. Christus einmal auf diesen Vorgang, die geschichtliche Wahrheit desselben bestätigend, zurück, indem er den Pharisäern, welche den Jüngern es zum Vorwurf machten, daß sie zur Stillung ihres Hungers am Sabbath Aehren ausgerauft hatten, entgegnete: „Habt ihr nicht gelesen, was David that, da ihn und die mit ihm waren, hungerte? Wie er in das Gotteshaus ging, und aß die Schaubrode, die weder ihm noch denen ziemten zu essen, welche (nach Davids Aussage) mit ihm waren, sondern allein den Priestern?“ Der Herr wies den Pharisäern damit nach, daß auch schon unter der Haushaltung des Gesetzes mit göttlicher Genehmigung das Sabbathgebot vor einer Lebensgefahr zurückgetreten, und daß, wo es die Rettung einer Menschenseele gegolten, die Abweichung von einer levitischen Ordnung vor Gott nicht in Rechnung gebracht worden sei. Sie sollten aber bei dieser Gelegenheit auch noch Wichtigeres vernehmen, nehmlich daß im neuen Bunde die levitische Satzung, die nur einen Schatten des nunmehr erschienenen Wesens enthalten habe, die frei gewordenen Kinder des Himmelreiches nicht mehr binde. „Ich sage euch,“ schloß der Herr seine Rede, „daß hier Der ist, der auch größer ist, denn der Tempel. Wüßtet ihr, was das sei: Ich habe Wohlgefallen an der Barmherzigkeit und nicht am Opfer, so hättet ihr die Unschuldigen (meine Jünger) nicht verdammt. Des Menschen Sohn ist ein Herr auch über den Sabbath.“ Ein erhabenes höchst bedeutsames Wort dies, das gleich einem Blitzstrahl aus der Höhe beleuchtend über den ganzen Reichsplan Gottes hinzuckte! Des Wortes Sinn ist dieser: die alttestamentliche Oekonomie ist aufgehoben und abgethan, weil sie in der neutestamentlichen verwirklicht und erfüllt, vergeistigt und verklärt ist.

Nachdem David an dem heiligen Brode sich gestärkt, fragt er, indem er leider! seine Vorspiegelung weiter spinnt, ob der Priester ihm nicht zu einem Spieße oder Schwert verhelfen könne, weil er der Eile halber, mit der der König ihn seinen Auftrag ausrichten geheißen, seine Waffen habe zurücklassen müssen. Ahimelech erwiedert: „Das Schwert des Philisters Goliath, den du im Eichgrunde schlugst, ist hier. Dort hängt es als Denkmal deines Sieges in einen Mantel gehüllt, und mit dem Ephod, dem priesterlichen Brustkleide, zugedeckt. Willst du dasselbe, so nimm es; denn ein andres befindet sich hier nicht.“

David sprach: „Reiche mir's her; denn es findet sich nicht weiter seines Gleichen.“ Der Priester übergab es ihm. Einst genügte unserm Helden allein die Hirtenschleuder; jetzt bittet er um das Schwert, das selbst demjenigen nicht half, für dessen Riesenfaust es geschmiedet war, und nennt es obendrein ein Schwert „ohne Gleichen,“ als wäre der Sieg an eine Waffe geknüpft und nicht allein an den Arm des Herrn. Armer David! Aber Geduld; der Herr wird ihn schon in die rechte Fährte wieder zurückzulenken wissen!

Zu derselben Zeit, als dies zu Nob geschah, saß in dem heiligen Zelte ein Mann verborgen mit Namen Doeg, ein Edomiter, der Knechte des Königes einer. Saul hatte ihn mit der Oberaufsicht über die Königlichen Heerden und Hirten betraut. Dieser Gast war ein stummer Zeuge alles dessen, was zwischen dem Flüchtling aus Gibea und dem Hohenpriester verhandelt ward. Aus welchem Grunde er sich in der heiligen Hütte aufhielt, ob als Proselyt, oder ob irgend eines Gelübdes halber, wird nicht gemeldet. Genug, seine Anwesenheit bedeutete weder dem Hohenpriester, noch dem hohen Schützlinge desselben etwas Gutes. Er gab die nächste Veranlassung zu einem großen Unheil, das über Beide hereinbrechen sollte.

Ueber dem Haupte Davids grollte bereits das Wetter in nächster Nähe. Von allen Seiten umschlichen ihn schon bewaffnete Späher. Als ihm Kunde davon ward, entfloh er, weil er in Israel sich nirgends mehr sicher glaubte, in Feindesland. Er begab sich, wie schwer es ihm ankommen mochte, in den Schutz des Philisterköniges Achis, der, wie die Philisterkönige alle, zugleich den Namen Abimelech, d. i. „Königsvater“, gleichbedeutend mit „Haupt des Herrscherhauses“, trug, und zu Gath, der Geburtsstadt Goliaths, Hof hielt. Wahrscheinlich dachte er, es werde, was er einst den Philistern zugefügt, weil schon eine geraume Zeit darüber hingeflossen, bereits vergessen, oder doch verschmerzt sein. Vornehmlich aber gründete er seine Hoffnung auf das Gastrecht, wie es im Morgenlande überall in hohem Ansehn stand, und selbst Feinden gegenüber treu beobachtet zu werden pflegte. Aber er täuschte sich in dem einen wie in dem Andern. Nicht lange währte es, als er die Diener des Achis schon sich einander zuflüstern hörte: „das ist der David, des Landes König, von dem sie im Reigen sangen: „Saul schlug Tausend, David aber Zehntausend.“ Und immer gefahrdrohender sah er die Aufmerksamkeit seiner Umgebung auf sich gerichtet, und hörte mit immer gehässigerer Betonung seinen Namen nennen und seine einstige Großthat verlästern. Auch des Königes Stirn begann sich zusehends zu verfinstern. Unglücklicher Flüchtling, wo geriethest du hin? Ein neuer Irrgang war's, in den du dich verlorst. Sank denn der Hüter Israels etwa in Schlummer, daß du bei den Altären Dagons und der Astharroth das Asyl zu suchen dich genöthigt sahst, welches du in dem Lande, das der Gott deiner Väter sich zur Stätte seiner Verherrlichung ausersehen, nicht mehr zu finden wähntest? Siehe, der Allmächtige, der die Ehre seines Namens keinem Andern geben will, und von welchem Moses bezeugte: „Der Herr ist ein Eiferer,“ hat dir zu deiner Demüthigung im Zorn seiner Liebe zu diesem deinem feigen Schritte einen Augenblick die Zügel schießen lassen, und die Aengste, die in der wetterschwülen Luft, die du jetzt athmest, dich befallen, magst du schon für einen Theil der Strafe erachten, der du dich durch dein kleinmüthiges und unlauteres Verhalten zu Nob schuldig machtest! - So etwa möchten wir dem Verirrten zurufen, um ihn aus seinem beklagenswerthen Taumel aufzuwecken. Aber Aehnliches sagt ihm wohl auch schon das eigne Gewissen, und dennoch gewinnt er die verlorene Haltung noch nicht wieder.

Was ereignet sich? Als er seine Lage immer unheimlicher werden sieht, und aus der Wolke, die sich über seinem Haupte zusammengezogen, allaugenblicklich den hervorzuckenden Blitzstrahl, der ihn zerschmettern werde, erwarten zu müssen glaubt, nimmt er seine Zuflucht zu einer neuen List, und leider! zu einer noch bedenklicheren und unverzeihlicheren, als die frühere war. Vielleicht um Mitleid zu erregen, und dadurch/ seine Errettung aus der peinlichen Lage, in der er sich befindet, anzubahnen, stellt er sich wahnsinnig, verzerrt seine Geberden, beginnt, als die königlichen Diener ihn greifen wollen, wie ein Rasender unter ihren Händen zu kollern und sich zu bäumen, und kritzelt, während ihm der Geifer in seinen Bart trieft, räthselhafte Schriftzüge auf die Thorflügel. Alles steht entsetzt; aber er erreicht seinen Zweck. „Ihr seht,“ schreit Achis, „der Mann ist von Sinnen, warum brachtet ihr ihn zu mir? Habe ich,“ fügt er mit höhnischen Seitenblicken hinzu, „der Irrsinnigen zu wenige unter meinen Leuten, daß ihr noch diesen mir zuführtet, damit er in meiner Gegenwart rase? Sollte ich ihn in meinem Hause dulden?“ Er sprichts und gibt Befehl, daß man den Elenden, der den Philistern wohl niemals mehr werde gefährlich werden, ohne Verzug über die Grenze schaffe.

Manche Ausleger wollen in jenem erschütternden Parorismus Davids nicht eine Verstellung, sondern einen wirklichen Anfall von Wahnsinn oder Fallsucht erblicken, der, wenn auch vorübergehend, theils durch die Furcht, hier eines ruhmlosen Todes sterben zu müssen, theils durch die wurmende Reue über seinen Irrgang, welche in seinem Innern wühlte, herbeigeführt worden sei. Und allerdings scheint diese Ansicht an dem Umstande eine Stütze zu finden, daß es doch kaum denkbar ist, wie Jemand sich willkürlich in einen Zustand sollte versetzen können, wie der, welcher uns hier beschrieben wird. Indeß spricht für unsere Auffassung nächst einer uralten jüdischen Ueberlieferung dies, daß in dem gesunden, kräftigen Leben Davids nirgends sonst ein Zug uns begegnet, der auch nur entfernt auf eine Nervenschwäche deutete, oder gar auf eine Anlage zu krampfhaften Zufällen schließen ließe. Daß damals gewaltige innere Stürme den Mann durchtobten, erhellt, allerdings schon daraus, daß er sich überhaupt bis zur Wahl eines so grausenhaften und sündlichen Rettungsmittels, wie jene Verstellung war, vergessen konnte. Möglich freilich wäre es, daß Gott der Herr, was David nur zu erheucheln beabsichtigte, zur Züchtigung seines verirrten Knechts für Augenblicke zu schrecklicher Wirklichkeit hatte werden lassen. Dies angenommen, würden beide Ansichten von jenem schauerlichen Vorfall sich vereinigen lassen. Uebrigens verfuhr der Herr dennoch glimpflich mit David, indem er ihm sein in keinerlei Weise zu rechtfertigendes Vornehmen wirklich zur Rettung gedeihen ließ. Hierfür hatte aber der Sohn Isais lediglich die freie Gnade seines Gottes zu preisen, an welcher Anerkennung er es auch nachmals durchaus nicht hat fehlen lassen.

Immer bleibt es für Gläubige eine bedenkliche Sache, in ihren Nothständen zum Schutz und zur Hülfe der Kinder dieser Welt ihre Zuflucht zu nehmen. Abgesehen davon, daß sie nur zu leicht im Kreise solcher Wohlthäter und Retter das Gleichgewicht verlieren, und, um deren Gewogenheit buhlend, der Versuchung erliegen, ihren Glauben zu verleugnen und in Wort und Wandel der Welt sich gleich zu stellen, bereiten sie jenen einen heimlichen Triumph daraus, daß sie, die sich so gerne die „Auserwählten“ zu nennen pflegten, wenn Noth an Mann gehe, mit ihrem Gott und seiner Hülfe allein nicht auszureichen wüßten, sondern sich gern herzuließen, die Hülfsbereitschaft derer anzurufen, denen sie sonst den Brudernamen nicht zugeständen. Niemals wird es ihnen auch gelingen, die Feinde ihres Glaubens durch erkünstelte Anbequemung an sie und ihre Lebensformen sich wirklich zu versöhnen, da nach dem bekannten Ausspruche Gottes die Feindschaft zwischen denen, die „nach dem Fleisch“, und denen, die „nach dem Geist geboren“ sind, „gesetzt“ ist, und wohl mit mancherlei holden Guirlanden der Höflichkeit und Zuvorkommenheit bedeckt, aber, selbst wenn auch in den Herzen der Geisteskinder die allgemeine Liebe das Scepter führt, nicht eher aufgehoben werden kann, als bis die wiedergebärende Gnade aus Zweien Eins gemacht hat.

Unter den Davidischen Psalmen befinden sich zween, in denen der heilige Sänger auf seine traurigen Erlebnisse zu Nob und zu Gath zurückschaut. Von den ersten Reuethränen, welche über die Verirrungen, die er sich an jenen Orten zu Schulden kommen ließ, ohne Zweifel stromweise von seinen Augen flossen, würden nur, wäre ihnen ein Mund dazu verliehen, die Wände irgend eines verborgenen Kämmerleins uns Kunde geben können. Als David die erwähnten beiden Psalmen sang, hatte ihm die göttliche Gnade die Thränen bereits getrocknet. Der Grundton jener Lieder ist Dank für erfahrene Huld und Errettung. Wer aber ein Auge dafür hat, gewahrt, daß auch sie noch von Zähren feucht sind, und wird in des Sängers Herzensergüssen die wehmuthsvollsten Erinnerungen an das einst Verschuldete und Verfehlte nicht verkennen können.

Den 34. Psalm eröffnet David mit einer Lobpreisung Gottes, der ihn von seinen Sorgen und Aengsten gnädiglich erlöset habe. „Welche ihn ansehn,“ spricht er, „und anlaufen,“ (statt Fleisch für ihren Arm zu halten,) „werden nicht zu Schanden werden. Da dieser Elende rief,“ (der Elende ist er selbst,) „hörete der Herr, und half ihm aus allen seinen Nöthen. Der Engel des Herrn lagert sich um die her, so ihn fürchten,“ - (ach, wie tief hatte der Sänger diese Wahrheit sich einst verdunkeln lassen! -) „und hilft ihnen aus.“ - Hierauf beschwört er alle seine Mitpilger, daß sie doch ja den Herrn fürchten möchten, indem es ihnen dann an keinem Guten mangeln werde. Ebenso traulich, als andringend ruft er nach diesem ihnen zu: „Kommt her, Kinder, und höret, ich will euch die Furcht des Herrn lehren,“ und das Erste, was er ihnen einschärft, ist dies, daß sie ihre Zungen vor dem Bösen bewahren, und ihre Lippen hüten möchten, daß sie nicht Trug redeten. Er warnt vor der Heuchelei, deren er sich selbst einst zu seinem Unheil vor Ahimelech und vor Achis in so gröblicher Weise schuldig machte. „Die Augen des Herrn,“ fährt er fort, „sehen auf die Gerechten, und seine Ohren merken auf ihr Schreien“ - ist es nicht, als tönte durch, diese Worte uns der Seufzer an: „Ach, wäre mir doch, was ich sage, jederzeit gegenwärtig geblieben!“ „Das Angesicht des Herrn,“ lesen wir weiter, „ist wider die, so Böses thun;“ - aus eigner bitterer Erfahrung spricht er dies, wenn auch das, was er hinzufügt: „daß er ausrotte von der Erde ihr Gedächtniß,“ ihn nicht getroffen, obwohl es ihn, wie ihm sein Gewissen sagt, von Rechts wegen hätte treffen müssen. Weßhalb es ihn nicht traf? Er antwortet selbst: „Der Herr ist nahe bei denen, die zerbrochenen Herzens sind, und hilft denen aus, die zerschlagenes Gemüth haben. Der Gerechte muß viel leiden, aber der Herr hilft ihm aus dem Allen. Der Herr erlöset die Seele seiner Knechte, und Alle, die auf ihn trauen, werden keine Schuld haben.“

Köstliche Früchte also, die unter dem Segen der göttlichen Barmherzigkeit dem Sohne Isais aus den betrübten Vorgängen zu Nob und Gath erwachsen mußten: eine gründlichere Selbsterkenntniß, eine tiefere Herzensdemuth vor dem Herrn aller Herrn, und ein verstärktes Vertrauen zu dessen Gnade und Treue.

Der 56. Psalm, der den David als „eine Taube“ bezeichnet, die unter „Fremde“ sich verflogen habe, scheint den Ereignissen, auf die er sich bezieht, der Zeit nach noch näher zu liegen, als der 34. ist in letzterem der Grundklang Preis und Dank, so herrscht in jenem noch der Seufzer um Hülfe und Errettung vor. Unverkennbar entstand dieser Psalm noch auf Davids Flucht aus Gath und dem Philisterlande, David hat seine Irrgänge mit tiefem Schmerz erkannt, und mit vollem Ernst gerichtet, und schreit nun zum Herrn um Bewahrung vor den Nachstellungen seiner vielen Feinde. „Gott, sei mir gnädig,“ beginnt er; „denn es schnauben nach mir meine Widersacher immerfort.“ Doch will er nicht mehr verzagen. „Wenn ich mich fürchte, so hoffe ich auf dich. Gottes Wort will ich rühmen,“ (d. h. auf seine Verheißungen will ich trauen). „Was sollte Fleisch mir thun?“ - Hierauf folgt eine Schilderung der Verstocktheit und der Ränke seiner Widersacher, und dann die Bitte: „Wirf sie nieder; aber zähle (nimm in Acht) meine Flucht und fasse meine Thränen in deinen Sack.“ „Ja,“ fährt er mit wachsender Zuversicht fort, „du zählest sie.“ Seine Gewißheit, daß Gott ihn erhören werde, steigert sich. „Meine Feinde werden zurückkehren müssen, wenn ich rufe. Das weiß ich, daß du mein Gott bist. Ich will rühmen Gottes Wort, rühmen will ich das Wort des Herrn. Auf Gott vertraue ich; was können mir Menschen thun?“ Der Sänger schließt mit dem Gelübde, daß er dem Herrn die schuldigen Dankopfer bezahlen werde. „Denn,“ spricht er, „du errettest meine Seele vom Tode, meine Füße vom Gleiten,“ (d. i. du stelltest, nachdem ich so kläglich gewankt, meine Füße wieder fest,) „daß ich nun“ (gewisseren Schrittes,) „wandeln mag vor Gott“ (unter Gottes gnädigem Aufsehn) „im Lichte der Lebendigen.“

O, des herrlichen Gewinnes, der dem Sohne Isais durch Gottes Gnade nicht allein aus seinen Leiden, sondern selbst aus seinen schwersten Verirrungen zuwuchs! Möge es einem Jeden gegeben sein, gleicher Weise auch von den Dornen Trauben und von den Disteln Feigen lesen zu können!

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/k/krummacher_f.w/david/krummacher_david_8.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain