Hansen, Hans Nicolai - Predigt zur Wahl an der St. Johanniskirche in Flensburg am 11. Okt. 1867.

Hansen, Hans Nicolai - Predigt zur Wahl an der St. Johanniskirche in Flensburg am 11. Okt. 1867.

Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters, und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns Allen! Amen.

Vernehmt mit Andacht das vorgeschriebene Gotteswort, wie es aufgezeichnet steht: Röm. 3,28:

So halten wir es nun, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.

Wie freue ich mich, Geliebte in dem Herrn, als ein Bote Jesu Christi gerade mit diesem Apostelwort heute auftreten zu dürfen in eurer Mitte. Kaum ein anderes Gotteswort würde, wie dieses, im Stande sein, euch den Maßstab darzubieten, nach dem ihr unter den Männern, die heute öffentlich vor euch auftreten, euren zukünftigen Prediger und Seelsorger zu bemessen habt, euch eine klare und bestimmte Antwort zu geben auf die Frage, die ihr an einen Jeden von ihnen zu richten das Recht und die Pflicht habt: Wer bist du? Was bringst du uns? Was haben wir von dir zu erwarten? Denn dieses Wort enthält in sich das Haupt- und Grundbekenntnis unserer evangelischen Kirche. Es ist die Krone unseres evangelisch-lutherischen Bekenntnisses geworden. Ja, das ist die Quellader, aus welcher von Anfang an bis heute die Ströme evangelischen Lebens und Segens sich durch die Menschheit ergießen; das ist der evangelische Glaubensgrund, auf welchem die Bauleute Jesu Christi im Lauf der Jahrhunderte bauen die Behausung Gottes im Geist; das ist das warme, lebensvolle Herz in unserm evangelischen Gemeinwesen aller Orten, in welchem alle Pulse kräftig schlagen, in welches alle Adern zusammenlaufen und zusammenfließen. Von da an, wo der Apostel Paulus in diesem grundlegenden, kernhaften Brief die Entwicklung des Heilsweges eröffnet hat mit dem glaubensmutigen, herzerfreuenden Bekenntnis: „Ich schäme mich des Evangelii von Christo nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben“ (Röm. 1,16) von da an ist dies Wort gleichsam der Mittelpunkt seiner ganzen Glaubenslehre, eine kurze Zusammenfassung seiner mächtigen und gewaltigen Gedanken über des Menschen Stellung zu Gott, über sein gegenwärtiges und zukünftiges Heil, über sein zeitliches Glück und seinen ewigen Frieden, gleichsam Kern und Stern der ganzen Lehrentwickelung seines Briefes, der Grundgedanke, mit dem alle andern Gedanken zusammenklingen und in dem sie ihren kürzesten und treffendsten Ausdruck bekommen.

Aber lauten die Worte auch wirklich so? Hat Luther bei der deutschen Übersetzung nichts willkürlich hineingelegt und den Ausdruck einseitig verschärft? Ich meine das Wörtlein „allein.“ „Ich hab' wohl gewusst, sagt Luther, dass im Text das Wort „allein“ nicht steht, aber die Meinung des Textes hat es in sich, und wo mans will klar und gewaltig verdeutschen, so gehört's hinein. - Der Text und die Meinung Pauli fordern und erzwingen es mit Gewalt. Denn er behandelt ja das Hauptstück christlicher Lehre, nämlich dass wir durch den Glauben an Christum, ohne alle Werke des Gesetzes, gerecht werden, und schneidet alle Werke so rein ab, dass er auch spricht: des Gesetzes (das doch Gottes Gesetz und Wort ist) des Gesetzes Werke helfen nicht zur Gerechtigkeit.“ Und Luther hat Recht. Dadurch eben ist es für uns ein Wort göttlichen Lichtes und Trostes!

Es gibt viele Sorgen und Fragen, welche das menschliche Herz bewegen und in zitternde Spannung und Erwartung versetzen in jeder Zeit. Unsere Zeit ist namentlich solcher Sorgen und Fragen voll. Es sind Fragen der verschiedensten Art, verschieden nach der Eigentümlichkeit des Herzens und Lebens, nach Stellung und Beruf in der Welt, Sorgen der Gegenwart und der Zukunft, um das Nahe und Ferne, um Handel und Wandel, um Wohlsein und Gedeihen des Hauses oder des Gemeinwesens, um Sicherstellung und Vermehrung des zeitlichen Erwerbs. Sie sind uns Allen nicht fremd, sie bewegen auch dieses Land, diese Stadt, diese Gemeinde. Ihr seid ja gewohnt, nicht bloß auf das Nächste zu sehen, sondern auch in die Ferne, eure Gedanken erstrecken sich über Länder und Meere, richten sich auf Schifffahrt und Handel, so bringt es euer Beruf mit sich. Diese Sorgen und Fragen sind auch keineswegs unberechtigt, sie haben ihren Wert und ihre tiefe Bedeutung für das menschliche Leben. Aber die Hauptfrage sind sie alle nicht. Die Hauptfrage für uns Alle, wir mögen Beruf und Stellung haben im Leben, welche wir wollen, die Hauptfrage, welche überall bald leiser bald lauter bei einem jeden Menschen aus der Tiefe des Herzens hervortönt, ist die: Wie komme ich zu Gott? Wie gewinne ich Frieden für meine unsterbliche Seele? Wie wird ein Mensch in Wahrheit gerecht und selig? Die Hauptsorge im ganzen Leben, das Hauptanliegen eines jeden Menschen ist in der Frage enthalten: Was soll ich tun, dass ich selig werde? Die Frage aller Fragen ist die: Was ist, o Mensch, dein einiger Trost im Leben und im Sterben?

Geliebte, teure Mitchristen! Ist es euch mit dieser Frage ein heiliger Ernst: hier ist die Antwort. Sie ist kurz und einfach, aber klar und gewiss. Seit der Apostel Zeit hat es keine andere gegeben; sie ist wieder in ihr göttliches Recht eingetreten durch die deutsche Reformation; seit dem Wiedererwachen unserer Kirche zu neuem evangelischen Leben ertönt sie kräftiger und entschiedener in unsern Gemeinden; auch für unsere Zeit und uns Menschen dieser Tage gibt es keine andere als diese: „So halten wir es nun, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Fragt uns ein Wanderer nach der Richtung des Weges, den er einschlagen soll, um sein Ziel zu erreichen, so werden wir ihn ja nicht aufs Ungewisse weisen, wir werden ihm eine deutliche und bestimmte Antwort geben. Und wir sind Alle Wanderer, Pilger nach der vor uns liegenden Heimat. Darum sollen wir einander Antwort geben und von einander Antwort empfangen. So will ich denn auf Grund dieses Gotteswortes, so gut ich vermag, euch Antwort zu geben versuchen auf die Haupt- und Lebensfrage unser Aller und euch den Weg zeigen, der uns gemeinsam zur himmlischen Heimat führen soll. Möge der Herr durch Seinen Geist meine Gedanken leiten und meine Lippen salben zur Ehre Seines allerheiligsten Namens!

Ich sage: Der evangelische Heilsweg: Aus Gnaden durch den Glauben an Jesum Christum!

  1. Warum ist das der evangelische Heilsweg?
  2. Wohin führt er uns und
  3. was gibt er uns, wenn wir auf ihm wandeln?

Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre, um deine Gnade und Wahrheit! Amen.

I.

„Aus Gnaden durch den Glauben an Jesum Christum!“ Das, Geliebte, ist der evangelische Heilsweg, wie der Apostel in unserm Text ausdrücklich sagt: „So halten wir es nun, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Es ist der evangelische Heilsweg darum, weil er in dem ganzen Evangelio Jesu Christi uns bezeugt wird als der Weg zur Rechtfertigung und Seligkeit. Von dem Evangelio hat dieser Weg seinen Namen. Das Evangelium ist die frohe Botschaft von Christo Jesu, unserm einigen Heilande und Seligmacher. Denn es ist in keinem Andern Heil, und ist uns Menschen kein anderer Name gegeben, darinnen wir sollen selig werden. Dieses Evangelium tönt uns Menschen schon entgegen im alten Bunde, in den Weissagungen der heiligen Propheten. Paulus sagt im ersten Anfang dieses Briefes: „Jesus Christus hat mich berufen zum Apostel und ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes, welches er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der heiligen Schrift“ (Kap. 1,1.2.). Johannes der Täufer hat mit seiner Bußpredigt dem vollen Eintreten dieses Evangeliums in die Welt den Weg gebahnt, indem er seinen Zeitgenossen zurief: „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium.“ (Mark. 1,15.). Jesus Christus hat es selbst in den Tagen seines Erdenwandels mit eigenem göttlichen Munde verkündigt dem auf ihn harrenden Geschlecht: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingebornen Sohn gab, auf dass Alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Seine Apostel sind in Seinem Namen und auf Seinen Befehl mit diesem Evangelium in des Geistes Kraft hinausgegangen in die Welt und haben den Juden und Heiden gepredigt den gekreuzigten und auferstandenen Heiland zur Gerechtigkeit und Seligkeit. Sie haben Alle gepredigt die Gerechtigkeit aus Gnaden durch den Glauben an Jesum Christum. „Aus Gnaden seid ihr selig geworden durch den Glauben; und dasselbige nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus den Werken, auf dass sich nicht Jemand rühme“ (Eph. 2,8.9.). Es ist eine Übereinstimmung aller Zeugen Jesu Christi, ein Zusammenklang der ganzen heiligen Schrift von Anfang bis ans Ende.

Das Evangelium aber von der Gnade Gottes in Christo weist auf Den hin, der sein lebendiger Inhalt ist, in welchem das Evangelium eine persönliche Gestalt gewonnen hat in der Welt, auf Jesum Christum, unsern Heiland. Denn das Evangelium Gottes zu unserer Seligkeit ist nicht bloß eine göttliche Lehre, sondern zugleich ein göttliches Leben. Wohin das Evangelium kommt, dahin kommt auch Jesus Christus, den es verkündigt und der nimmer von ihm kann getrennt werden. Er ließ seine Ankunft voraus verkündigen durch die Vorboten in der Morgendämmerung des alten Testaments; er trat in der Fülle der Zeit als der zweite Adam, als der Erneuerer des menschlichen Geschlechtes, als das Licht und Leben hinein in die Finsternis dieser Welt; seine Geburt war eine neue herrlichere Schöpfung in unserer sündigen Menschheit. „Wer mich sieht, der sieht den Vater“, konnte er sagen; „Ich und der Vater sind eins.“ (Joh. 10,30.). Aus tiefer, göttlicher, erbarmender Liebe ließ er sich von seiner himmlischen Herrlichkeit und Seligkeit herab in unsere irdische Armut und Niedrigkeit und Sündennot; Er, der Sohn Gottes und wahrhaftiger Gott von Ewigkeit her, nahm unsere Menschheit an, unser Fleisch und Blut und wurde unser Bruder, um uns zu erlösen. Er führte ein heiliges, sündloses Leben unter einem entarteten, von Gott abgefallenen Geschlecht; er ging umher inmitten seines Volks, unter dem er erschienen war, und tat Allen wohl, heilte ihre Kranken, tröstete ihre Betrübten, weckte ihre Toten auf. Er suchte in namenloser, rettender Liebe die verirrten und verlorenen Sünder auf und ging ihnen nach, und aß mit den Zöllnern und Sündern. Als der gute Hirte war er bereit, in hingebender Liebe sein Leben zu lassen für seine Schafe. Und er hat es ausgeführt - er hat getan, was selbst die heißeste Vater- und Mutter-Liebe kaum zu denken vermag; er hat freiwillig den schmerzensvollsten und grauenhaftesten Tod auf sich genommen, um unwürdige, verlorene Sünder zu erretten; er starb den Tod eines Missetäters am Holze des Fluches für uns und betete noch am Kreuze um Gnade und Vergebung für seine Mörder. Auf Ihn würde unsere Sündenschuld gelegt, er hat sie getragen und gebüßt. Dadurch wurde Sein Tod für uns eine Versöhnungstod und seine Aufgabe in der Welt war, uns Gerechtigkeit bei Gott und eine ewige Erlösung zu erwerben. „Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“. (2 Kor. 5,21.) Auf diesen Manu möchte ich eure Gedanken hinlenken, Geliebte; Ihm möchte ich eure Herzen zuwenden. Sein Seelenkampf im Garten Gethsemane, sein Marterweg zum Kreuze, seine Kreuzesnot; siehe, da liegt unsere Gerechtigkeit! Eines wünsch' ich mir vor allem Andern, Eine Gabe früh und spät;

Selig lässt's im Tränental sich wandern,
Wenn dies eine mit uns geht:
Unverrückt auf diesen Mann zu schauen,
Der voll blut'gem Schweiß und Todesgrauen
Auf sein Antlitz niedersank
Und den Kelch des Vaters trank.

Ja, Sein heiliges Leben, Sein versöhnendes und erlösendes Sterben ist der Grund unserer Gerechtigkeit; einen andern Grund kann Niemand legen. Er ist das persönliche Evangelium in der Welt, sein blutiges Verdienst, seine göttliche Gerechtigkeit ist der Grund unseres ewigen Heils. Jesus Christus ist selbst der Heilsweg, der Weg, die Wahrheit und das Leben; Niemand kommt zum Vater, denn durch ihn. Das der evangelische Heilsweg: Aus Gnaden durch den Glauben an Jesum Christum!

Aber musste es denn so sein? Konnte es keinen andern, keinen leichteren, unseren natürlichen Gedanken und Wünschen mehr zusagenden Weg geben, um zu Gott zu kommen und Frieden der Seele zu erlangen, als diesen Weg des Leidens, Kreuzes und Todes Jesu Christi, des Sohnes Gottes? Es gibt ja doch noch einen andern Weg, der nicht bloß von Menschen ersonnen, sondern in dem Worte Gottes gewiesen und begründet ist; ich meine den Weg des Gesetzes. Das Gesetz Gottes, der Weg seiner heiligen Gebote, er ist doch auch von Gott, er führt doch auch zum Heil und Leben; er ist so alt, ja älter noch als das Evangelium selbst! - Ja, Geliebte, auch das Gesetz ist Gottes reines lauteres Wort, auch die heiligen göttlichen Gebote kommen von ihm. Schon das erste Wort Gottes an den geschaffenen Menschen im Paradiese war ein Gebot. Gottes Gebote sind mit unvertilgbarer Schrift eingeschrieben in der Menschen Herzen und Gewissen. Er hat später seine heiligen Gebote, in kurze Sprüche und deutliche Worte gefasst, vom Berge Sinai herab uns Menschen gegeben. Sie gelten noch heute, sie stehen für alle Menschen und alle Zeiten in voller ungebrochener Kraft. „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte. Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben, als dich selbst.“ Jesus sagt: Tue das, so wirst du leben! Aber das ist eben die Sache: der Mensch tut es nicht und hat es niemals getan. Moses schreibt wohl von der Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt: Welcher Mensch dies tut, der wird darinnen leben; aber wer unter allen Sterblichen hat es denn getan? welcher Mensch hat im Gesetz das Leben empfangen? - Blicken wir hin auf den Mann, in welchem das Wesen und die Kraft des Gesetzes sich abspiegelt wie ein verzehrendes Feuer - auf Paulus vor seiner Bekehrung. Er war, wie er selbst bekennt, nach dem Gesetz ein Pharisäer, welches ist die strengste Sekte des jüdischen Gottesdienstes, nach der Gerechtigkeit im Gesetz unsträflich; er meinte es gewiss aufrichtig mit den Geboten Gottes und dem Heil seiner unsterblichen Seele; er eiferte um Gott, aber mit Unverstand; bis zum blinden, blutigen Verfolgungseifer gegen Jesum und seine treuen Bekenner verirrte er sich auf diesem Wege. Er suchte auf dem Wege und durch die Werke des Gesetzes Gerechtigkeit von ganzem Herzen, aber er fand keine Gerechtigkeit und keinen Frieden, bis er als ein überwundener Feind dem gekreuzigten und auferstandenen Heilande, den er bis in den Tod gehasst hatte, zu Füßen sank mit der Frage: Herr, was willst du, dass ich tun soll? - Betrachtet einen andern Mann, der mit dem Feuereifer eines Paulus seine Gerechtigkeit suchte mit aller Treue und Gewissenhaftigkeit auf dem Wege des Gesetzes, bis ihm Leib und Seele verschmachteten: Martin Luther vor seiner Erleuchtung. Er suchte Abbüßung seiner Sünden, Erledigung von seiner Schuld auf allen Wegen, die nur das Gesetz vorschreiben kann: durch Mönchs- und Klosterdienst, durch Fasten und Beten, durch Selbstkasteiung und Leibesertötung, durch Weltentsagung und gute Werke allerlei Art Lauter Werke des Gesetzes, um eine eigene Gerechtigkeit aufzurichten. Hat er dadurch Gerechtigkeit und Frieden gefunden? O nein, es vermehrte nur die innere Angst seiner Seele, es trieb ihn bis an den Rand der Verzweiflung über seine ungetilgte Sündenschuld, bis ihm das Gotteslicht und der Gottestrost aufging in dem Worte des Evangeliums: „Der Gerechte wird seines Glaubens leben!“ bis er ausrufen lernte mit Paulus: „So halten wir es nun, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“

O Geliebte! Es ist ja nichts Neues. Tausende und aber tausende treue Heilsbegierige Seelen haben es schon versucht; wir können es Alle erfahren und erleben, wenn wir nur ernstlich wollen. Je aufrichtiger es der Mensch mit Gott und seiner eigenen Seele meint, je treuer er sucht, je eifriger er ringt, desto weniger findet er Gerechtigkeit und Frieden auf dem Wege und durch die Werke des Gesetzes. Es soll nur Einer es mit ganzem Ernst und aus allen Kräften versuchen, auch nur einen Tag alle seine Gedanken, Worte und Werke allein dem Herrn und seiner Ehre zu weihen, auch nur Einen Tag Gott, seinen Herrn, über alle Dinge zu lieben und seine Brüder als sich selbst; er wird bald inne werden, dass er hinter dem hohen herrlichen Ziele der Gebote Gottes weit zurückgeblieben; es kann nicht ausbleiben, er muss es erkennen, dass er ein Sünder ist und verdammlich vor Gott. Alle menschliche Tugend und Selbstgerechtigkeit ist nur ein blasser Schatten ohne die Kraft und Gnade des Evangeliums; unsere besten Werke, unsere rastlosesten Anstrengungen, unsere treueste Aufopferung im Dienste der Menschheit, Ströme von Reue- und Bußetränen, die unsern Augen entquillen - sie können unsere Sündenschuld nicht abwaschen und abbüßen, sie vermögen nicht die verdammende Stimme in unserer Brust zum Schweigen zu bringen, sie vermehren nur die innere Angst und Qual unserer Seele, so lange wir nicht Gnade gefunden haben im Glauben an Jesum Christum. Dieser Weg des Gesetzes und der eigenen Gerechtigkeit prediget die Verdammnis; an seinem Ende steht der Ausruf: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“ Es ist offenbar, dass kein Fleisch durch des Gesetzes Werke vor Gott gerecht sein mag; denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde (v. 20).

Darum eben, meine teuren Freunde, ist es der evangelische Heilsweg allein: „Aus Gnaden durch den Glauben an Jesum Christum!“ den wir hochhalten und rühmen als den wahren Weg zu unserm ewigen Heil. Dieser Weg ist so alt, wie die Gnade Gottes selbst. War das erste Wort Gottes an den geschaffenen Menschen ein Gebot, das erste Wort an den gefallenen sündigen Menschen war eine Verheißung, ein Evangelium. Jesus Christus ist unsere Gerechtigkeit, welcher Friede gemacht hat zwischen Gott und uns in seinem heiligen Blut. Denn Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber, und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu, und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung (2. Kor. 5,19.). Er ist uns von Gott gemacht zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung. „Welcher uns geschenkt hat alle Sünden, und ausgetilgt die Handschrift, so wider uns war, welche durch Satzungen entstand und uns entgegen war, und hat sie aus dem Mittel getan und an das Kreuz geheftet“ (Kol. 2,13.14). Durch Gottes Gnade in Christo ist diese unsere Gerechtigkeit zu Stande gekommen; aus Gnaden wird sie uns in der Predigt des Evangelii angeboten; und der Glaube ist die Hand, mit welcher wir das Verdienst Jesu Christi ergreifen und festhalten.

Aus Gnaden, dieser Grund wird bleiben,
So lange Gott wahrhaftig heißt;
Was alle Knechte Jesu schreiben,
Was Gott in seinem Wort anpreis't,
Worauf all unser Glaube ruht,
Ist Gnade durch des Lammes Blut.

II.

Ist denn das, teure Mitpilger auf dem Wege zur himmlischen Heimat, ist das in Wahrheit der evangelische Heilsweg, der von dem Evangelio vorgeschriebene, im Evangelio uns offenbarte, der in Christo Jesu, dem Kern und Stern des ganzen Evangelii uns gegebene und im Glauben an Ihn zu ergreifende Weg unseres zeitlichen und ewigen Heils: so sollen wir ja auch zu diesem Wege uns halten und auf ihm wandeln. Was hilft es uns, dass wir von ihm lesen und hören, ihn loben und preisen, wenn wir nicht auch mit aller Entschiedenheit ihn betreten und auf ihm unsern Lebenswandel führen? Aber dürfen wir uns ihm auch mit ganzem Herzen anvertrauen? Können wir auch sicher und gewiss, freudig und getrost zu diesem Heilswege unsere Schritte lenken und auf ihm fortwandeln, ohne dass es uns in Zeit und Ewigkeit gereuen möge? Das können wir, geliebte Brüder, und dass wir es können, das werden wir erkennen, wenn wir betrachten: wohin er uns führt und was er uns gibt, wenn wir auf ihm wandeln. Wohin führt uns denn dieser Heilsweg: Aus Gnaden durch den Glauben an Jesum Christum?

Zuerst zur Vergebung unserer Sünden. Denn er weist uns ja zunächst hin auf die vor Gott geltende Gerechtigkeit, ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. Gerecht vor Gott ist der Mensch nur dann, wenn er so ist, wie er sein soll, wie Gott ihn haben will, in allen Stücken angenehm und wohlgefällig dem Herrn. So aber ist keiner unter uns Allen von Natur; wir sind vielmehr allzumal Sünder und mangeln des Ruhms vor Gott, fehlen Alle mannichfaltig, auch die frömmsten und besten. Seitdem die Sünde eingedrungen ist in die Welt, hat Gott Alles beschlossen unter den Unglauben, auf dass er sich Aller erbarme (Röm. 11,32). „Es ist hier kein Unterschied, sagt der Apostel; sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den sie an Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade, durch die Erlösung, so durch Christum Jesum geschehen ist, welchen Gott hat vorgestellt zu einem Gnadenstuhl, durch den Glauben in seinem Blut, damit er die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, darbiete in dem, dass er Sünde vergibt.“ (V. 23 rc.).

Wir sind nicht gerecht, sondern werden gerecht, indem uns zugerechnet wird das Verdienst und die Gerechtigkeit Jesu Christi im Glauben. Der Weg zur Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, führt nur durch die Vergebung der Sünden. Das ist die trostreiche evangelische Predigt, welche der auferstandene Heiland seinen Aposteln in das Herz und auf die Lippen legte, als Er sie aussandte in die Welt, um zu predigen aller Kreatur. Überall wo sie hinkamen, predigten sie in Seinem Namen dem sündigen Geschlecht Vergebung der Sünden im Glauben an Jesum Christum. Das ist auch in unserer Zeit und zu allen Zeiten das köstlichste Gut und der seligste Schatz, den Gott in seine Kirche niedergelegt hat, den er durch seine treuen Boten verkündigen lässt Allen, die danach Verlangen und Sehnsucht im Herzen tragen. Das Gesetz, recht gebraucht, gibt uns Erkenntnis unserer Sünden; das Evangelium aber, recht gebraucht und im Glauben angenommen, führt uns zur Vergebung der Sünden. Wir stehen hier vor einer unergründlichen Tiefe der erlösenden Liebe Gottes zu uns in seinem Sohne, wir blicken hinein in einen Abgrund des göttlichen Erbarmens dessen, der nicht will den Tod des Sünders, sondern seine Rettung und Seligkeit, und können nur demütig anbetend in den Staub sinken und sprechen:

Abgrund, welcher alle Sünden
In Christi Tod verschlungen hat!
Das heißt die Wunden recht verbinden;
Da findet kein Verdammen statt,
Weil Christi Blut beständig schreit:
Barmherzigkeit! Barmherzigkeit!

Wo aber Vergebung der Sünden ist aus Gnaden durch das Verdienst Jesu Christi, da zieht in Folge der Rechtfertigung in unser Herz hinein der Friede mit Gott. „Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott, durch unsern Herrn Jesum Christum“. (Röm. 5,1.) Wir suchen alle den Frieden für unsere Seelen; jeder Mensch trachtet bewusst oder unbewusst nach dem ruhigen Genuss und dem seligen Besitz eines Gutes, das sein Herz stillen und erfreuen kann; aber Viele suchen es auf eigenen Wegen, im Geräusche der Welt, in der Befriedigung ihrer sinnlichen Lüste und Begierden, im Dienste der Sünde, auf dem Wege des Gesetzes und finden es nicht. Den Frieden, der über alle Vernunft ist, erlangen wir erst in der Gewissheit der Vergebung unserer Sünden, in dem sicheren Besitz der Gnade Gottes. Der Mensch findet keine wahre Ruhe, bis er Ruhe findet in dem lebendigen Gott. Ist er gerecht geworden aus Gnaden durch den Glauben, ist seine Schuld ausgestrichen, seine Sünde vergeben um Christi willen: dann hat er Frieden, dann hört das Anklagen und Verdammen seines Innern auf, dann kann er sein Herz vor Gott stillen. Wie Johannes sagt: 1 Joh. 3,19: „Daran erkennen wir, dass wir aus der Wahrheit sind, und können unser Herz vor ihm stillen, dass, so uns unser Herz verdammt, dass Gott größer ist denn unser Herz, und erkennt alle Dinge. Ihr Lieben, so uns unser Herz nicht verdammt, so haben wir eine Freudigkeit zu Gott.“ Dann können wir mit Paulus ausrufen: „Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns.“ (Röm. 8,33 rc.) O wie wünsch ich mir, wie wünsch ich euch Allen diesen Gottesfrieden! Er ist es ja, nach dem im Grunde jedes Menschenherz dürstet; nach ihm sehnt sich jede Menschenseele. Wie unser großer deutscher Dichter sagt:

Der du vom dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest,
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all' der Schmerz und Lust?
Süßer Friede! Gottesfriede!
Komm! ach komm in meine Brust!

Kommt es denn aber gar nicht auf unser Tun und Leben an nach den Geboten Gottes auf diesem evangelischen Wege des Heils? fragen wir. Ja, Geliebte! Es kommt alles darauf an, wenn wir nur erst Gnade und Vergebung der Sünden bei Christo gefunden haben. „Aus Gnaden durch den Glauben!“ Das ist eben die Geburtsstätte der reinen, dienenden, aufopfernden Liebe gegen Gott und die Brüder, die Geburtsstätte unsers ganzen Gott geweihten Wandels, aller unserer Werke. Das Evangelium ist eben eine Gotteskraft in uns, die unser Herz erfüllt mit Luft, Kraft und Freudigkeit, Gott und die Brüder zu lieben von ganzer Seele; der Glaube ist in uns ein neues göttliches Leben in der Liebe und allen guten Werken. „Es ist, sagt Luther, der Glaube ein göttliches Werk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott und tötet den alten Menschen; macht uns ganz andere Menschen von Herz, Mut, Sinn und allen Kräften, und bringt den heiligen Geist mit sich.“ Da geht es nach dem Spruch:

Wo Glaube, da Liebe,
Wo Liebe, da Frieden,
Wo Friede, da Gott,
Wo Gott, keine Not.

Allerdings ist auch dann unser Wandel im Stande der Rechtfertigung und Gnade Gottes kein Zustand vollkommener Heiligkeit und Lebensgerechtigkeit. Wir müssen vielmehr noch mit Paulus ausrufen: „Nicht, dass ich es ergriffen habe oder schon vollkommen sei rc.“ (Philip. 3,12.) Auch als solche, die gerechtfertigt sind durch Gottes Gnade im Glauben, ist unser Christenleben noch lange kein Wandel der Vollkommenen und Heiligen, denn wir fehlen auch dann noch mannigfaltig und sündigen täglich, wenn auch nicht aus Mutwillen und Bosheit, so doch aus Schwachheit unseres Fleisches; auch als Gerechtfertigte können wir straucheln und fallen. Aber Gottes Gnade richtet uns dann wieder auf, tröstet und stärkt aus, und wenn es uns Ernst ist mit dem Wandel auf dem evangelischen Heilswege, erfüllt sie unser Herz immer wieder mit Mut, Kraft und Freudigkeit zum Kampfe gegen die in uns wohnende Sünde. Wir richten unsere evangelischen Waffen nicht gegen Andere, sondern gegen uns selbst; wir schaffen unser eignes Heil mit Furcht und Zittern, auf dass wir bestehen mögen im Gerichte Gottes; wir suchen unsere eigene Besserung zunächst, unsere Förderung auf dem Wege des Heils zur ewigen Seligkeit.

So ist denn des gerechtfertigten und begnadigten Christen Leben in dieser Welt ein fortwährender Kampf; aber es ist durch Gottes Gnade im Glauben an Jesum Christum ein Kampf zum Sieg. Als Pilger Gottes, als Streiter Jesu Christi, als Bürger des Himmels, ist uns der Sieg gewiss, der Sieg im Leben, der Sieg im Leiden und einst im Sterben. „Denn Alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt, und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat!“

Also wollen wir denn halten, teure Mitbrüder und Mitchristen, an diesem echt evangelischen Christenbekenntnis: Aus Gnaden durch den Glauben! Unseres Erachtens ist nicht zu weichen. „Gott wolle nunmehr Beständigkeit verleihen!“ so dachten unsere Vorfahren zur Zeit der Reformation. So wollen auch wir sprechen und handeln. Wir wollen unsere Augen wacker, unser Herz fest und unsern Wandel beständig machen durch Gottes Gnade auf diesem Wege zu unserm ewigen Heil. Es ist kein neuer Weg, es ist der ewig alte und doch junge lebendige Heilsweg. Dieser Heilsweg ist gewiesen und gepredigt worden von dieser Kanzel durch einen teuren Gottesmann, der auch meinem Herzen nahe stand, euch, euern Vätern und Kindern. Er ist nun auf diesem Wege durch Gottes Gnade fortgeschritten zum Sieg, er ist nach langer treuer Arbeit im Dienste seines Herrn aus der streitenden in die siegreiche Himmelskirche eingegangen zur seligen Sabbatsruhe und empfängt seinen Gnadenlohn aus der Hand des Herrn, dem er hienieden in Treue und Segen gedient hat. Wir aber pilgern, leiden und streiten, und haben noch vor uns den letzten Siegeskampf. Aber wir wollen ihm, dem im Frieden Ruhenden, wir wollen unserm teuren Herrn und Heilande zur Ehre geloben: Wir wollen bleiben und dauern! Wir wollen beständig bleiben auf diesem evangelischen Heilswege: Aus Gnaden allein durch den Glauben! Gott helfe uns durch Jesum Christum!

Bei diesem Grunde will ich bleiben,
So lange mich die Erde trägt;
Das will ich denken, tun und treiben,
So lange sich ein Glied bewegt.
So sing ich einstens höchst erfreut:
O Abgrund der Barmherzigkeit! Amen.

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