Hahn, Johann Michael - 3. Betrachtung

Hahn, Johann Michael - 3. Betrachtung

Vom elenden Zustand der Seele unter der Herrschaft der Sünde, und von der Errettung aus derselben durch das ewige Liebeserbarmen.

Text: Ephes. 2,1-10. Lied: III, 63. 359

Welch ein armes, unglückseliges Wesen ist doch ein bloß natürlicher Mensch ohne Wiedergeburtsgnade, ohne ein Leben aus Gott! Er liegt tief im Fall und Verderben. Diesen elenden Zustand erkennen und unter dem grausamen, verderblichen Sündendienst seufzen, ist zwar schon Gnade; aber durch diese auch von der Sündenherrschaft errettet werden, ist noch weit mehr. Geschieht dies, so wird der Mensch aus der Finsternis ins Licht, aus dem Tod ins Leben, aus dem Zorn in die Liebe und aus der Hölle in den Himmel versetzt. Solches vermag aber Gottes Gnadenkraft und Macht allein.

Das ewige Liebeserbarmen Gottes ist unergründlich und an Kraft und Vermögen überschwenglich und unbeschreiblich. Es ist in den Eigenschaften der ewigen Gottesnatur die siegende, die Kraft der Überwindung. Gott hat nach den Rechten der Heiligkeit alles, was Sünde und Finsternis heißt, samt ihrer Mutter, dem Unglauben, unter Gerichte beschlossen; sobald aber diese ihren Zweck erreicht haben, siegt die Erbarmung über die Gerechtigkeit. Die Sünde fällt der Gerechtigkeit anheim; denn sie ist Unglaube. Glaube hingegen ist Gnade, und in dieser siegt das Erbarmen. Diese in Freiheit und Seligkeit versetzende Krafteigenschaft Gottes hat auch uns von dem Sündendienst und von der Sklaverei des Satans errettet; dafür sei der gnädige Gott in Ewigkeit gepriesen!

Die Sünde ist eine mächtige, eine despotische Herrscherin; denn ihre Knechte müssen sich selber verderben und an Leib und Seele ruinieren. Sie rächt sich meist an ihrem eigenen Täter; und darum, dächte ich, sollte es nicht so schwer fallen, einzusehen, daß in ihr der Zorn Gottes herrscht, und wir daher von Natur Kinder des durch den Fall geoffenbarten Zornes Gottes heißen. Wer bis zum tiefsten Seufzen und Sehnen nach Freiheit und Erlösung von der Sünde gerungen hat und errettet worden ist, der kann von der Kraft und Macht der Sünde sagen, aber auch von der noch stärkeren Macht und Kraft der Gnade im ewigen Liebeserbarmen Gottes. Dieses hat in mit der Liebe ergriffen, die an Gefallenen nicht gleichgültig vorübergeht. Auch an uns, schreibt Paulus den Ephesern, hat sich das ewige Liebeserbarmen überwindend und kräftig bewiesen; denn da wir geistlich tot waren in den vielen Sündenfällen, hat uns das kraftvolle Wirken des ewigen Liebeserbarmens mit Christo lebendig gemacht.

Niemand denke aber, daß er um seiner guten Werke, um seines Wohlverhaltens willen so begnadigt worden sei. Nein, äußere Vorzüge retten nicht von der Sündenherrschaft, sondern bloß die Gnade des ewigen Liebeserbarmens Gottes, die durch Anzündung des Glaubens ein neues Leben in uns schafft.

Gnade ist Leben des Erbarmens; denn Erbarmen ist Liebesbewegung im Herzen Gottes oder in der Kraft der Zentralquelle aller Gotteseigenschaften, und das ausdehnende Ergießen dieser Herrlichkeitskraft in Jesu, der Herrlichkeit Gottes, ist Mitteilung der Gnade. Denn Gnade und Wahrheit sind uns durch Jesum Christum und nicht durch Mose gegeben worden. Der Stammvater des geistlichen Lebens soll und wird alle, die in Adam gestorben sind, geistlich beleben; aber Ewigkeiten sind dazu verordnet und bestimmt, in welchen die erbarmenden Lichts- und Liebesabsichten Gottes endlich an allen erreicht werden können. Die Seelen aber, an denen dies schon hier in der Gnadenzeit geschieht, sind Erstlinge der Herrlichkeit. Diese unverdiente Gnade macht klein und demütig, so daß in diesen Auserwählten Gottes ein herzliches Liebeserbarmen gegen alle armen Miterlösten sich regt. Dies ist sodann priesterlicher Sinn und Geist der auserwählten Kinder Gottes. Da, wo Erstgeborne sind, gibt es auch Nachgeborne. Denket darum ja nicht gleichgültig von andern! Wirket auf sie mit Wort und Wandel ein! Seid Lichter der Welt und ein Salz der Erde! Gott hat Gnadenanstalten gemacht, damit er in den auf unsre Zeit folgenden Zeitläufen, wenn nämlich einst wieder alles unter das einzige rechtmäßige Haupt zusammen verfaßt sein wird, den überschwenglichen Reichtum seiner Güte und Gnade kann sehen und endlich auch genießen lassen. Die Gnade, die uns schon hier durch Jesum Christum zuteil geworden ist, wird endlich allen zuteil werden. Aber wie viele Ewigkeiten wird Gott dazu brauchen! Welche Barmherzigkeit ist es doch, daß wir Begnadigte und Erwählte sind! Kann ein armes Menschenkind im Erdenleben dieses Glück hoch und teuer genug schätzen?

Was hast du aber, armes Menschenkind (du habest es durch die natürliche Geburt oder aus Gnaden durch die Wiedergeburt), das du nicht solltest empfangen haben? Wenn du es aber empfangen hast, wie kannst du dich dann dessen rühmen, als ob du es nicht empfangen, als ob du solches aus dir selbst, durch dich selbst und zu deiner eigenen Ehre hättest? Was rühmst du dich deiner Vorzüge und Gaben? Weißt du nicht, daß du damit dich selbst zum Götzen, Gott gegenüber aber zum Greuel machst? Sollten nicht die Dinge und Gaben, die man Vorzüge nennt, dich sehr demütigen, daß du zu deinem Gott sprächest: Ach Gott, ich bin nicht wert aller deiner Gnade und Barmherzigkeit!

Man darf annehmen, daß vorzügliche Gaben, wenn keine Herzensdemut damit verbunden ist, in Bezug auf die Ewigkeit leicht mehr schaden können als nützen. Man hätte mehr Ursache, einen vorzüglich Begabten, wenn ihm Herzensdemut fehlt, zu bemitleiden, statt ihn zu bewundern oder zu beneiden. Denn was muß doch aus einer Menschenseele werden, wenn ihr Gott widerstehen muß! Und wer hat ihn mehr zum Widerstand als der Hochmütige? Bewundert daher lieber das Glück demütiger Seelen, denen Gott seine Gnade schenken kann; und wenn sie durch das Teilhaftigwerden der göttlichen Natur noch demütiger werden, möchte ich fast sagen, sie übertreffen die Engel, weil dieselben nicht alle ihre Vorzüge ertragen könnten. Es ist himmlische Seligkeit, die eine solche Seele genießt.

Wenn denn nun auch uns, liebe Seelen, mancherlei Gaben und Gnaden gegeben sind, so bittet doch den lieben Herrn, daß er, wenn nötig, Demütigungen uns begleiten lasse! Eine demütigende Begleitung soll uns aber nicht verzagt machen; denn die Verzagtheit bei den Demütigungen ist auch ein schädlich Ding, das sogar den Brauchbarsten unbrauchbar machen könnte. Zaghaftigkeit und Herzensdemut sind sehr verschieden: in der Herzensdemut kann Gott wirken, was er will, bei den Zaghaften ist dies aber nicht der Fall.

Bd. III, S. 370.

Mel. Heiligster Jesu, Heil'gungsquelle

Das Meer der Gnaden ist den Armen, die sich ersenken ins Erbarmen, alleine offen und bereit. Dem Hochmut ist es ganz verschlossen; denn er ist aus dem Licht verstoßen und von der wahren Seligkeit. Es kann nicht anders sein; denn dürfte er hinein, wär es Hölle, nicht Seligkeit in Ewigkeit, und auch nicht Gottes Herrlichkeit.

Wer den Erbarmungsgrund will fassen, muß sich vergessen und verlassen samt eigener Gerechtigkeit, sonst kann sich Gnade nicht ausdehnen; sie merkt nur auf der Armen Sehnen vom Grunde der Demütigkeit. Herz, willst du selig sein, versinke da hinein! Dann mag's werden; nein, anders nicht. Glaub dem Bericht! So sieht man es in Gottes Licht.

Es liegt in Gottes Eigenschaften Erbarmen da, wo es kann haften, in dem gebeugten Herzensgrund. Ein kleiner Geist in eignen Augen wird dem Erbarmer trefflich taugen; denn er faßt lauter und gesund. Er kommt nicht als ein Dieb wie oft die Eigenlieb, die nichts findet, weil sie verschlingt, also verdrängt, was Gott der Herzensdemut schenkt.

Zwar sind es auch nicht unsre Sachen, daß wir uns klein, geschmeidig machen, weil dies auch nur die Gnade kann; doch wenn wir herzlich darum beten, so oft wir gläubig vor Gott treten, so hört er solches Beten an. Denn dies ist's, was er will; so merk ich's in der Still; denn er höret und wirket mit bei solcher Bitt, da er sonst manchmal ferne tritt.

Mein Heiland, mache aus Erbarmen mich auch zu einem solchen Armen, der deinen Reichtum fassen kann! Ich weiß, ich muß auf dieser Erden noch kindlicher und kleiner werden. Zwar bin ich schon auf dieser Bahn, doch lang nicht klein genug, also noch nicht recht klug. Führ mich weiter in Demut ein! Denn das muß sein. Ach mach mich niedrig, arm und klein!

Bd. III, S. 382

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