Grand-Pierre, Jean Henri - Die Thränen Jesu.

Grand-Pierre, Jean Henri - Die Thränen Jesu.

Predigt über Ev. Joh. 11, 35.

von

Jean Henri Grand-Pierre,
Prediger und Director des evangelischen Missionshauses zu Paris.

Text: Joh. 11, 35.
Jesus weinte.

Es gibt, meine Brüder, im Evangelio einzelne Worte, die für sich allein eine große Gedankenfülle in sich schließen, Worte, die dem Glauben und der dankbaren Liebe eine ganze Welt von Betrachtungen darbieten, und vor denen die Seele stumm und hingerissen, lieber empfinden als reden, lieber anbeten, als auslegen möchte. Die zwei Worte, aus denen unser heutiger Text besteht, gehören in diese Zahl. Der weinende Jesus, das ist der Anblick, den uns das Wort des Herrn in dieser Stunde zur Betrachtung darbietet: die Thränen Jesu, das ist der große unerschöpfliche Gegenstand, den es unserm Nachdenken vorhält. Aber ehe ich's versuche, davon zu reden, fühle ich mich gedrungen, mich zuvor zu Dir zu wenden, Herr Jesu, einst erniedrigter, nun herrlich erhöhter Heiland, Gott, einst geoffenbart im Fleisch, um alle unsre Schmerzen zu tragen, um alle unsre Krankheit auf dich zu laden, um alle unsre Noth mit uns zu theilen und uns von allem unserm Elende zu erretten, - aber nun hoch erhoben zur Rechten der Majestät deines Vaters, in die Herrlichkeit, von wo du herrschest über das Reich der Sünde und des Todes. O wer könnte besser als du selbst uns sagen, warum du geweint hast? Wer wäre besser, als du im Stande, uns klar und umfassend zu unterweisen über das, was wir aus deinen Thronen lernen sollen? Verleihe uns die heilige Fackel deines göttlichen Lichtes, um diese Tiefen zu durchdringen, in denen wir uns ohne dich verirren. Steige mit deinem Diener hinab in den heiligen Schacht, den du ihn durchgraben und erforschen hießest, und laß ihn heraufsteigen, beladen mit reichem Gut für sich und für seine Brüder. Amen.

Wollen wir einigen Auslegern glauben, so ist die tiefe Bewegung des Herrn auf dem Wege zum Grabe des Lazarus vorzüglich durch den Unglauben der Juden erregt worden, die, Augenzeugen so vieler Wunder des Sohnes Gottes, ihm vorwarfen, daß er nichts gethan habe, den Tod des Lazarus zu verhindern, und die nun zu zweifeln schienen, daß er die Macht habe, ihn wieder zu erwecken. Wir wollen zwar nicht behaupten, daß nicht auch dies an seinem Theil, den Schmerz Jesu Christi erweckte, aber da die Juden ihren Unglauben erst dann laut aussprachen, als der Sohn Gottes schon am Grabe stand und dort geweint hatte, so können wir nicht glauben, daß dies der einzige, ja nicht einmal der vorzüglichste Grund seiner Thränen war. - Nach andern war es die tiefe Betrübniß der Martha und Maria, der so rührende Schmerz der beiden Schwestern, die in ihrem Bruder ihr andres Selbst verloren hatten, die Thränen, die sie weinten, der Kummer, dem sie sich überließen, der erschütternde Anblick ihrer trostlosen Lage, der mehr als alles andre dazu beitrug, dem Erlöser dies ausdrucksvolle Zeichen der Theilnahme und der Liebe für die so hart geprüfte Familie zu entlocken. Wir müssen auch von dieser Meinung sagen, was wir über die vorhergehende bemerkten. Jesus weinte erst, nachdem er den Weg zum Grabe des Lazarus zurückgelegt hatte; - Maria aber und Martha hatten, ehe er noch die Grabstätte des Freundes erreichte, sich ihm zu Füßen geworfen, und ihm mit Thränen und Wehklagen den Schmerz ihrer Seele gezeigt, kaum läßt sich also denken, daß dies die einzige Ursache seiner Betrübniß gewesen sei. - So haben wieder andere gemeint, es sei die Erinnerung an eine Familie, die er oft besucht, ja, die er kurz zuvor noch so glücklich in Bethanien gesehen, in deren Mitte ungetheilte Eintracht und stiller Friede wohnte, und die nun plötzlich durch den Verlust eines ihrer theuersten Glieder und ihrer festesten Stütze ihre Lage gefährdet sah, und verletzt in ihren zartesten Empfindungen für immer in die bitterste Trauer versenkt war, es sei eben diese Erinnerung gewesen, die hier den Herrn so tief ergriffen habe. Aber wie konnte dies Gefühl die Seele des Heilandes so ganz und so anhaltend einnehmen, da er ja im Begriff war ein Wunder zu vollbringen, das aller Noth und Trauer über den Tod des Bruders ein Ziel setzte; in seinen Augen war Lazarus nicht mehr ein Todter, Lazarus lebte schon! Was sollen wir endlich sagen von der Meinung derer, die da wollen, der Herr habe - während er hier in göttlicher Macht auftritt, um den ewigen Willen des Vaters zu erfüllen und seinen Namen zu verherrlichen vor den Augen der Menschen, zugleich auf die unabwendbaren Folgen hingeblickt, die den Auferweckten treffen würden; und es sei eben der Blick auf die Laufbahn voll Noth und Elend, die Lazarus nun wieder von neuem beginnen sollte, was hier das Herz des Herrn bewegt und seinen Augen die Thränen erpreßt habe! Wenn wir aber die einzelnen Schwierigkeiten erwägen, die eine jede der angeführten Erklärungen in sich trägt: so wird sich uns von selbst diejenige als die einfachste und natürlichste empfehlen, die die tiefe Bewegung des Herrn aus dem Eindrucke herleitet, die der Anblick der Trauerscene selbst auf ihn macht. Jesus steht vor einem Grabe und dies Grab ist das Grab eines nahen Freundes, der aufs innigste mit ihm verbunden war, und schon hier ein göttliches Leben führte. Doch auch an dem Wiedergebornen ist der Engel des Todes nicht vorübergegangen-er hat ihn ereilt, wie er den größten der Uebertreter und den niedrigsten Verbrecher ereilt. In diesem alten Rechte des Todes sieht der Herr einen neuen Beweis für die Wahrheit jenes Fluches, der auf die Uebertretung des Gesetzes gelegt ist, und eine Bestätigung des Ausspruchs der heil. Schrift: daß der Tod zu allen Menschen hindurchgedrungen sei und noch immer zu allen Menschen hindurchdringe, weil sie alle gesündigt haben. Der Hauch der Verwesung von einer Leiche aufsteigend, die einst belebt und geschmückt war durch die Seele eines Auserwählten, und die nun - angeweht vom Tode, bleich und starr dalag ergriff, bewegte, erschütterte ihn - er schauderte und vergoß Thränen.

Gott verhüte, meine Brüder, daß wir der theilnehmenden Liebe Jesu Christi zu enge Schranken setzen - sein Mitleid ist groß, wie seine Barmherzigkeit, und seine Thränen können die Natur seiner Liebe nicht verläugnen, die unendlich ist. - An diesen einen großen Hauptgegenstand seiner Traurigkeit reihen sich auch die übrigen obengenannten Ursachen an, und das gibt der Betrübniß des Heilandes eine unergründliche Weite und Tiefe. - Nichts, was uns bewegt, ist ihm fremd; er umfaßt unser Elend in allen Gestalten und in allen Abstufungen desselben, - er fühlt für uns jeden Augenblick, was auch die zärtlichste und mitleidigste Menschenseele in Jahrtausenden zu fühlen nicht ertrüge. Ohne uns aber länger dabei zu verweilen, die Ursachen seiner Thränen aufzusuchen, laßt uns vielmehr die Thatsache selbst, daß Christus geweint hat - als den allgemeinen Ausdruck seiner tiefen Liebe für uns betrachten, und die Lehren, die sie so geeignet ist, uns an die Hand zu geben, mit Fleiß erwägen! -

1.

Das erste, was der Christ in diesen Thränen des Herrn erblickt, ist, daß der Herr sich hier uns als Mensch zeigt, oder mit andern Worten, daß er uns seine vollkommene Menschheit enthüllt. Ich verhehle mir nicht, meine Brüder, daß wir hier die Grenzen eines Geheimnisses berühren, daß für immer der menschlichen Vernunft unfaßlich ist. Die Gottheit, allezeit sich selbst gleich, der Zunahme wie der Abnahme, dem Wechsel wie der Aenderung, der Leidenschaft wie des Leidens, gleich unfähig, unwandelbar, ewig, - und die Menschheit, deren Natur es ist, fortzuschreiten, sich zu entwickeln, sich zu verändern, und die der Erregung, der Erschütterung, der Trauer und dem Schmerze unterworfen ist: - die Gottheit, deren Erstes und Letztes die Unendlichkeit ist, Unendlichkeit der Macht, Unendlichkeit der Weisheit, Unendlichkeit der Größe, Unendlichkeit der Güte, - und die Menschheit, die in jedem Sinne und auf jede Weise beschränkt ist, eingeschlossen in die Zeit, begrenzt durch den Raum, überall eine Schranke findend, eine Schranke ihrer Dauer, eine Schranke ihrer Ausdehnung, eine Schranke ihrer Einsicht, eine Schranke ihrer Körperlichkeit, in die sie eingeengt ist: Wer wollte es wagen das Räthsel zu lösen, wie diese Gottheit und Menschheit so innig und unauflöslich in Einem Wesen verbunden sei, wer wollte das Unerklärliche erklären! Ich wahrlich nicht, geliebte Brüder, ich zögere keinen Augenblick euch hier mein völliges Unvermögen zu bekennen. Was ich davon weiß, ist, daß die Schrift mir auf der einen Seite bezeugt, daß Christus in allen Dingen uns gleich geworden ist ausgenommen die Sünde, und auf der andern Seite, daß in ihm die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnet; was ich davon weiß, ist, daß sie mir den Herrn zeigt, bald wie er geboren wird und wächst wie wir, lebt und sich nährt wie wir, Hunger und Durst empfindet wie wir, ermüdet und leidet wie wir, bald wie er als Herr über die Natur gebietet, wie er die Elemente seiner Gottesmacht unterwirft, die seinem Winke gehorchen, sich den Dämonen furchtbar erzeigt, die erschrocken vor ihm fliehen und der Hölle, die vor ihm zittert, wie er dem Tode seine Beute entreißt, und das Thor des Grabes verschließt, wie er selbst aus den Todten hervorgeht. Was brauch ich mehr davon zu wissen zu meinem Heil! Mußte ich, um leiblich leben zu können, erst das unergründliche Geheimniß verstehen, wie mein unsichtbarer Geist mit dem sichtbaren Leibe verbunden ist? Und um glauben, d. h. geistig leben zu können, sollte es unerläßlich sein, zuvor mit unumstößlichen Vernunftbeweisen die Fleischwerdung des Herrn darzulegen und Rechenschaft zu geben über die Art und Weise, wie die Menschheit und Gottheit in der Person Jesu Christi vereinigt sind? Zweierlei ist mir vollkommen klar: einmal, daß ich der Gottheit Christi bedarf - seiner unendlichen Barmherzigkeit zur Vergebung meiner Sünden, seiner ewigen Liebe zu meiner Erlösung, seiner unbegrenzten Macht, um von der Sclaverei des Bösen befreit zu werden: dann, daß mir ebenso unentbehrlich die Menschheit Jesu ist, um Gott mir nahe zu bringen, um ihn mir sichtbar, zugänglich zu machen, um meine Versöhnung zu ihm und meine Gemeinschaft mit ihm zu gründen,-damit reich ich aus; mir genügt, daß die Menschwerdung Gottes mit den Bedürfnissen meines Gewissens vollkommen übereinstimmt. Und indem ich so das Evangelium mit dem Herzen ergreife (was den Menschen in Einem Tage weiter fördert, als die Vernunft in Jahrhunderten) und es nicht dem grübelnden Verstande übergebe, der Alles verkleinert und verengert, sobald er die Geheimnisse des Glaubens seinen Gedanken und Schlüssen unterwerfen will, stimme ich mit dem Apostel voll Anbetung und Dank in das Bekenntniß ein: Kündlich groß ist das gottselige Geheimniß, Gott ist geoffenbaret im Fleisch!„

2.

Das Zweite, was wir aus den Thränen des Herrn erkennen können, ist, daß die Traurigkeit an sich etwas natürliches und rechtmäßiges ist. Was Jesus Christus gethan hat, kann das etwas Böses sein? Was der Sohn Gottes nicht für unerlaubt hält, dürfen wir das tadlen? Fern von uns sei ein solcher Gedanke! Die Thränen, die er über dem Grabe des Lazarus vergossen hat, haben für immer den wahren Schmerz gerechtfertigt und geheiligt. Fließt denn ohne Vorwurf und Rückhalt, ihr bittern Thränen, die aus einem tiefverwundeten Herzen geweint werden! Jesus verdammt euch nicht! Weinen erleichtert das Herz; Weinen öffnet nicht selten die Seele den göttlichen Tröstungen; Weinen ist der erste Schritt auf dem Wege zur Wiedergeburt. „Selig sind die Leidtragenden, sprach der, der den Lazarus erweckte, nachdem er seine Gruft mit Thränen benetzte - „Selig sind die Leidtragenden, denn sie sollen getröstet werden!“ Doch laßt uns, geliebte Br., allezeit uns Rechenschaft geben über die Ursache und Natur unserer Schmerzen, denn es handelt sich nicht darum, zu wissen, ob Gott die Trauer gestattet. Dies ist längst entschieden durch sein Beispiel und sein Wort. Aber die Frage ist wichtig zu entscheiden, warum und wie weinen wir? O ihr, die ihr klagt und weinet, ohne je den wahren Trost zu finden, erkennet doch, daß, wenn der Schmerz eurer Seele Gott nicht wohlgefällt, es nicht darin liegt, daß ihr überhaupt traurig seid, sondern vielmehr darin, daß ihr nicht göttlich betrübt seid, nicht trauert, wie Jesus Christus, nicht weinet wie ein Christ. „Die göttliche Traurigkeit, sagt die Schrift, „wirket zur Seligkeit eine Reue, die niemand gereut, die Traurigkeit aber der Welt wirket den Tod.“ Forsche denn, lieber Zuhörer, was das herrschende Gefühl sei, das in dir die Thränen hervorruft. Ist es die Selbstsucht, die nur sich selbst sucht, die keinem weichen will, selbst Gott nicht, auch dann nicht, wenn er redet und ihr zeigt, daß sie weichen müsse? Ist es die Lust, die Sucht zu genießen, fern von Gott, ohne Gott, in Gottvergessenheit? Ist es die Abgötterei eines Herzens, das da bedauert keinen Götzen mehr zu haben, an den es sich hängen könne, eines Herzens, das durch eine ernste Führung in die Nothwendigkeit versetzt ist, entweder sich im Schmerze zu verzehren, oder den Herrn zu ergreifen, und das nun lieber sein eigener Henker wird, als hineilt zu dem, der die Quelle des lebendigen Wassers ist, und sich erquickt an den Strömen seiner Liebe? Ist es der Unglaube, der euch die zukünftige Erlösung und Vergeltung, der euch die Ruhe und Freude der ewigen Gottesstadt mit seinem dichten Schleier verhüllt? Ist es das Mißtrauen, das euch die Verheißungen ansehen läßt, als wären sie nicht für euch, und die Gaben seiner Liebe, als könnten sie nicht über euch ausgegossen werden? Wenn es sich so verhält, so ist euer Schmerz nicht von der Art, wie er dem Herrn gefällt; statt ihn zu erfreuen, würde er ihm selbst Thränen der Betrübniß entlocken, wenn er noch auf Erden wäre. Weinet ihr aber am Fuße des Kreuzes, schüttet ihr neuen Schmerz aus in den Busen eures Heilandes, mit der Ruhe, die der Glaube gibt, mit der Unterwerfung, die die Ueberzeugung ein flößt, das was Gott thut, wohlgethan ist, mit der evangelischen Hoffnung, die die Seele in der größten Trübsal aufrecht erhält; dann seid ihr es nicht, die da weinen, eure Thränen mischen sich mit den Thränen Christi, ihr weinet mit ihm, und er weinet mit euch! -

3.

Eine dritte Wahrheit, die wir aus den Thränen Jesu herleiten dürfen, ist die Gewißheit, daß wir bei ihm in allen unsern Leiden und für alle unsere Schmerzen die herzlichste Theilnahme finden. Wie ist das Bild so rührend, und zugleich so voll Trostes und voller Hoffnung, das uns die heil. Evangelisten von dem Herrn zeichnen, ein Bild, das sie ohne allen Schmuck der Dichtung in geschichtlicher Wahrheit aufstellen! Jesus am Lager der Kranken, Jesus im Hause der Trauer, Jesus an den offenen Gräbern, Jesus - wie er überall hineilt, wo es gilt ein Bedürfniß zu stillen, eine Last zu erleichtern, eine Mühe zu versüßen, eine Erlösung zu stiften so war er, so handelte er, während er auf Erden wandelte, in unser sterblich Fleisch gekleidet und aller unserer Schwachheit unterworfen. Laßt uns daraus den Schluß ziehen, wer er jetzt sein muß, und was er jetzt für einen jeden von uns thun kann, da er nicht mehr gehalten wird von dem Reiche der Sünde und des Todes, da er im Himmel regiert, wo alle Gewalt ihm übergeben ist, von wo er durch seine Allwissenheit uns alle sieht, durch seine Unendlichkeit uns alle umfaßt, durch seine Unbegrenzte Macht uns alle errettet, in seiner Gnade uns alle liebt, und nach eigener Erfahrung unserer Leiden uns nun ganz versteht und für alles Bürge wird. Leidende Herzen, eilet zu ihm ohne Furcht, eilet zu ihm in allen euren Nöthen, eilet zu ihm mit völligem Vertrauen und mit gänzlicher Hingabe. Sagt uns, kennt ihr wohl eine Furcht, die er nicht verscheuchen, einen Kummer, den er nicht wegnehmen, eine Gefahr, aus der er nicht retten, einen Verlust, den er nicht ersetzen, Thränen, die er nicht trocknen, Klagen, die er nicht stillen könnte? Er weinte, da er noch auf Erden war - könnt ihr glauben, daß er jetzt, da er verherrlicht zur Rechten des Vaters sitzt, eure Leiden weniger fühle, weniger Mitleid trage mit eurem Elend, weniger bereit sei, euch zu trösten und zu retten? Ach, Geliebte, wenn euer ungläubiges Herz sich von ihm abwenden will, sei es, um sich in sich selbst zu verschließen und von den eigenen Schmerzen zu zehren, sei es, um in der Welt den Trost zu suchen, der nicht tröstet, der die Wunden der Seele nur aufreißt, statt sie zu heilen; möge dann das Bild des weinenden Heilands alsbald vor eure Augen treten, möge dann euer Ohr auf die Stimme eures Gottes merken, und verlangend sich öffnen der heilsamen Ermahnung seines Wortes: „Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleid haben mit unserer Schwachheit, sondern der versucht ist allenthalben gleich wie wir, doch ohne Sünde. Darum lasset uns hinzugehen mit Freudigkeit zu dem Gnadenstuhl, auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden auf die Zeit, wenn uns Hülfe Noth sein wird.“

Die Thränen, die der Herr am Grabe des Lazarus weint, gewähren viertens der gläubigen Seele den einzig wahren Trost beim Gedanken an ihr Abscheiden und an den Gräbern der Ihrigen. Wie ist doch das Grab ohne Jesum so öde, so schaurig, so geeignet das Herz mit schwermüthigen verzweifelnden Gedanken zu erfüllen! Ein Grab - ohne Jesum - zeigt dir nur einen Sandhügel, zerstreute Gebeine, eine Stätte der Verwesung. Es ist der Ort der bittersten Schmerzen, der trostlosesten Thränen, der traurigsten Erinnerung, der gewaltigsten Erschütterungen. Aber ein Grab mit Christo predigt Hoffnung, Auferstehung, Leben und Unsterblichkeit. Versetzt euch, meine Brüder, in die Nothwendigkeit, die Stätte betreten zu müssen, wo die entseelte Hülle eines Vaters, einer Mutter, eines Gatten, einer Gattin, eines Bruders, einer Schwester, eines Kindes, eines Freundes ruht, denen ihr die Augen zudrücktet mit der Hoffnung eines ewigen Wiedersehens in den himmlischen Wohnungen, wie einst Martha und Maria; bittet den Herrn, euch dorthin zu geleiten; geht mit ihm; er bleibe an eurer Seite alle die Zeit hindurch, die ihr an diesem schweigenden einsamen Orte verweilt; dann werdet ihr nicht bei dem Geschöpf stehen bleiben, dann werdet ihr nicht unter den Todten suchen, was bei dem Herrn lebt, und unter der Verwesung nicht, was schon Herrlichkeit und unvergängliches Wesen angezogen hat; dann wird eure Seele sich nicht weiden in schwarzen grübelnden Gedanken, euer Haupt sich nicht zur Erde beugen, dann werdet ihr vielmehr es hoffnungsvoll erheben, werdet über diesem Grabe schon die Morgenröthe des ewigen Tages anbrechen sehen, nur den hören, der die Auferstehung und das Leben ist, wie er auch euch zuruft: „Lazarus, unser Freund schläft, ich gehe hin, ihn aufzuwecken, denn wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe!“ Wir kennen Christen, meine Brüder, die öfters die Gräber ihrer im Glauben entschlafenen Freunde besuchen, um hier zu weinen, zu weinen und nachzudenken. Sie sagen uns, und wir glauben es gern, daß diese Augenblicke für sie keine Bitterkeit haben, daß sie in ihnen keinen nagenden Schmerz wecken, keine Aufwallung der Empfindung, keine Erschütterung des Gefühls, die diejenigen suchen, die um den evangelischen Trost nicht wissen, der die Seele stillt und stärkt, das ihre Seele vielmehr auf diesen Feldern des Todes, wohin der Herr sie begleitete, gekräftigt und erneuert sind durch den Aufblick auf die hehre Tore, rechte Bürger des Himmels und Erben des Reiches Christi zu sein. Aber freilich, es fehlte ihnen dabei die eine unerläßliche Bedingung nicht, sie hatten, wie Martha und Maria, auch für ihren Lazarus die süße Gewißheit, daß er ein Freund, ein Jünger, ein Eigenthum des Herrn war, daß alle seine Hoffnung auf ihm ruhte, daß er ihn von ganzem Herzen geliebt hatte. -

Sodann lehren uns noch die Thränen Jesu, wann wir weinen dürfen, und welche Gegenstände unserer Thränen werth seien. Nur zweimal lesen wir in der evangelischen Geschichte, daß unser Heiland geweint habe, das erste Mal am Grabe des Lazarus, wo der Tod sich seinem Blicke darstellte als der Inbegriff und die Fülle alles menschlichen Elendes, das andere Mal, als er nahe bei Jerusalem kam und im Geiste die schrecklichen Strafgerichte sah, die über diese ungläubige Stadt hereinbrechen sollten. Wenn er Thränen vergoß, so geschah es stets über andere, nie über sich selbst, stets über große wichtige Dinge, über den Tod und seine Vorboten, über die Sünde und ihre Folgen, über die Gerichte Gottes und ihren schrecklichen Ausgang, nie über Nichtiges und Eitles. Laßt uns denn beides von ihm lernen, unsere Thränen nicht zu verschwenden, aber sie auch zu vergießen über die Dinge, die ihrer werth sind! Man denkt sich gewöhnlich, daß die Verwirrung und der Schrecken der Welt bei der Wiederkunft des Herrn und die Gewissensbisse der Verdammten in der Hölle, in die sie gestürzt werden durch sein Gericht, vorzüglich in dem traurigen Rückblick beständen auf die thörichten Freuden, in denen sie sich berauscht und denen sie ihr Herz gegeben haben. Das ist vollkommen schriftgemäß und ich möchte dem nicht widersprechen, aber man kann diesen Gedanken noch vollständig erfassen und weiter verfolgen. Denn ihre Qual wird nicht allein in der schrecklichen Entdeckung bestehen, daß sie sich gefreut haben über das, worüber man sich nicht freuen sollte, daß sie das geliebt haben, was man nicht lieben sollte, daß sie den ewigen Gott vergessen haben über der Welt, die vergeht, sondern zugleich in der furchtbaren Ueberzeugung, daß sie geweint haben über das, worüber man nicht weinen sollte, daß sie Thränen vergossen haben, die nicht vergossen werden sollten, Thränen der Eitelkeit, Thränen des Stolzes, Thränen der Leidenschaft, Thränen des Ehrgeizes, Thränen der Habsucht, während ihre Augen trocken blieben bei dem Anblick dessen, was ihnen Thränenströme hätte entlocken sollen, während sie nicht weinten über ihre Entfernung von Gott, ihren Undank gegen dessen Wohlthaten, ihre Liebe zur Welt, ihren Ungehorsam, ihre gehäuften Sünden, ihren tiefen sittlichen Verfall md ihren verlornen Zustand. Was bei dem Herrn Thränen hervorrief, darüber haben sie gelacht, und was feine Seele hoch erfreute, darüber haben sie geweint. Ihr Seelen voll Gefühl und Mitleid, denen es Bedürfniß ist, dem Drange ihrer Empfindungen Raum zu geben, und die innern Bewegungen auszusprechen, die ihr zurückzuhalten nicht vermögt, nehmt in eurer Traurigkeit, wie in allen andern Dingen, Jesum zum Vorbild. Blicket in die Welt hinein, in der die Sünde regiert, wie viele Schmerzen, wie viel Verdorbenheit des Lasters, wie viel Dürre des Unglaubens, wie viele getäuschte Wünsche, wie viel vergebliches Ringen, wie viel bezügliche Neigungen, wie viel hülflose Trauer und trostlose Betrübniß, auf die wohl gar zuletzt ein ewiges Weh folget: blickt vor allem in euch selbst hinein - wie viel geheimer Widerstreit gegen den göttlichen Willen, wie viel verborgener Unglaube, wie viel Kaltsinn und Selbstsucht: wahrlich, Mine Brüder, hier ist Grund genug zur Traurigkeit. Laßt hier auf diesem weiten Gebiete des Elends euren Gefühlen freien Lauf, weinet Thränenströme über eure Sünden und über den Jammer eurer Brüder! Diese Thränen werden euch nie gereuen; der Herr selbst wird sie sammeln; denn es steht geschrieben: „Selig seid ihr, die ihr hier weinet, denn ihr werdet dort lachen!“

Endlich, meine Brüder, bestimmen die Thränen Jesu - unsere Gedanken vom Tode, und verkündigen uns, wie wir ihn anzusehen haben. Der Tod ist etwas so Unnatürliches, daß der ewige Sohn des Vaters darüber trauert - er gehört so wenig mit in den ersten und ursprünglichen Plan der Schöpfung, daß der menschgewordene Schöpfer selbst darüber weint. Bei dem hellen Lichte, das die Thränen Jesu über diese wichtige Frage verbreiten, schwindet hin ihr eitlen Scheingründe einer aufgeblasenen Weisheit, durch welche die sogenannten Weisen dieser Welt es versuchen, sich selbst zu überreden und andere glauben zu machen, als sei der Tod nur ein unwandelbares Gesetz der Natur, um sich damit die Scham zu ersparen und die Demüthigung, im Tode die Strafe und Frucht ihrer Sünde zu erkennen, und um dadurch sich Ruhe zu verschaffen vor den Gewissensbissen über ihren hartnäckigen Unglauben. - Ja, wenn auch die Schrift nicht mit dem ihr eigenthümlichen Ernste es klar ausspräche, daß der Tod der Sünden Sold sei; würde nicht der Herr hier am Grabe des Lazarus euch, ihr Kinder der Welt - laut und bestimmt diese Wahrheit versündigen? Ihr nennt den Tod eine natürliche Erscheinung, aber die Thränen Jesu lehren euch, daß er eine Zerrüttung in der Natur sei. Ihr nennt ihn ein Gesetz wie alle andere Gesetze, denen die sichtbare Welt gehorcht, aber die Thränen Jesu bezeugen euch, daß er die Ausführung eines furchtbaren Urtheils sei, das der hohe Gesetzgeber gleich im Beginn der Schöpfung wider die Sünde aussprach. Ihr nennt ihn ein Werk Gottes, aber die Thränen Jesu predigen, daß er eine Verunstaltung, ja Zerstörung des Werkes Gottes sei. Wenn ihr die Thränen des Herrn erkennetet, wenn es euch gegeben wäre, in ihr Geheimniß einzudringen, ihre Tiefe zu ergründen, ihre ganze Bedeutung zu umfassen: dann würdet ihr sehen, wie hier der Schöpfer trauernd am Rande des Abgrundes steht, in den sein Geschöpf gefallen ist. Er sieht nicht mehr an ihm die Züge des göttlichen Bildes, die es einst trug, als es aus seinen Händen hervorging, er entdeckt an jener bleichen, verwüsteten, verfallenen Gestalt eine Häßlichkeit, furchtbarer noch als die eines Leichnams, die Häßlichkeit der Sünde. Er verweilt nicht bei jenem Unsegen, der diesen Leib nach göttlicher Gerechtigkeit getroffen und verwundet hat, aber er erbebt selbst über den noch schrecklicheren Fluch, der auf jeder Menschenseele lastet, die gesündigt hat. Er gedenkt des anderen Todes, der äußersten Finsterniß, des Heulens und Zähneklappens, das das Loos aller derer ist, die nicht durchs Evangelium sein eigen geworden sind. Um eure Sünden würdet ihr ihn weinen sehen, theure Zuhörer, und um euer ewiges Elend, die ihr noch nicht durch den Glauben an den Heiland den Frieden des Gewissens gefunden habt, deren Herz noch nicht zum Leben durchgedrungen, deren Seele noch nicht wiedergeboren ist, und dieser Anblick würde euch bewegen, euch erschüttern, euch eurer gefahrvollen Sicherheit entreißen, euch heilsam erschrecken - euch von heute an und ohne länger zu zaudern eine Zuflucht suchen lehren in dem Glauben an Jesum Christum, der nur dazu ans Kreuz erhöht ist, um eure Sünden zu versöhnen, nur dazu ins Grab hinabstieg, um dem Tode seinen Stachel zu entreißen, nur dazu gen Himmel aufgefahren ist, um dort die Stätte denen zu bereiten, die ihn lieben und auf ihn hoffen.

Doch genug, meine Brüder! Es hat sich uns in der Betrachtung unsers Textes eine Quelle fruchtbarer Gedanken eröffnet, die wir mehr nur andeuten als ausführen konnten, und die wir eurem stillen Nachdenken übergeben, mit der Bitte zu Gott, daß er sie an unsern Seelen segnen wolle. Wir sind nicht vergebens hier an dieser Stätte versammelt gewesen, wenn die Christen von dannen gehen - in ihren Herzen getröstet und befestigt in ihrem Glauben, und wenn die noch nicht Bekehrten in dem, was sie heute gehört, Veranlassung finden, zu zittern vor dem Gesetz, das sie bedroht, sich zu demüthigen in ihrem Gewissen, das sie verdammt, sich hinzuwenden zu Gott, der sie ruft, und zu glauben an Jesum Christum, der sie selig machen will. Das walte Gott! Amen! Amen!

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