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Teil A

Teil A

FEHLER IM UMGANG MIT DEN BIBLISCHEN ENDZEITAUSSAGEN

1. Die Zeichen der Zeit - schon 1521 sichtbar?

Die Erwartung des Kommens Jesu versetzt uns in eine Spannung: Sollen wir für längere Zeit planen - oder eher damit rechnen, dass es bald aus ist? In dieser Spannung gibt es Extreme: Die eine extreme Haltung wäre, mit dem Knecht im Gleichnis Jesu zu sagen: „Mein Herr kommt noch lange nicht.“ (Mt 24,48) Mit einer solchen Haltung würden wir uns all jenen Menschen annähern, die überhaupt nicht mit dem Kommen Jesu rechnen. Es gibt aber auch das andere Extrem: Sich darauf festzulegen, dass Jesu Kommen unmittelbar bevorstehe, dass es sich in den allernächsten Jahren ereignen werde. Dieses Extrem beobachten wir nicht bloß bei einigen exklusiven „Sekten“, sondern auch inmitten der evangelischen Bewegung.

Beginnen wir mit Martin Luther. Bei ihm können wir sehen, wie alt das Empfinden, in der eigenen Gegenwart jene Zeichen beobachten zu können, die als unmittelbare Vorboten des Endes zu werten seien, schon ist. So predigte Luther am zweiten Adventsonntag 1521 über Jesu Endzeitrede nach Lukas 21:

„Ich will niemanden zwingen oder drängen, mir zu glauben, ich will es mir aber auch von niemandem nehmen lassen, dass ich halte, der jüngste Tag sei nicht ferne. Dazu bewegen mich eben diese Zeichen und Worte Christi. Denn wenn jemand alle Chroniken liest, so findet er von Christi Geburt an nichts, was den letzten hundert Jahren dieser Welt gleicht.“ (In der Gesamtausgabe von Walch Bd.11; das Deutsch habe ich behutsam modernisiert.)

Luther geht auf verschiedene Erscheinungen ein, etwa auf die Wirtschaft: „Wer hat auch je von einer solchen Kaufmannschaft gelesen, wie sie jetzt um die Welt fährt und alle Welt verschlingt?“ Was Luther wohl gesagt hätte, wenn er die heutige Weltwirtschaft beobachten hätte können? Und auch auf geistlichem Gebiet meinte Luther, dass es nicht mehr ärger werden könnte als zu seiner Zeit: „es ist nicht möglich, dass noch größere Lügen, greulicherer Irrtum, schrecklichere Blindheit, verstocktere Lästerung kommen werden, als sie jetzt schon in der Christenheit regieren, durch Bischöfe, Klöster und Hochschulen, wo sogar der tote blinde Heide Aristoteles die Christen lehrt und regiert, mehr als Christus selbst.“ Wer heute als Christ apologetisch tätig ist, würde sich nach der Zeit Luthers zurücksehnen! Damals war die Zahl der Irrlehren noch einigermaßen überschaubar, Kurt Hutten hätte sich anstelle seiner 1000seitigen Sektenkunde mit einer dünnen Broschüre begnügen können. (Genauere Literaturangaben finden sich am Ende meines BucheS. ) Und die Vermischung mit aristotelischem Denken ist auch nicht das einzige, wohl auch nicht das Ärgste, das dem christlichen Glauben seither passiert ist.

Auch für die weiteren Bestandteile der Endzeitrede Jesu hatte Luther seine Deutungen: Dass die Sonne ihren Schein verlieren sollte, bezog er auf die häufiger werdenden Sonnenfinsternisse, und den Feigenbaum, der blühen sollte, identifizierte er mit der Bibel.

Man könnte noch viele weitere Menschen der Vergangenheit nehmen, die glaubten, die auf das Ende hindeutenden „Zeichen der Zeit“ bereits wahrnehmen zu können. Das Beispiel Luthers habe ich herausgegriffen, um deutlich zu machen, dass man auch schon vor Jahrhunderten diesen Eindruck haben konnte. Diese Erfahrungstatsache sollte uns vorsichtig machen.

2. Männer Gottes kritisieren?

Wir haben nun Martin Luther betrachtet - und gezeigt, dass er sich geirrt hat. Zweifellos war Luther ein Mensch, den Gott gebraucht hat. Wenn so jemand kritisiert wird, stellt sich bei vielen Christen ein Unbehagen ein. Dieses Unbehagen artikuliert sich in verschiedenen Fragen:

* Dürfen wir einen „Gesalbten Gottes antasten“? Legen wir uns damit nicht mit Gott selbst an? * Wer ist eigentlich dieser Kritiker, der sich anmaßt, den Stab über diesen Mann Gottes zu brechen? Was hat dieser Kritiker schon geleistet, um sich das erlauben zu können? * Wo gesündigt wurde, sollten wir vergeben (bzw. erforderlichenfalls das seelsorgerliche Gespräch mit dem Betreffenden suchen). Aber wir sollten Sünden und Fehler nicht öffentlich zur Schau stellen.

Was ist zu diesen Einwänden zu sagen? Ganz sicher müssen wir festhalten: Wir können von denen, die uns im Glauben vorangingen, viel lernen. Das betrifft aber nicht nur ihren Einsatz, ihren Mut, ihr Gottvertrauen, sondern auch ihre Fehler. Wenn sich ein bestimmtes Verhalten - vielleicht sogar erst nach dem Tod des Betreffenden - als Fehler herausgestellt hat, so kann uns eine Betrachtung dieses Fehlers dahin führen, dass wir selbst ihn vermeiden. Die Bibel exerziert das vor: Wir lesen von David oder Petrus nicht nur das Positive, das Vorbildliche, sondern auch ihre Schwächen und Fehler. Und wir können davon lernen!

In diesem Sinne ist auch alle noch folgende Kritik zu verstehen. Es geht nicht darum, andere Christen schlecht zu machen; nicht darum, sich über sie zu erheben (im Sinne von: 'So etwas könnte mir nie passieren!'), sondern es geht darum, aus ihren Fehlern zu lernen. Sei es als Aktiver (als jemand, der sich selbst intensiv mit Endzeitfragen beschäftigt und vielleicht sogar darüber publiziert), sei es als Passiver (als jemand, der sich darüber Vorträge anhört und Bücher liest).

Ein Problem, das manche beim Lesen von Kritik haben, liegt an ihrem mangelnden Differenzierungsvermögen. Sie sehen Erscheinungen - und auch Menschen - entweder als weiß oder als schwarz an. Ohne zu merken, wie viele Zwischenstufen es da gibt! Lesen sie nun meine Kritik an einem Mann Gottes, so haben sie den Eindruck, ich möchte diesen Mann als völlig schwarz hinstellen. Doch darum geht es mir keinesfallS. Wenn jemand hingegeben im Dienst für Gott steht und dabei manche Fehler macht, so will ich das alles nüchtern sehen. Ich will ihm weder den Wert seiner Tätigkeiten absprechen und ihn als untauglich und unbiblisch diffamieren, noch möchte ich seiner Verdienste wegen alle seine Fehler krampfhaft leugnen oder verharmlosen.

Als Albert Betschel sich mit extremen Charismatikern auseinandersetzte, widmete er auch einige Seiten der Frage: „Sind geistliche Leiter unantastbar?“ (In seinem Buch Verführerische Lehren der Endzeit. 1991, S. 37-39.) Darin betont er den Vorrang der Liebe (nach 1. Korinther 13) und wirft die Frage auf: „Haben wir das Recht, Männer im Reiche Gottes zu beurteilen, die äußerlich gesehen anscheinend viel mehr Resultate aufzuweisen haben als wir selbst?“

Betschel spricht also eine Situation an, die auch für mich gilt, wenn ich dabei bin, Männer wie Martin Luther, Billy Graham oder David Wilkerson zu beurteilen. Betschel gibt zwei Dinge zu bedenken:

* Erstens: Niemand ist so groß und unfehlbar oder so erfolgreich, dass seine Verkündigung nicht am Worte Gottes geprüft werden müsste. * Zweitens: Aus einer übergroßen Rücksichtnahme einzelnen Menschen gegenüber, in unserem Fall den Bibellehrern und Predigern gegenüber, nehmen wir in Kauf, dass vielleicht Tausende oder gar Millionen von anderen Menschen verführt werden.“

Wenn wir in 1. Samuel 26 sehen, wie sich David weigert, König Saul zu töten, stellen wir beim Weiterlesen mit Betschel fest: „Der David, der sagt, ich lege meine Hand nicht an den Gesalbten des Herrn, hat keine Probleme, Saul öffentlich vor dem ganzen Volk zur Rede zu stellen und dabei die Gesinnung und das falsche Handeln des Saul ebenso öffentlich an den Pranger zu stellen.“ Die Hemmung, den „Gesalbten Gottes anzutasten“, dürfen wir also nicht falsch verstehen.

In Kap. A,9 befassen wir uns mit der biblischen Beurteilung von Fehlvorhersagen. Dort werden wir sehen, was in 5. Mose 18,18-22 über falsche Propheten gesagt wird. Damals wurde geboten, einen im Namen Gottes falsch Vorhersagenden zu steinigen. Es handelt sich dabei demnach um eine sehr schwerwiegende Sache! Zur Zeit des AT wurde er also gesteinigt, in unserer Gegenwart darf er nicht einmal kritisiert werden?

Es wäre auch zu prüfen, ob es stimmt, „dass die meisten biblischen Schriften in der Auseinandersetzung mit anderen Ansichten entstanden sind“ (Alexander Prieur im Vorwort zu Grier - genauere Literaturangaben finden sich am Ende meines Buches). Wenn ja, dann könnte das Aufdecken der Mängel bestimmter Ansichten und Vorgangsweisen nicht so leicht mit dem Hauch des „Unchristlichen“ umgeben werden.

3. Der erste Fehler: Überbewertung schwacher Anhaltspunkte

Wir können für Martin Luthers Erwartung durchaus Verständnis aufbringen. Wenn wir Jesu Endzeitrede betrachten und uns in Luthers Zeit zurückversetzen - gewisse Parallelen zwischen Jesu Aussagen und Luthers Zeitereignissen waren damals schon zu erkennen. Die Parallelen waren jedoch nicht zwingend, nicht so eindeutig, dass man hätte mit Sicherheit sagen können: 'Dies ist das'. Was lernen wir aus diesem Fehler? Wenn wir in unserer Gegenwart gewisse Parallelen erkennen, wenn wir Anhaltspunkte beobachten, die mit Endzeitaussagen Jesu in Verbindung stehen könnten, so dürfen wir nicht vorschnell schlussfolgern, dass nun unbedingt das Ende vor der Tür stehen musS.

a) Verfrühtes Ausrufen biblischer Erfüllung

Eine Parallele zur Bibel ließ sich „erkennen“ (besser: vermuten), als die EG gerade 10 Mitglieder hatte. Das war der Fall, nachdem Griechenland (1981) und bevor Spanien und Portugal dazugestoßen waren (1986). Damals schrieb Klaus Gerth: „Heute sind es zehn Staaten, so wie die zehn Zehen des Standbildes Nebukadnezars es voraussagen.“ (S. 149) Das ist typisch: Eine gegenwärtige Erscheinung zeigt eine gewisse Analogie zu einem Bibelvers - sofort wird darin die Erfüllung gesehen. Peinlich wird es aber, wenn der weitere Verlauf doch anders ist: „Heute sind es zwölf Staaten.“ sagt Gerth 1989 an derselben Stelle lapidar (S. 156), ohne noch irgendeine biblische Parallele heranzuziehen.

Mitunter wird in winzigen Anhaltspunkten bereits die volle Erfüllung gesehen, etwa bei Wim Malgo: „Bitte unterschätzt die antizionistische Resolution vom 11. November 1975 in der UNO nicht. Sie ist die politische Erfüllung von Sacharja 14,2, wo der Herr sagt, dass Er alle Heiden nach Jerusalem bringen wird. … Weltpolitik gegen Zion bedeutet im Wesen schon Weltkrieg gegen Zion.“ (Schatten 46). Zwischen einer Resolution und einem Krieg ist doch ein wesentlicher Unterschied. Auch Marius Baar schließt aus dieser Resolution sehr viel: „Die ganze Welt hat sich 1973 mit der Unterschrift vor der UNO in das Lager des Islam begeben. Als nächstes verlangen die Araber den Ausschluss Israels aus der UNO, und die Völker beugen sich. Sie haben es bereits getan, als am 11.11.1975 der Zionismus verurteilt wurde.“ (S. 22)

b) Überbewertung bestimmter Tatbestände (z.B. Waren-Strichcode)

Atomkrieg steht bevor

Wenn ein Außenminister sagt, wofür sein Land eintritt, so bedeutet das nicht unbedingt, dass er bereit wäre, dafür auch einen Atomkrieg zu riskieren. Zu solchen voreiligen Schlussfolgerungen kommt es dann besonders leicht, wenn ein Autor die politische Szene in der inneren Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Krieges von Harmagedon beobachtet: „… 1974 sagte Gromyko bei seinem Besuch in Damaskus: 'Ich brauche nicht noch zu versichern, dass die Sowjetunion für die Beendigung der israelischen Besatzung in allen annektierten Gebieten eintritt. Alle anderen Fragen sind im Vergleich zu dieser von sekundärer Bedeutung.' Ein direktes, aktives militärisches Eingreifen russischer Streitkräfte in den Kampf gegen Israel ist also angekündigt.“ (Baar 214)

1974 schrieb Malgo: „Ägypten bekam einen Reaktor und den nötigen Brennstoff und ist trotz amerikanischer Kontrolle imstande, selbst Atombomben herzustellen.“ (Israel 165) Da Israel damals die Atombombe bereits besaß, konnte man sich ausmalen, wie groß die Gefahr eines Atomkrieges im Nahen Osten schon damals war. Seither sind jedoch fast 2 Jahrzehnte vergangen, und soweit wir wissen hat Ägypten die Atombombe noch immer nicht. Malgo hat also zu früh Alarm geläutet.

Islam hat gesiegt

Marius Baar neigt zu Übertreibungen. Wenn in einem Land begonnen wird, eine Moschee zu errichten, bedeutet das bereits den Sieg des Islam und die Niederlage des AbendlandeS. „Nach 296 Jahren wird die siegreiche Schlacht bei Wien zur Niederlage, zur Niederlage des Abendlandes! Im Jahre 1683 wurde in dieser Schlacht der Wesir Cara Mustapha Pascha geschlagen.“ (S. 102) Und weiter: „296 Jahre nachdem der Islam bei Wien zu Tode verwundet wurde, erscheint seine Niederlage als Sieg der islamischen Welt. Doch diesmal nicht durch den Krieg. Die erste Moschee Österreichs wird zur Zeit in Wien, im Park an der Donau, errichtet. König Khaled von Saudi-Arabien stiftete zu diesem Bau acht Millionen D-Mark. Das Programm war also nur aufgeschoben!“ (S. 103)

Baar nennt hier ein spezielles Jahr: 296 Jahre nach 1683, also 1979. Was geschah in diesem Jahr Besonderes? Inwiefern sollte der Islam gerade in diesem Jahr den Sieg errungen haben? Vom Bau einer Moschee in einem Land bis zur Islamisierung der ganzen Bevölkerung ist doch ein weiter Weg!

666 im Waren-Strichcode

Die Neigung einiger Endzeitautoren, in winzigen Anhaltspunkten viel zu sehen, hat auch den Waren-Strichcode nicht verschont gelassen. Mit diesem wird die „Europäische Artikelnummer“ (Abk. EAN) dargestellt. Als dieser Code sich immer mehr verbreitete und jemand bemerkte, dass die jeweils zwei Trennungsstriche am Anfang, am Ende und in der Mitte - diese dienen bloß der Trennung, nicht der Darstellung bestimmter Ziffern - ähnlich aussehen wie jene Striche, die für die Zahl 6 stehen, war es für manche sofort klar: Die Zahl 666 ist bereits auf den meisten Waren zu finden, das antichristliche Zeitalter ist schon weit vorgerückt. Wim Malgo griff das sofort auf, übernehmend aus der Zeitschrift Diagnosen (im Mitternachtsruf vom Nov. 1983, S. 4f).

Dazu ist folgendes zu sagen: Die erwähnten Striche (jeweils zwei parallel nebeneinander) ähneln tatsächlich jenen schwarzen Strichen, unter denen die Zahl 6 steht. Der jeweilige Zahlenwert ergibt sich allerdings nicht bloß aus den schwarzen Strichen, sondern auch aus den weißen Zwischenräumen. Eine Ziffer ist durch die Kombination von vier jeweils verschieden breiten, abwechselnd weißen und schwarzen Balken codiert. Und da den Doppelstrichen am Beginn, in der Mitte und am Ende keine eindeutige Gesamtbreite zugeordnet ist, kann für sie auch kein Zahlenwert berechnet werden.

Die Ähnlichkeit mit der Zahl 6 ist sicherlich auffallend, und auch, dass es sich um insgesamt drei Doppelstriche handelt, so dass man tatsächlich auf den Gedanken kommen könnte, hierin 666 zu sehen. Aber auf diesen Gedanken könnte man auch bei anderen Gelegenheiten kommen. Wie soll man reagieren, wenn man in einer Telefonnummer dreimal die Zahl 6 findet, vielleicht gar unmittelbar hintereinander? Sollen wir annehmen, dass alle Inhaber solcher Telefonnummern Antichristen seien? Hier wird doch deutlich, wohin es führt, wenn man winzige Anhaltspunkte sofort als sichere Beweise nimmt.

In einem Aufsatz hat sich Werner Gitt diesem Thema zugewandt: Der Waren-Strichcode und die Zahl 666 (factum Sept.1984, S. 12-24), worin er den Waren-Strichcode ausführlich erläutert und sich gegen die endzeitliche Ausdeutung ausspricht. Ähnlich Martin Schweikert in seinem Artikel Der Strichcode - Vorbote des Antichristen? (Bibel und Gemeinde 1985, S. 300-307).

c) Korrekte Einschätzung eines Phänomens (am Beispiel New Age)

Durch welche Bewegung der Antichrist an die Macht kommen wird - ob durch die UNO, die EG, den Islam, den Kommunismus oder die New Age-Bewegung - bezüglich dieser Frage möchte ich mich keinesfalls festlegen. Bei dem folgenden Fallbeispiel will ich lediglich zeigen, dass mitunter aufgrund geringfügiger Anhaltspunkte feste Behauptungen aufgestellt werden - ohne zu bedenken, wieviel diesen Behauptungen entgegensteht.

Im Zuge evangelikaler Warnungen vor der New Age-Bewegung wurde gelegentlich auch die Ansicht geäußert, dass der Antichrist mit Hilfe dieser Bewegung an die Macht kommen werde. Diese Bewegung werde sich immer mehr ausbreiten, verschiedenste Instanzen, ja selbst die Kirchen durchdringen, und somit eine geeignete Basis für einen Weltführer gleicher Gesinnung darstellen. Wobei selten vergessen wird, darauf hinzuweisen, wie rasch sich das alles schon ereignen werde. In einem Artikel mit dem vielsagenden Titel Hat die Endzeit schon begonnen? nimmt Ulrich SKAMBRAKS an, dass die New Age-Bewegung eine solche Funktion haben wird (in: idea-spektrum 1991, Nr. 5, S. 15-17).

Inwieweit zeigt die New Age-Bewegung (im Folgenden abgekürzt mit NAB) entsprechende Voraussetzungen, um eine entscheidende Vorreiterrolle für den demnächst auftretenden endzeitlichen Antichristen spielen zu können? In mehrfacher Hinsicht begegnen wir hier einer Übertreibung des tatsächlich Vorhandenen.

1. Was gehört zu New Age?

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, was überhaupt unter „New Age“ zu verstehen ist. Es ist wichtig, zwischen dem Gesamtbereich des Esoterischen einerseits und der New Age-Bewegung andererseits zu unterscheiden. Was ist eigentlich die NAB? „Die New-Age-Bewegung ist der von Kalifornien ausgehende Versuch von Wissenschaftspublizisten, das sich seit den sechziger Jahren in allen Lebensbereichen zeigende neue Denken und Handeln als ein zusammenhängendes Denk- und Verhaltensmodell (Paradigma) zu beschreiben, weltweit bewusstzumachen und netzwerkartig auszubreiten.“ (Günther SCHIWY in Entschluss 1988, Nr. 7-8, S. 8)

Erinnern wir dazu noch an das bereits im Namen „New Age“ enthaltene Kennzeichen: Nämlich an die Erwartung, dass wir nun am Beginn eines neuen Zeitalters stehen. Eine Erwartung, die durchaus nicht von allen esoterischen Richtungen geteilt wird.

Mit den kalifornischen Wissenschaftspublizisten sind vor allem Marilyn FERGUSON (deren Klassiker Die sanfte Verschwörung 1980 erschien) und Fritjof CAPRA gemeint. Es handelt sich jedenfalls um eine junge Bewegung. Dagegen gibt es viele esoterische Richtungen (die nun z.T. von der NAB aufgegriffen und miteinander verbunden werden) seit vielen Jahrhunderten. Horoskope wurden auch früher erstellt; wenn ich heute ein Astrologie-Buch sehe, darf ich nun nicht voreilig denken: „Aha, New Age!“

Sehr oft beziehen aber Kritiker der NAB alles Esoterische in ihre Betrachtung mit ein - als ob all das nun zur NAB gehören würde. Durch diesen Miteinbezug erscheint die NAB als eine wesentlich größere Bewegung, als sie tatsächlich ist.

2. Wie verbreitet ist die New Age-Bewegung?

Die NAB im engeren Sinn hat im Verlaufe ihrer jetzt etwa ein Jahrzehnt währenden Existenz zwar viel Aufsehen in der westlichen Welt erregt, ist aber weit davon entfernt, so etwas wie eine die gesamte Menschheit bewegende und erfassende Kraft zu sein.

Die wirkliche Verbreitung wird von Wolfgang SIMSON realistisch umschrieben, wenn er sagt, „dass das New-Age-Gedankengut vor allem in den westlichen Industrienationen Fuß gefasst hat“ (Glauben an die neue Zeit? S. 76). Der Großteil der Weltbevölkerung weiß nichts von der NAB. Aber auch was die sog. westliche Welt betrifft, „ist New Age erst für einen relativ geringen Teil der Bevölkerung von Interesse“ (Simson S. 9). Und Helmut BURKHARDT urteilt in seinem Buch Wiederkehr der Religiosität? (1990): „Der Säkularismus bleibt die Großmacht unserer Zeit. Das sogenannte New Age ist Ausdruck einer gewissen Wellenbewegung des kollektiven Gefühls, wie wir sie in der Geschichte immer wieder beobachten können. … Ein solcher Stimmungsumschwung kann aber so schnell wieder gehen, wie er gekommen ist.“ (S. 12f)

Wir dürfen also das tatsächliche Ausmaß, in dem die NAB die Menschheit erfasst hat, nicht überschätzen. Es müsste noch ein umfassendes Umdenken stattfinden, bis die gesamte Menschheit - etwa in Richtung NAB - gleichgeschaltet wäre. Da ist einmal die Milliarde Moslems mit ihrer mitunter fanatischen Überzeugung, die dem New Age-Denken keineswegs nahe steht. Was ist mit der Milliarde Chinesen, die großenteils in einem Land mit atheistischer Beeinflussung aufwuchsen? Werden diese alle ihre Erziehung so schnell und so völlig abschütteln? (Die Proteste in China richten sich ja gegen Diktatur und Bevormundung, nicht primär gegen den AtheismuS. ) Dass die atheistische Beeinflussung in kommunistischen Gebieten durchaus Wirkung zeigt, kann an einem Vergleich zwischen West- und Ostdeutschen festgestellt werden, also zwischen zwei Gruppen mit gemeinsamer Geschichte und Sprache, die zudem geographisch benachbart sind. „Ich glaube, dass es Gott gibt“ sagen im Westen 61 %, im Osten dagegen nur 21 % (lt. idea-spektrum 1990, Nr. 47, S. 8). Das ist doch ein enormer Unterschied!

Und schließlich die sog. „westliche Welt“: Zwar nimmt hier die Neigung zum Spirituellen wieder zu, aber es gibt doch auch weiterhin einen beträchtlichen Anteil von nichtreligiösen, rational-skeptischen Menschen. Auch deren Umdenken müsste erst noch bewirkt werden. Diese Hinweise machen bewusst, dass der Weg zu einer „gleichgeschalteten“, einheitlich denkenden Menschheit noch sehr, sehr weit ist.

3. Begünstigt die New-Age-Bewegung eine Diktatur?

Wir dürfen auch den Charakter der NAB nicht falsch einschätzen. Handelt es sich um eine militante, intolerante Bewegung? Auch wenn es Äußerungen in dieser Richtung gibt, wäre es eine Verengung, nur noch diese Äußerungen zu sehen. Würde die NAB eine zentrale, diktatorische Weltregierung begrüßen? Eine Umfrage unter Personen, die Marilyn FERGUSON als der NAB zugehörig ansah, brachte folgendes Ergebnis: „Eine dezentralisierte Regierung wurde von 89 Prozent befürwortet, eine streng zentralistische Regierung von 11 Prozent.“ (In ihrem Buch Die sanfte Verschwörung S. 483f.) Nach dieser Umfrage sieht es also nicht so aus, als ob die NAB eine einheitliche Weltregierung anstreben würde! Tatsächlich geht die Grundtendenz der NAB dahin, gesellschaftliche Veränderungen nicht mit Gewalt zu erreichen, sondern durch Bewusstseinsveränderung bei allen Menschen.

4. Wie homogen ist die esoterische Szene?

Die esoterischen Zweige sind - insgesamt gesehen - zwar eine große und derzeit wachsende „Bewegung“, sie sind aber untereinander in vieler Hinsicht uneinig. Eine derart in sich gespaltene „Bewegung“ würde kaum eine starke, geschlossene Unterstützung für einen Antichristen darstellen.

Führende Vertreter der NAB versuchen es so darzustellen, als ob die verschiedenen esoterischen Strömungen immer stärker erkennen, dass sie letztlich alle das gleiche wollen und sich daher auch immer mehr miteinander verbünden. Was etwa Marilyn FERGUSON als „Netzwerk“ hinstellt, erweist sich aber bei näherem Hinsehen als gelegentliche, vereinzelte Kontakte zwischen Angehörigen verschiedener Strömungen. Kontakte solcher Art hat es schon immer gegeben - der Weg bis zu einer wirklichen Zusammenarbeit ist aber noch sehr weit. Hier darf auch folgendes nicht übersehen werden: Was aus der Ferne betrachtet wie eine diffuse, einheitliche, (für uns Christen) fremdartige Masse erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine Anzahl verschiedenartiger, einander widersprechender Gedankensysteme. Da gibt es die Horoskope schreibenden Astrologen, deren Vorhersagen auch durchaus einschränkend sein können ('heute ist ein ungünstiger Tag, keine Geschäfte abschließen!'), andererseits die New Ageler, denen Einschränkungen dieser Art unsympathisch sind - es liegt ja ein Reich der Freiheit vor uns! Da gibt es New Ageler, denen der Umweltschutz wichtig ist, da gibt es andererseits politische Aktivisten, die zwar gleichfalls den Umweltschutz als einen wichtigen Programmpunkt haben, die aber befürchten, dass die NAB mit ihren irrationalen Spekulationen, mit ihrer Neigung zur „Verinnerlichung“, mit ihrer Erwartung eines „harmonischen Wandels“ und damit verbunden ihrer Abneigung gegen Konflikte und Kämpfe die Anhänger von gezielten politischen Aktionen eher abhält. Da gibt es die östlichen Meditationstechniken, in die man durch Gurus eingeführt wird - diese Gurus haben dann eine dominierende Rolle. New Ageler lehnen eine solche Verehrung einzelner Menschen ab, im Mittelpunkt steht bei ihnen das universelle Bewusstsein. Und so könnte man fortfahren aufzulisten: Überall sind Meinungsverschiedenheiten zu sehen, vom bevorstehenden Zusammenschluss dieser letztlich doch sehr verschiedenartigen Strömungen zeigt sich keine Spur. Die Gründung der Theosophischen Gesellschaft im Jahr 1875 wird oft als eine wichtige Vorstufe der NAB angesehen. Wie sehen nun die gegenwärtigen Kontakte zwischen diesen beiden Richtungen aus? Haben sie erkannt, dass sie ja auf genau der gleichen Linie liegen? Weit gefehlt! Stephan Holthaus hat in seinem Buch über die Theosophie die Verbindungen untersucht: „Der Einfluss der Theosophie auf die New-Age-Bewegung stellte sich auf organisatorischer Ebene als unerwartet gering herauS. Eine organisatorische Abhängigkeit oder Zusammenarbeit konnte nicht nachgewiesen werden, die theosophischen Kreise in Deutschland zeigten sogar eine kritisch-distanzierte Einstellung gegenüber der modernen New-Age-Welle.“ (S. 168f)

d) Einseitige Nachrichtenauswahl

Bei der Bewertung einer bestimmten Erscheinung müssen wir also immer das Umfeld der Erscheinung mitbedenken. Ein Hinweis darauf, dass die New-Age-Bewegung bereits sehr verbreitet ist, darf nicht isoliert betrachtet werden. Es gilt dann ihre Verbreitung abzugrenzen, also auch mitzubedenken, wo überall diese Bewegung noch kaum bekannt bzw. einflussreich ist. Zur Überbewertung einer bestimmten Erscheinung kann es also dort leichter kommen, wo diese Erscheinung isoliert gesehen wird. Dazu kann es kommen, weil wir alle die auf uns einströmenden Nachrichten filtern; mitunter registrieren wir nur jene Nachrichten, die in unsere Erwartung hineinpassen. Das kann mehr oder weniger beabsichtigt geschehen. So wird mitunter zwar zur Kenntnis genommen, was für einen baldigen Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels spricht, alles andere jedoch ignoriert: „nach unbestätigten Berichten sollen bereits Steine dafür behauen und nach Jerusalem transportiert worden sein …“ (Goetz 161) - Schlussfolgerung u.a. daraus: „es ist uns bekannt, dass ein ziemlich starkes Interesse für einen Wiederaufbau des Tempels vorhanden ist“. Eine wichtige israelische Persönlichkeit spricht sich für den Wiederaufbau des Tempels aus - Schlussfolgerung wie vorhin. Hal Lindsey berichtet davon, dass der Historiker Israel Eldad gefragt wurde: „Trägt man sich heute in Israel eigentlich mit dem Gedanken, den Tempel wieder aufzubauen?“ (S. 66) Daraufhin meint Eldad, es werde dazu innerhalb einer Generation kommen. Daraus schließt Lindsey: „Viele fromme Juden, manche von ihnen in einflussreichen Regierungsämtern, hegen also die Absicht, bei sich bietender Gelegenheit ihren Tempel wieder aufzubauen.“ Damit wird jedoch das Stimmungsbild sehr einseitig wiedergegeben. Erstens machen die „frommen Israelis“ nur etwa ein Zehntel der israelischen Gesamtbevölkerung auS. Zweitens sind auch von diesen viele gegen einen Wiederaufbau des Tempels: Zum Teil sind sie der Meinung, dass nur der Messias persönlich den Tempel wiederaufbauen kann, und die meisten können sich mit blutigen Tieropfern nicht anfreunden. Drittens schätzt die Mehrheit der Israelis die Existenz der auf dem Tempelplatz stehenden Moschee als Sicherheitsgarantie - gilt diese Moschee doch als eines der wichtigsten moslemischen Heiligtümer. Eine massive Bombardierung von Jerusalem ist daher seitens der Araber nicht zu erwarten, und schon gar nicht der Einsatz einer Atombombe in der Umgebung von Jerusalem, wodurch ja auch der Tempel auf Jahrzehnte hin unbenutzbar werden würde. Hier macht Lindsey also aus einem schwachen Anhaltspunkt - ein Israeli wird interviewt - eine sehr große Sache. Etwas polemisch hat Samuele Bacchiocchi gemeint: „Has the rebuilding of the great Temple already begun in any form? To my knowledge, the only fabrication begun is not that of the Temple but of stories about it.“ (S. 40)

Diese Neigung, aus der Mücke einen Elefanten zu machen, hängt also oft mit einer einseitigen Auswahl von Nachrichten zusammen.

Wenn geringe Anhaltspunkte genügen, ist es dann nicht schwer, die Endzeitereignisse schon heraufkommen zu sehen und das Ende unmittelbar bevorstehend zu wissen. Die Erwartung des nahen Endes wurde mitunter auch präzisiert, so dass sogar konkrete Jahreszahlen genannt wurden. Das kam im Verlauf der Geschichte immer wieder vor, aber keine andere Gruppe hat derart viele präzisen Voraussagen über das Ende gemacht wie die Zeugen JehovaS. Diesen wenden wir uns jetzt zu.

4. Die Zeugen Jehovas - unsere Gesinnungsgenossen?

Zukunfts-Vorhersagen sind ein wesentliches Merkmal der Zeugen Jehovas (abgekürzt ZJ), und zwar von ihrem Beginn an: 1914, 1918, 1925, zuletzt 1975 - die Liste der präzisen Daten kann sich sehen lassen. Daneben gab es aber auch immer wieder Ankündigungen, die kein präzises Jahr beinhalteten, aber doch eine ungefähre Umgrenzung lieferten. Bis in die 1990er Jahre behaupteten ZJ, dass jene Generation, die 1914 noch miterlebt hat, nicht vergehen werde, bevor das Ende da ist.

Ich konnte die Zeugen Jehovas dieses Verhaltens wegen kritisieren - ohne mir dessen voll bewusst zu sein, dass ähnliche Verhaltensweisen auch in meiner eigenen Bewegung verbreitet sind. Aber durch die Beschäftigung mit den Zeugen Jehovas war mein Blick geschärft, so dass mir danach ähnliche Tendenzen im evangelikalen Raum viel schneller auffielen. Durch zahlreiche Gespräche mit Zeugen Jehovas wurde ich außerdem mit möglichen Rechtfertigungsversuchen für solche falschen Vorhersagen gut vertraut - diese Vertrautheit kam mir auch jetzt bei der Beschäftigung mit evangelikalen Endzeitautoren zugute, denn auch dort erleben wir z.T. ähnliche „Verteidigungsstrategien“.

Kurt Hutten hatte die Frage aufgeworfen, ob die außerhalb der Kirche stehenden 'Sekten' vielleicht von Gott das Amt bekommen haben, auf Lücken in der kirchlichen Verkündigung hinzuweisen, und somit Mahner der Kirche zu sein (im Vorwort seines Seher, Grübler, Enthusiasten). Abgesehen davon können diese 'Sekten' aber auch die Funktion haben, dass wir uns bei ihrer Betrachtung selbst überprüfen können: Wir meinen manches bei ihnen kritisieren zu müssen - gibt es vielleicht ähnliche Fehler auch unter uns, eventuell in abgeschwächter Form?

Wenn ich hier einen Vergleich mit den Zeugen Jehovas anstelle, so würde ich mich nun gerne beeilen hinzuzufügen, dass man diese ZJ natürlich in keiner Weise mit evangelikalen Endzeitautoren vergleichen kann. Leider kann ich das nicht hinzufügen, denn es gibt eine ganze Reihe von Parallelen zu manchen Evangelikalen, nämlich:

- Die fixe Annahme 'Wir sind die letzte Generation' - an diese Annahme haben sich Bibelauslegung und Bewertung des Zeitgeschehens anzupassen (siehe Kap. A,7 oder C,1 und 2) - Ein leichtfertiger Umgang mit biblischen Aussagen, indem diese aufgrund schwacher Analogien herangezogen werden, um vorgegebene Vorstellungen zu stützen (Kap. B,4 oder E,4e) - Die Beziehung des Jesus-Wortes „diese Generation wird nicht vergehen“ auf das 20. Jahrhundert - bei ZJ die Generation, die 1914 erlebte, bei manchen Evangelikalen die Generation, die 1948 erlebte (Kap. E,2c oder 8c) - Die einschränkende Auslegung von Jesu Wort („niemand kennt Tag oder Stunde“) darauf, dass niemand den genauen Zeitpunkt kennt, wir aber - aufgrund der „Zeichen der Zeit“ - sehr wohl den ungefähren Zeitraum erkennen (Kap. D,4b) - Das Nebeneinander der Ansicht, dass das Ende jetzt innerhalb der nächsten Jahre kommen müsse, mit der Behauptung, den Zeitpunkt nicht zu kennen (Kap. A,10b) - Mehrmalige Fehlvorhersagen - mit entsprechenden Folgen, z.B. für das Image der Bibel (Kap. A,6) - Eine positive Sichtweise auch der fehlgeschlagenen Demnächsterwartung (Kap. B,1) - Die wiederholte Anpassung der Vorhersagen an die neue politische Situation (Kap. E,2c) - Die gelegentlich auftauchende Behauptung, richtig vorhergesagt zu haben (Kap. C,5) - Das Miteinander von hohem Anspruch und Fehlbarkeitseingeständnis (Kap. A,10c) - Die Ansicht, dass Gott jetzt am Ende der Zeit manchen Christen besonderes Verständnis für die biblische Prophetie schenkt (Kap. A,10a) - Die Ansicht, bloß die Aussagen der Bibel wiederzugeben (Kap. A,10d) - Die dogmatische Verkündigung der eigenen Vermutungen (Kap. A,10) - Die Aufforderung des Endzeitautors bzw. des Verlages, dass dessen Schriften wiederholt und intensiv zu lesen sind (Kap. A,10a) - Auch die ZJ sind Dispensationalisten, wie die hier in Teil E untersuchten Autoren, und rechnen mit einem mehrmaligen Wiederkommen Jesu (Kap. A,10e) - Eine tendenziöse Zitat-Auswahl: der jeweilige Autor liest sehr viel und stellt dann einseitig solche Äußerungen zusammen, die seinem eigenen Bild entsprechen (Kap. A,8) - Die negative Haltung gegenüber der UNO und überhaupt gegenüber Friedenskonferenzen (Kap. B,12 oder 16) - Die Aufforderung, angesichts des nahen Endes sein Geld der Mission zu spenden (Kap. B,5 oder E,8c)

Ich kann mir vorstellen, dass manche Leser entsetzt sind, wenn hier Parallelen zwischen den ZJ einerseits und geachteten evangelikalen Größen andererseits aufgezeigt werden. Keineswegs möchte ich behaupten, dass diese nun in jeder Hinsicht vergleichbar seien. Es besteht eine Reihe von Unterschieden: Die ZJ wollen das Heil in ihrer Organisation finden (Belege dazu in meiner Russell-Biographie Kap. 12); die ZJ-Publikationen stellen die Wirklichkeit weitgehend so dar, dass die eigene Organisation nahezu vollkommen und alle anderen Kirchen deutlich negativ erscheinen (Kap. 13); bei der Darstellung der eigenen Geschichte betreibt die Wachtturmgesellschaft mitunter eindeutige Irreführung (Kap. 7, 10 und 11). Derartiges ist mir bei evangelikalen Endzeitautoren kaum aufgefallen.

Jedenfalls besteht eine ganze Reihe von Parallelen, und wenn wir darüber entsetzt sind, dann umso besser. Vielleicht führt dieses Entsetzen zu einer Abwendung von solchen ZJ-ähnlichen Praktiken.

Angesichts solcher Parallelen halte ich es für nötig, dass wir bei der Beurteilung zu einer einheitlichen Linie finden. Entweder ist das leichtfertige Vorhersagen im Namen Gottes nicht so schlimm, dann sollten wir es auch z.B. den ZJ nicht immer wieder vorhalten. Oder es ist sehr wohl eine gefährliche und abzulehnende Sache, dann sollten wir prüfen, inwieweit das auch unter uns vorkommt. Dass oft mit zweierlei Maß gemessen wird, läßt sich etwa im Buch von William Goetz erkennen. Einerseits wird darin das Buch Alter Planet Erde wohin von Hal Lindsey empfohlen (S. 47) - ein Buch mit vielen falschen Vorhersagen. Andererseits werden die Zeugen Jehovas und andere ihrer falschen Vorhersagen wegen als „Endzeit-Wirrköpfe“ bezeichnet (S. 19).

Wie es so schön heißt, soll man ja zuerst vor der eigenen Tür kehren. Ich habe diese Reihenfolge, wie ich gestehe, nicht ganz eingehalten. Aber nachdem ich bereits ausgiebig vor der Tür der Zeugen Jehovas gekehrt habe (mit meinem Buch Charles T. Russell und die Zeugen JehovaS. Der unbelehrbare Prophet, 1990), beeile ich mich nun, auch vor der Tür der Evangelikalen einen Frühjahrsputz vorzunehmen.

Eine Beurteilung abzugeben ist aber gar nicht so einfach, da auch eine Reihe von Unterschieden zu beachten sind: Etwa der Unterschied, ob jemand eine bloße Vermutung äußert, oder ob jemand mit dem Anspruch auftritt, Sicheres zu präsentieren. Der Unterschied, ob jemand sagt, was kommen werde - unter Offenlassung des Zeitfaktors, oder ob jemand die angekündigten Ereignisse für die unmittelbare Zukunft, vielleicht auf einige Jahre, festlegt. Beim Feststellen dieser Unterschiede ist aber noch in anderer Hinsicht zu unterscheiden, nämlich zwischen Form und Inhalt: Manche Zugeständnisse sind bloß Lippenbekenntnisse und ändern nichts am Inhalt. So wird gelegentlich Jesu Wort, dass niemand Tag oder Stunde kennt, zitiert - der voreilige Leser könnte denken, dass der betreffende Endzeitautor also die Zeitfrage völlig offenlassen möchte. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch oft, dass dieses Wort Jesu dahingehend interpretiert wird, dass niemand den ganz genauen Augenblick kennt, während aber - aufgrund der „Zeichen der Zeit“ - doch klar zu sein scheint, dass das Ende nun in den nächsten Jahren kommen müsse. So gibt es also manches, was der Leser zwecks korrekter Einschätzung sowie fairer Beurteilung eines Endzeitbuches beachten musS.

5. Wie kann der Wert eines Endzeitbuches beurteilt werden?

Aus meiner Zeugen Jehovas-Beschäftigung ergab sich auch meine Vorgangsweise: Wie ich den Zeugen Jehovas in meinem Buch Charles T. Russell und die Zeugen Jehovas anhand der konkreten Ergebnisse ihrer Vorhersagetätigkeit klarzumachen versuchte, dass diesbezüglich eine größere Zurückhaltung angebracht wäre, versuche ich das nun auch hier. Ich untersuche also jene evangelikalen Bücher, die vor ein oder zwei Jahrzehnten erschienen waren und die aufgrund der damaligen politischen Konstellation das Ende als unmittelbar bevorstehend darlegen wollten. Haben sich die damaligen Vorhersagen als richtig herausgestellt? (Anstelle von „Vorhersagen“ sollte ich vielleicht präziser von den damaligen Versuchen der konkreten Ausdeutung biblischer Endzeitaussagen sprechen.) Es handelt sich also um eine Art empirische Erfolgskontrolle.

Ich möchte meine Fragestellung noch etwas präzisieren. Es könnte ja sein, dass ein Autor im Jahr 1970 aufgrund der seinerzeitigen Weltsituation ein ganz konkretes Endzeitszenarium entworfen hat, das sich etwa im Jahr 2000 wirklich erfüllt. In gewisser Weise könnte man dann sagen, dass der Autor doch recht gehabt hat. Er hat die Ereignisse vielleicht etwas zu nahe geglaubt, aber doch immerhin die konkreten Beteiligten richtig identifiziert und Ereignisse, die irgendwann tatsächlich eintreffen, vorhergesagt. Meine Frage ist nun nicht in erster Linie, ob das von einem Autor Vermutete irgendwann doch einmal eintreffen wird (was ich mit letzter Sicherheit ja nie ausschließen kann). Meine Fragestellung lautet: War das von diesem Autor im Jahr 1970 Entworfene für seine damaligen Leser eine Hilfe? Angenommen, er sagt Ereignisse vorher, die mehrere Jahrzehnte danach tatsächlich eintreten, aber präsentiert sie seinen Lesern so, dass diese damit rechnen, dass diese Ereignisse für die nächsten Jahre zu erwarten seien. Die Leser stellen sich nun darauf ein, die Ereignisse bleiben aber jahrzehntelang auS. In diesem Fall müssen wir urteilen, dass dieses Buch für die damaligen Leser keine Hilfe war.

Ich möchte also objektiv die Ergebnisse überprüfen. Ich werde feststellen, inwiefern Vorhersagen sich erfüllt haben und inwiefern nicht. Getreu dem Motto: „Im nachhinein weiß man es immer besser.“ Ich werde gelegentlich auch angeben, inwiefern die bisherige Entwicklung eher in die andere Richtung geht. Damit will ich aber nicht sagen, dass es nicht doch noch geschehen könnte. Ob ich selbst die Erwartung einer bestimmten zukünftigen Entwicklung für wahrscheinlich halte oder nicht, ist nicht wichtig. Ich möchte ja nicht selbst an dem „Ratespiel“ mitmachen.

Zu welchen Ergebnissen hat meine „empirische Erfolgskontrolle“ bei den ZJ geführt? Das betrachten wir im folgenden Kapitel. Im Anschluss daran können wir prüfen, inwieweit es dazu Parallelen auch im evangelikalen Raum gibt.

6. Rückblick auf die Vorhersagetätigkeit der Zeugen Jehovas

In meinem Buch über die Zeugen Jehovas habe ich mich besonders auf deren Vorhersagen konzentriert. Für die Zeit bis 1914 hatte ihr Gründer Russell vorhergesagt, dass es zu einer totalen Wende kommen werde: Die weltlichen Regierungen werden abgesetzt, Jesus wird ab dann sichtbar und weltweit auf der Erde regieren - das 1000jährige Friedensreich bricht an, während der Satan gebunden ist. Tatsächlich brachte aber 1914 nicht den Frieden, sondern den bis dahin größten Krieg.

Daraufhin wurde der Zeitpunkt der Wende auf 1918 verschoben, danach auf 1925. Als auch dann die Wende noch ausblieb, wurde kein konkretes Jahr mehr angegeben. Die weiterhin aufrechterhaltene Demnächsterwartung manifestierte sich aber darin, dass ein Haus gekauft wurde, das den Patriarchen des AT - deren Auferstehung erwartet wurde - bei ihrer Rückkehr sofort zur Verfügung stehen sollte. Danach kamen einige Jahrzehnte ohne besondere Vorhersage, bis neuerlich ein konkretes Jahr ausgerufen wurde: 1975, allerdings vorsichtiger als früher - mit Unsicherheitsklauseln versehen. Auch 1975 ging vorüber. Danach gaben die ZJ kein konkretes Jahr mehr an, aber doch einen ungefähren Rahmen. Es wurde behauptet, dass jene Generation, die 1914 miterlebt hat, auch das Ende (= Harmagedon, Beginn des Millenniums) miterleben werde. Vor 1975 wurde das dahingehend präzisiert, dass es um jene Menschen geht, die 1914 bewusst miterlebt hatten - was ein Mindestalter von 12 Jahren bedeuten sollte. Außerdem wurde in Anlehnung an Psalm 90 eine Generation mit 70 oder höchstens 80 Jahren umgrenzt. Diese Deutung schien recht schön zu dem ohnedies verkündeten Ende für die Mitte der 1970er Jahre zu passen. Als dieses nicht eintrat, begann eine schrittweise Aufweichung sowohl der Länge einer Generation als auch des Mindestalters derer, die 1914 miterlebt hatten: nur behutsam, Schritt für Schritt. Man gewinnt folgenden Eindruck: Einerseits sollte der erwartete Endzeitpunkt hinausgeschoben werden (und vertuscht werden, dass die bisherige Vorhersage eigentlich schon danebengegangen war). Andererseits sollte die Demnächsterwartung aufrechterhalten werden (im Sinne von: 'Es ist höchster Einsatz gefordert, bis zum Ende ist es nur noch eine ganz kurze Zeit!').

Die konkrete Art und Weise, wie Bibelstellen ausgelegt und kombiniert werden, hat sich also im Laufe der Jahrzehnte gewandelt. Fest stand jedoch das Ergebnis: 'Jetzt gleich kommt das Ende, wir sind die letzte Generation!' Hier sind wir also beim nächsten Fehler, der aber leider nicht auf die ZJ beschränkt ist.

7. Der zweite Fehler: 'Wir sind die letzte Generation!'

a) Ein gleichbleibendes Gefühl: Das Ende zieht herauf

Ob in den 1980er Jahren oder 1953 oder 1930 - die Zeit scheint stehengeblieben zu sein, denn immer hatten die Beobachter das Gefühl, nun unmittelbar vor dem Ende zu stehen. Nach Jakob Zopfi (1982) kann es nicht mehr lange dauern: „Dieser Diktator = Antichrist steht damit vor der Tür.“ (S. 73) Nach William Goetz (1981) ist es „offenbar, dass die prophetische Stunde weit vorgerückt ist. Harmagedon - die Kulissen werden gesetzt, und zwar sehr schnell.“ (S. 230) Das klingt dramatisch, und der Leser erkennt, dass nicht mehr viel Zeit bleibt. Blickt er aber in ältere Bücher, so findet er dort ganz ähnliche Formulierungen.

Bei Billy Graham konnte man schon 1953 lesen: „Der Antichrist, vor dem die Propheten warnten, dass er in den letzten Tagen erscheinen würde, wächst und nimmt Gestalt an vor unseren Augen“ (Ich zitiere nach der 10. Taschenbuchauflage 1971, S. 151). Graham war sich damals ziemlich sicher, dass die Endzeit-Ereignisse unmittelbar bevorstanden: „Wir wissen, dass der Antichrist erscheinen und versuchen wird, die Seelen und Herzen der Menschen zu verführen. Die Zeit rückt nahe, die Zielstrecke ist schon abgesteckt - Verwirrung, Panik und Furcht herrschen draußen vor. Die Anzeichen des falschen Propheten sind überall zu erkennen, und viele von uns mögen lebendige Zeugen des furchtbaren Augenblicks werden, wenn der letzte Akt dieses uralten Dramas beginnt. Es kann sehr wohl in unserer Zeit geschehen, denn das Tempo ist sehr rasch, die Ereignisse überstürzen sich, …“ (S. 46; 1954er-Ausgabe S. 56f).

Und wenn wir noch weiter zurückgehen, nämlich bis 1930, lesen wir Ähnliches: „Wir können nur sagen, dass heute sowohl auf politischem als auch auf wirtschaftlichem und religiösem Gebiete geradezu fieberhaft gearbeitet wird, um das Erscheinen des Antichristen vorzubereiten.“

So zu lesen bei Friedrich Heitmüller: Die kommenden Dinge (Hamburg 1930, S. 32). Er lebte von 1888-1965, gehörte den freien evangelischen Gemeinden an und war in Norddeutschland im Bereich Diakonie sowie Evangelisation tätig.

1981 hieß es also: „die prophetische Stunde ist weit vorgerückt“, aber schon 1953 war zu lesen: „Die Zeit rückt nahe“. 1981 hieß es: „die Kulissen werden gesetzt, und zwar sehr schnell“, aber bereits 1953 war zu lesen: „die Zielstrecke ist schon abgesteckt … das Tempo ist sehr rasch“.

1953 hieß es also: „Der Antichrist … wächst und nimmt Gestalt an vor unseren Augen“, aber schon 1930 war zu lesen: Es wird „geradezu fieberhaft gearbeitet, um das Erscheinen des Antichristen vorzubereiten“.

Ob 1981 oder 1953 oder 1930: Immer konnte man den Eindruck haben, unmittelbar vor den allerletzten Ereignissen zu stehen. Immer konnte man davon überzeugt sein, der letzten Generation anzugehören. Diese Überzeugung führt dann dazu, dass alle Gegenwartserscheinungen mit den biblischen Endzeitaussagen verknüpft werden - und siehe da, es scheint immer zu passen! Man wird dabei an die Worte des Predigers 1,9 erinnert: „Was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Diesen Ausspruch könnte man hier auf das Schema anwenden. Was Subjekte - also Endzeitautoren - betrifft, sowie Objekte - also die Schauspieler auf der Bühne des Endzeitdramas -, so gibt es durchaus Neues. Neue Namen treten auf, und neue Kombinationen. Aber das Schema bleibt gleich:

Die Voraussetzung: Die heutige politische Konstellation ist die unmittelbare Ausgangsbasis für die Endzeitereignisse; bis dahin gibt es keine größeren politischen Veränderungen mehr, sondern bloß ein Fortschreiten auf den absehbaren Bahnen.

Die Aufgabenstellung: Die heutige politische Konstellation muss mit den biblischen Endzeitaussagen kombiniert werden.

b) Die heutige politische Konstellation als Ausgangsbasis

Veränderte politische Konstellationen

Zu Heitmüllers Zeit gab es den Völkerbund, den Vorläufer der UNO. Und da die damalige politische Konstellation direkt in die Endzeitereignisse einmünden sollte, war auch für den Völkerbund eine wichtige Aufgabe vorgesehen:

„Wenn ich recht sehe, wird sich aus dem jetzigen Völkerbund der zukünftige Zehnstaaten-Bund entwickeln, an dessen Spitze der Antichrist stehen wird.“ (S. 32) Da „der Zehnstaaten-Bund der Endzeit das wieder erstandene römische Reich“ sein soll (S. 36) - und zwar in den damaligen Grenzen -, wird nicht bloß das linksrheinische Gebiet weiterhin bei Frankreich bleiben, sondern auch „Baden, Württemberg und der größte Teil von Bayern … werden in kommenden Tagen von Norddeutschland losgerissen werden und wieder zum römischen Reiche gehören.“ (S. 37)

Der Völkerbund ist vergangen, das Ende ist noch immer nicht da. Und derzeit sieht es so aus, dass sich auch der Kommunismus stalinscher Prägung aus Europa verabschiedet. 1953 sah das noch anders aus. Das Jahr, in dem William (= Billy) Franklin Grahams Buch herauskam, ist gleichzeitig auch das Todesjahr Stalins. Graham hatte beim Schreiben also die Sowjetunion zur Zeit ihrer größten politischen Macht vor Augen:

„Vor allem stehen wir der gewaltigen Macht des Kommunismus gegenüber - des größten, bestorganisierten und unverhohlensten Feindes des Christentums, der der Kirche seit den Tagen des heidnischen Roms entgegengetreten ist. Der Antichrist, vor dem die Propheten warnten, dass er in den letzten Tagen erscheinen würde, wächst und nimmt Gestalt an vor unseren Augen - ein kühner, eherner, gut bewaffneter Antichrist, der sich nicht bücken wird, um seine Identität zu verhüllen oder seine Absicht zu verdecken.“ (S. 151f)

Die Einschätzung des Kommunismus als mächtiger Christenfeind ist sicherlich richtig. Doch können wir wirklich sicher sein, dass der Antichrist aus dem Lager des Kommunismus kommen wird? Graham sagt es nicht ganz ausdrücklich, vom Zusammenhang her führt er den Leser aber doch in diese Richtung. (Übrigens hat Wilhelm Busch im Geleitwort auf diesen möglichen Kritikpunkt an Grahams Buch, die Verbindung des Antichristen mit dem Kommunismus, hingewiesen.)

So beobachten wir bei zahlreichen Endzeitautoren das, was Lindsey im Vorwort über Gerths Buch sagt: „In seinen Ausführungen wird biblische Prophetie mit großer Genauigkeit, Einfühlungsvermögen und geistlichem Durchblick auf die Ereignisse unserer Zeit angewandt.“ (S. 6) Das wird man Gerth und anderen Endzeitautoren durchaus zugestehen. Aber ob man das tun soll - hier setze ich ein Fragezeichen. Die permanenten Misserfolge jener, die das versuchen, zeigen doch deutlich, dass wir nicht die biblische Prophetie auf unsere jeweilige Gegenwart anwenden sollen, um unsere Anwendungen dann alle paar Jahre wieder ändern zu müssen. Das hat doch mit einem respektvollen Umgang mit den biblischen Aussagen nichts mehr zu tun.

Diese Gefahr wird auch in Gerths Warnung angerissen: „Bei der Einordnung von Ereignissen in das Endzeitpuzzle müssen wir uns vor falscher und spekulativer Prognose hüten.“ (S. 80) Nun zeigt die Erfahrung, dass es für die „Puzzlespieler“ kaum möglich ist, vor „falscher und spekulativer Prognose“ bewahrt zu bleiben. Das gilt auch für Gerth selbst - auch ihm ist es nicht gelungen, seine eigene Warnung zu befolgen. Daraus ergibt sich die Frage, ob wir denn bei diesem Puzzle unbedingt mitspielen müssen? Hat Gott uns dazu beauftragt?

In seinem Buch Armageddon Now dokumentiert Dwight Wilson die Neigung, bestimmte Rollen im unmittelbar bevorstehenden Harmagedon auf die jeweiligen zeitgenössischen Größen zu verteilen, über viele Jahrzehnte hinweg.

Gleiche politische Konstellationen

Betrachten wir noch ein konkretes Beispiel aus dem Jahr 1949. Dabei können wir beobachten, wie 1. Demnächsterwartung, 2. Anhaltspunkte-Überbewertung und 3. Nachrichtenselektion zusammenwirken. Ergebnis: 'Jetzt gleich ist es soweit!'

Fünning schrieb damals sein Büchlein über Israel. Kurz nach der Staatsgründung Israels (1948) gab es dort eine starke Einwanderung von Juden. Fünning zitiert verschiedene Statistiken und Prognosen. Die einen rechnen mit 11000 Auswanderern monatlich, andere mit 25000. Welche Zahl auch immer stimmte, bei ca. 3 Millionen europäischen Juden war es jedenfalls offensichtlich übertrieben, was im American Hebrew geschrieben wurde: „In einem Jahr oder mehr wird die sogenannte Zerstreuung der Juden in Europa, die 2000 Jahre währte, ein Ding der Vergangenheit sein.“ Das wird aber von Fünning alles getreulich vermerkt, wie auch seine eigene Schlussfolgerung: „Bei diesem Tempo wird Europa in einigen Jahren seine Juden verloren haben …“ (S. 14) Das Tempo hat sich verlangsamt, und auch heute hat Europa erst einen Teil seiner Juden verloren. Aber auch 1980 war ein Endzeitautor in dieser Stimmung, als ob der Abschluss dieser Sammlung schon bevorstünde: „Je mehr sich aber die Sammlung der Kinder Israels ihrer Vollendung nähert, desto mehr nähert sich auch die kosmische Katastrophe, von der die Bibel spricht, ihrer Erfüllung.“ (Malgo: Heil 40)

Bemerkenswert an Fünnings Schrift aus dem Jahre 1949 ist vor allem der Vergleich mit der neueren Endzeitliteratur. Wie sehr sich doch die Formulierungen gleichen! Auch damals rechnete man mit dem Wiederaufbau des Tempels und registrierte alle möglichen Anhaltspunkte dafür, auch wenn es sich vielleicht nur um unbestätigte Gerüchte handelte: „Schon heute soll in Jerusalem ein Talmud-Seminar vorhanden sein, in welchem die Tieropfer mit großem Eifer heimlich studiert werden, in der Hoffnung, dass der salomonische Tempel bald wieder an seiner früheren Stätte gebaut wird, in welchem sie dann die Tiere opfern wollen.“ (S. 17) Wie viele der damaligen Studenten werden heute wohl noch am Leben sein? Bemerkenswert bei solchen Gerüchten ist: Das alles geschieht natürlich heimlich, d.h. auch unüberprüfbar. In der Gerüchteküche brodelt es weiter, 1981 „ist uns bekannt, dass ein ziemlich starkes Interesse für einen Wiederaufbau des Tempels vorhanden ist (nach unbestätigten Berichten sollen bereits Steine dafür behauen und nach Jerusalem transportiert worden sein …)“ (Goetz 161)

Für Fünning war es damals „klar und deutlich, der Einfall Russlands in Palästina rückt immer näher. Ja, der Eifer, und die Leidenschaft, mit der Russland im Osten vordringt, läßt auf eine baldige gewaltsame Katastrophe schließen.“ (S. 39) Deshalb sollten sich die Juden auch nicht über die russische Absicht freuen, in Tel-Aviv ein Konsulat einzurichten: „Wenn die Juden ihre eigene Bibel (z.B. Hes 38) kennen würden, dann hätten sie sich nicht so gefreut. … Das sind gründliche Vorbereitungen für Hes 38,13.“ (S. 15) Fünnings Befürchtung hätte sich dann als sinnvoll erwiesen, wenn es wenige Jahre darauf tatsächlich zu diesem russischen Angriff gekommen wäre. Wenn es aber zu diesem Angriff erst wesentlich später kommt, so kann die Pflege diplomatischer Beziehungen mit Russland über ein halbes Jahrhundert hinweg für Israel durchaus nützlich sein. Im Jahr 1980 gilt dieser Angriff noch immer als unmittelbar bevorstehend: „Wenn bei der Drucklegung dieser Zeilen die Sowjets noch nicht bis zum Persischen Golf durchgestoßen sind und Israel noch nicht überrannt haben, so ist es unnötig zu sagen, dass diese letzte Aggression der Russen bevorsteht.“ (Malgo: Aufmarsch 97)

Russland braucht Iran als Verbündeten, um auf dem Landweg auf Israel zumarschieren zu können. Aber alles das zeichnete sich 1949 schon ab: „Dann in Iran (Persien) fand kürzlich ein Regierungswechsel statt; die neue Regierung ist russenfreundlich. … Dies ist ein weiterer Schritt zu den reichen Ölfeldern Irans, und für den Einfall in Palästina.“ (S. 37) Und 1980 hieß es: „Noch hat der 'russische Bär' erst Afghanistan eingeheimst, aber bald schon wird er seine Pranke auf den Iran legen.“ (Malgo: Aufmarsch 35)

An solchen Beispielen sehen wir, dass die Demnächsterwartung der Endzeitliteratur sich nicht bloß auf die Wiederkunft Jesu bezieht. Auch für ganz konkrete politische Ereignisse gilt, dass sie immer wieder für die unmittelbar nächsten Jahre erwartet wurden. Ist das wirklich unsere Aufgabe als Christen, uns selbst und andere in dieser Dauerspannung zu halten?

Ich verwende den Begriff „Demnächsterwartung“ zur Kennzeichnung einer Haltung, die das Ende und die damit zusammenhängenden Ereignisse für die nächsten Jahre erwartet. Warum ich dafür nicht einfach den gebräuchlichen Begriff „Naherwartung“ verwende? Dadurch, dass oft davon gesprochen wird, dass Jesus und seine Anhänger in einer Naherwartung lebten (und auch die späteren Christen das tun sollen), auch wenn es bis zum Ende doch noch länger dauerte (dauern könnte), ist dieser Begriff nicht mehr so gut mit einem auf wenige Jahre eingeschränkten Sinn zu verbinden.

Fünning lebte in solch einer Demnächsterwartung. 1949 schrieb er, „dass der Antichrist nun bald erscheinen wird“. Ist dieser vielleicht schon da? Fünning: „ich glaube, dass derselbe schon am Leben ist, doch als Antichrist ist er noch nicht geoffenbart worden …“ (S. 4f; zuvor muss es ja zur Entrückung der Gemeinde kommen.) 40 Jahre später schrieb Gerth über den Antichristen: „Ich gehe davon aus, dass er irgendwo bereits lebt.“ (S. 166) Die Äußerungen sind nahezu austauschbar.

Wir sehen hier, wie die Demnächsterwartung zu einer einseitigen Auswahl von Nachrichten führt.

c) Welche Motive stehen hinter der Demnächsterwartung?

Im Hintergrund der Demnächsterwartung scheint die Überzeugung stehen, dass die Generation, der wir selbst angehören, eine ganz besondere Bedeutung hat:

„Es ist beinahe unglaublich: wir erleben … eine Zeit menschlicher Geschichte mit, in der eine solche Fülle von Prophetie … vor unseren Augen buchstäblich Wirklichkeit wird!“ (Goetz 70)

„Vor unseren Augen entstehen die Staatenbünde für dieses endzeitliche Geschehen! Vor unseren Augen erfüllt sich das göttliche Prophetenwort.“ (Zopfi 65)

„Die Prophetie der Bibel wird Geschichte, Gegenwartsgeschichte. Und wir sind Zeugen!“ (Baar 12)

„Wenn wir offene Augen und Ohren haben, um den gewaltigen Heilsplan Gottes zu verstehen, können wir erkennen, dass wir in der aufregendsten Zeit der Weltgeschichte leben.“ (Gerth 61)

Ähnliche Aussagen konnte man aber auch schon 1949 lesen: „Wir leben heute in einer sehr wichtigen Zeit. … Weissagungen vor Jahrtausenden geschaut und gegeben, gehen heute in Erfüllung. Das war vielen Geschlechtern vor uns nicht vergönnt, zu erleben, das erleben wir.“ (Fünning 45)

Hinter dieser Überzeugung kann vielleicht auch eine Überschätzung der eigenen Bedeutung stehen. So dass ich also denke: 'Mit mir hat die Weltgeschichte ihren Höhepunkt erreicht, mit mir muss sie auch enden, nach mir kann nichts mehr kommen.' Mitunter ist auch - insbesondere bei älteren Menschen - der Wunsch damit verknüpft, nicht mehr sterben zu müssen, sondern unmittelbar in das Reich Gottes hinübergehen zu können.

Übrigens läßt sich der Pietist Johann Albrecht Bengel nicht hier einordnen. Zwar ist er dafür bekannt, die Wiederkunft Jesu für 1836 berechnet zu haben, aber er selbst lebte etwa ein Jahrhundert vor diesem Zeitpunkt. Bei ihm handelte es sich also nicht um die Haltung 'Wir sind die letzte Generation'.

8. Der dritte Fehler: Tendenziöse Zitat-Auswahl

a) Bevorzugt: 'In drei Jahren große Katastrophe!'

Auch von der Bibel her argumentierende Autoren verwenden mitunter gerne „weltliche Autoritäten“, um die eigene Ansicht zu stützen. Das geschieht aber meist nur selektiv. Derselbe Autor, der ein „wissenschaftliches Ergebnis“ zitiert, wo es sich zur Bestätigung der eigenen Ansicht eignet, kann bei anderer Gelegenheit auch durchaus die Unzuverlässigkeit aller Wissenschaft hervorheben - dort, wo seine Ansicht mit wissenschaftlicher Meinung kollidiert.

In ähnlicher Weise führt auch die Haltung 'Wir sind die letzte Generation!' dazu, bestätigende weltliche Größen heranzuziehen, während aber alles andere, was nicht dazupasst, als unmaßgeblich beiseitegelassen wird. So verweist Fritz Hubmer, als er im Jahr 1958 das Ende bevorstehend fühlte, auf Richard Wagner, der das ja schon lange zuvor geahnt zu haben schien: „Mit einem überraschenden Scharfsinn hat Richard Wagner aus der damals sich anbahnenden Entwicklung heraus geahnt, dass um die Mitte des 20. Jahrhunderts der Lauf der Geschichte das endgeschichtliche Weissagungsbild der Offenbarung Johannes erreicht haben könnte.“ (S. 199)

Wird der kommunistische Osten einmal Westeuropa überrollen? Heute können wir in Osteuropa nicht mehr viel Kommunistisches erkennen, aber wie sah das 1988/89 aus? Damals war das noch nicht so deutlich zu erkennen. Folgende Einschätzung werden zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr viele Experten gehabt haben: „Henry Kissinger hat sogar schon behauptet, dass ganz Westeuropa in einigen Jahren kommunistisch sein werde.“ (Gerth S. 90) Bei dem hier zitierten Kissinger handelt es sich zweifellos um einen kompetenten Mann, aber dessen Äußerung liegt schon einige Zeit zurück. Klaus Gerth hatte dieses Zitat nämlich bereits 1982 gebracht (ohne Beleg und ohne Zeitangabe). Wenn er dieses Zitat auch in der „vollständig überarbeiteten und aktualisierten“ Auflage von 1989 unverändert beibehielt, so nahm er damit eine sehr einseitige Auswahl vor, denn dieses Zitat ist sicherlich nicht repräsentativ für die Einschätzung der Situation um 1989 seitens der Experten.

Im Jahr 1982 gab es eine seltene Planetenstellung: Alle Planeten unseres Sonnensystems standen genau in einer Linie. Zu dieser Planetenkonstellation konnte man in Bibel und Gemeinde (1985, S. 305) recht scharfe Worte lesen: „Das war schon ein bemerkenswertes Ereignis, aber zur Ursache für Katastrophen konnte es nur durch unwissende Phantasten hochstilisiert werden.“ Tatsächlich brachte dieses Ereignis auch keine Katastrophen. Nun zitierte Klaus Gerth in seinem 1982 erschienenen (also wohl 1981 geschriebenen) Buch ausgerechnet einen solchen Astronomen, der die Wirkung dieser Planetenparade äußerst stark veranschlagt hatte (nämlich Heinz Kaminski, Honorar-Professor an der Gesamthochschule Essen; meines Wissens hat er keine akademische Laufbahn durchlaufen, d.h. weder Promotion noch Habilitation), der meinte: „Die starken Gravitationskräfte werden die Erde regelrecht auseinanderziehen. … Der Boden der künstlich angelegten Stauseen wird dem ungeheuren Gravitationsdruck nicht gewachsen sein. Riesige Erdrisse sind die Folgen.“ (S. 23) Wenn Gerth gerade eine solche extreme Einschätzung zitiert und sonst keine, geht er sehr selektiv vor.

Der durch Jimmy Carter vermittelte Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel passte überhaupt nicht in die politische Erwartung von Wim Malgo - hatte dieser doch mit dem Besitz der Sinai-Halbinsel durch Israel bereits den von Gott gewollten Endzustand erreicht geglaubt. Daher meinte Malgo, dass dieser Vertrag keinen wirklichen Frieden bringen werde. Als Gewährsmann (etwa als „neutrale Autorität“?) dafür zitiert er Yassir Arafat (Heil 33).

Bei solchem Auswählen erhält man folgenden Eindruck: Bevorzugt wird nicht der kompetenteste Fachmann, sondern derjenige, der die schlimmsten Befürchtungen zum Ausdruck bringt. Dadurch erhält der Leser ein verzerrtes Bild der Lage. Nun beurteile ich die Weltsituation durchaus nicht als rosig. Aber niemandem ist gedient, wenn Bücher mit der Ankündigung von zwar möglichen, aber nicht sehr wahrscheinlichen militärischen Angriffen und ökologischen Katastrophen gefüllt und die Leser damit in eine „apokalyptische Stimmung“ versetzt werden. „Welch apokalyptisches Bild!“ ruft Marius Baar (S. 57). Richtig. Doch es war Baar, der durch eine Zusammenstellung verschiedener Nachrichten dieses Bild erzeugt hat.

„Eine wahrlich angstmachende Aussage!“ Diese Charakterisierung Gerths trifft auf viele in solchen Endzeitbüchern enthaltenen Aussagen zu. Gerth bezieht das auf die 1980 geäußerte Erwartung von Deng Xiao-ping, dass die Sowjetunion - unter Hinweis auf die Invasion in Afghanistan - den Nahen Osten seiner Ölquellen wegen beherrschen will: „Der starke Mann Chinas läßt uns noch wissen, dass sich die Europäer mit der Hoffnung selbst betrügen, den Krieg vermeiden zu können.“ (Gerth 1989, S. 148) Warum brachte Gerth eine solche „angstmachende Aussage“ zu einem Zeitpunkt, wo sie sicherlich nicht mehr aktuell war? (Ganz abgesehen davon, dass ein chinesischer Spitzenpolitiker auch nicht derjenige ist, von dem eine objektive Beurteilung der Sowjetunion zu erwarten ist.)

Es fällt auch auf, dass vorzugsweise solche Zitate zusammengestellt werden, die von besonderen Gefahren in den unmittelbar bevorstehenden Jahren sprechen. Dem Leser wird dadurch suggeriert, dass gemäß übereinstimmender Ansicht auch weltlicher Experten gerade die nächsten Jahre eine besonders dramatische Zuspitzung bringen werden. Das 1981 erschienene Buch von William Goetz zitiert eine Quelle, wonach die Sowjetunion um 1983 einen vorübergehenden großen militärischen Vorsprung vor den USA haben werde, woraus die Versuchung entstehen könnte, diesen Vorsprung in einer Militäraktion auszunutzen (S. 125f). Auch auf einem anderen Gebiet werden die nächsten Jahre Dramatisches bringen: „Experten warnen, … dass Mitte der achtziger Jahre eine besonders starke Erdbebenhäufigkeit eintreten könnte“ (S. 193).

b) Korrektes Zitieren?

Bei der Beurteilung der Auswahl von Zitaten ist auch die Frage aufzuwerfen, ob die Zitate überhaupt stimmen. Abgesehen von Bibelversen, verzichten viele Endzeitautoren teils ganz auf die Belege, teils bringen sie diese nur ungenau. Oft weiß der Leser weder, wann sie geäußert wurden, noch kann er den Zusammenhang nachlesen.

Eine Nachprüfung, ob die Zitate überhaupt stimmen, ist dann auch nicht möglich. Ich nenne hier ein Beispiel für einen zweifelhaften Sachverhalt. Klaus Gerth schrieb 1982: „Vielleicht scheint uns das Wort 'Scherbenhaufen' ein wenig zu grob gewählt. Aber betrachten wir nur den wirtschaftspolitischen Zustand der Bundesrepublik Deutschland zum Zeitpunkt der Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag im Sommer 1981, so finden wir diese Vokabel bestätigt. 'Untergang', 'finanzielles Fiasko', 'furchtbares Defizit', so und ähnlich lauteten die Bezeichnungen der Bundestagsabgeordneten für die Wirtschafts- und Finanzpolitik.“ (S. 138) Sehen wir nun von der Frage ab, ob die wirtschaftliche Situation der BRD durch die Wiedergabe solcher Kennzeichnungen wirklich treffend charakterisiert wurde. In der neubearbeiteten Auflage von 1989 behielt Gerth diesen Abschnitt bei, ersetzte aber das in meinem Zitat kursiv Gedruckte durch folgenden Text:

„mancher EG-Länder (als Beispiel nenne ich Portugal und Griechenland)“ (S. 147)

Die von den Bundestagsabgeordneten verwendeten Ausdrücke bleiben also gleich, nun erscheint diese Diskussion aber so, als hätte sie sich um schwächere EG-Länder gedreht! Subjekte und Ausdrücke bleiben gleich, das Objekt wurde ausgetauscht. Ein solcher Austausch innerhalb eines Zitates wirkt mißtrauenswerweckend.

Auch Wim Malgo paßt Zitate an die veränderte Situation an. 1984 zitierte er einen „neueren Bericht“, in dem z.B. „die jetzige Nachrüstung der USA durch Präsident Reagan.“ angesprochen wurde (Bibel 29). In einer Neuauflage von 1990 wurde aus dem „neueren Bericht“ einfach ein „Bericht“. Die Erwähnung Reagans würde dem Leser zeigen, daß der Bericht schon mehrere Jahre alt ist, so daß die darin angesprochene „jetzige Nachrüstung der USA“ auf 1990 vielleicht gar nicht mehr zutrifft. Malgo verändert das Zitat nun darin, daß der einfach „die jetzige Nachrüstung der USA.“ sagt, ohne aber die Auslassung „durch Präsident Reagan“ zu kennzeichnen. Und an späterer Stelle des Zitates schreibt er anstelle von Reagan-Administration einfach US-Administration. Darf der Leser nicht wissen, daß sich dieses Zitat auf die Zeit Reagans bezieht? Soll dem Leser der Eindruck vermittelt werden, daß es auch 1990 in den USA noch eine Nachrüstung gibt, obwohl das vielleicht gar nicht mehr stimmt? (Falls es doch stimmt, könnte Malgo sich ja auf eine aktuellere Quelle beziehen.) Hier zeigt sich eine äußerst bedenkliche Methode des Zitierens! Wie sehr können wir uns auf Zitate verlassen, wenn sich der Zitierende frei fühlt, diese an manchen Stellen zwecks Aktualisierung einfach auszubessern?

Im selben Buch bringt Malgo auch das fälschlich Heinrich Heine zugeschriebene Gedicht:

„Zerschlagen ist die alte Leier
am Felsen, welcher Christus heißt, …“ (S. 125)

Die Quellenangabe fehlt, eine solche wäre auch kaum möglich. Peter Walter ist den religiösen Äußerungen Heines sowie dem Ursprung dieses Gedichtes nachgegangen (veröffentlicht im factum 1987, Sept. und Okt.). Dabei zeigt er, daß ein Gedicht dieses Inhaltes erstens in der Heine-Forschung völlig unbekannt ist und zweitens zu Heines Denken, auch jenem der späteren Jahre, nicht passen würde. Den Ursprung dieses Gedichtes konnte er bis 1973 zurückverfolgen, wo es (ohne Quellenangabe!) auftaucht. Seither hat es sich in der evangelistischen Literatur verbreitet und scheint dort nicht mehr auszurotten zu sein. Daran wird auch Walters Artikel nicht schlagartig etwas ändern, denn das factum erscheint in einer Auflage von knapp 10000 Stück, das Buch Malgos hat die Million bereits deutlich überschritten (und wurde in über 20 Sprachen übersetzt). Malgos Text ist also 100mal so verbreitet wie der von Walter.

Bei dieser Art der Textproduktion ist auch an die warnenden Worte von Weyer-Menkhoff zu erinnern: „Können christliche Prediger und Schriftleiter es verantworten, so ungenau mit der Wahrheit umzugehen, Prediger, die doch Stimme dessen sein wollen, der die Wahrheit ist?“ (S. 5)

Die Tatsache, daß diese Art von Endzeitliteratur eine so enorme Verbreitung findet, war in Verbindung mit den gewichtigen Mängeln dieser Literatur ein starkes Motiv für mich, mein Buch zu verfassen.

9. Biblische Beurteilung von Fehlvorhersagen

Das Schema 'Wir sind die letzte Generation' führt auch immer wieder zu Präzisierungen, die sich jedenfalls in der Vergangenheit durchwegs als Irrtümer erwiesen haben. Wie sollen wir solche Irrtümer beurteilen? Handelt es sich einfach um Irren, das ja bekanntlich menschlich ist - und daher verständlich und entschuldbar? Oder messen wir hier mit zweierlei Maß - je nachdem, ob es sich um 'Sektierer' oder um anerkannte Evangelisten handelt?

Erinnern wir uns nochmals an die lange Geschichte der falschen Vorhersagen der Zeugen Jehovas. Da fallen uns auch harte Urteile ein. Wie heißt es doch in 5. Mose 18,20-22:

„Ein Prophet, der sich anmaßt, in meinem Namen ein Wort zu verkünden, dessen Verkündigung ich ihm nicht aufgetragen habe, oder der im Namen anderer Götter spricht, ein solcher Prophet soll sterben. Und wenn du denkst: Woran können wir ein Wort erkennen, das Jahwe nicht gesprochen hat?, dann sollst du wissen: Wenn ein Prophet im Namen Jahwes spricht und sein Wort sich nicht erfüllt und nicht eintrifft, dann ist es ein Wort, das nicht Jahwe gesprochen hat. Der Prophet hat sich nur angemaßt, es zu sprechen.“

Auf dieses Kriterium weisen evangelikale ZJ-Kritiker regelmäßig hin. Nun sind die ZJ auch nicht auf den Mund gefallen, und so finden sie zahlreiche Wege der Verteidigung. Der erste Weg heißt Möglichkeit, nicht Sicherheit: 'Die damaligen ZJ hatten lediglich von der Möglichkeit gesprochen, daß es so kommen könnte.'

Inwieweit das stimmt, prüfen wir im nächsten Kapitel. Jedenfalls sind wir hier auf einen wichtigen Unterschied aufmerksam geworden, indem wir stets fragen: Mit welchem Anspruch verkündet jemand seine Endzeitdeutungen?

Denn wir müssen uns davor hüten, jemanden vorschnell als „falschen Propheten“ zu etikettieren. Wie ist jemand zu beurteilen, der sich beim Lesen der biblischen Endzeitaussagen darüber Gedanken macht, wie diese gemeint sein könnten, diese Gedanken jedoch für sich behält; was ist, wenn sich seine Gedanken nachträglich als falsch herausstellen? War dieser Bibelleser nun ein „falscher Prophet“?

In einem solchen Fall wäre eine solche Bezeichnung nicht treffend. Denn es ist sicherlich zu unterscheiden, ob jemand für sich persönlich von einer bestimmten Erwartung überzeugt ist (eventuell auch mit einem vertrauten Freund darüber spricht), oder ob er seine Vorhersage öffentlich bekanntmacht, indem er sie etwa in einem Buch mit hoher Auflage verbreiten läßt. Nur in letzterem Fall tritt er ja wirklich als Prophet auf. Ein weiteres Kriterium hatten wir schon angesprochen: Es ist zu unterscheiden, ob jemand seine Vorhersage als etwas Sicheres oder doch zumindest sehr Wahrscheinliches hinstellt oder bloß von einer Möglichkeit spricht. Dann gibt es noch ein drittes Kriterium: Es ist zu unterscheiden, ob sich jemand auf Gott beruft als Quelle seiner Vorhersage, ob er also „im Namen Gottes“ spricht. Wenn jemand etwas vorhersagt, ohne sich dabei auf Gott als seine Quelle zu berufen, ist er kein „falscher Prophet“ im Sinne von 5. Mose. Dabei denke ich etwa an Vorhersagen in den Bereichen von Sport, Wirtschaft oder Politik ('ich nehme an, daß die Partei xy bei dieser Wahl nicht mehr die absolute Mehrheit bekommen wird …'). Entscheidend ist, ob er sich auf Gott als seine Quelle beruft. Wie dabei der Weg aussieht, auf dem er die Vorhersage von Gott bekommen haben will, scheint mir nicht so wichtig zu sein. Ob er sich also auf eine Vision beruft, oder ob er meint, beim Bibellesen von Gott so erleuchtet worden zu sein, daß er bisher unentdeckte Zusammenhänge erkennt und nun durch Kombination und neuartige Ausdeutung verschiedener Bibelstellen auf diese Vorhersage kommt - in beiden Fällen beruft er sich letztlich auf Gott, der ihm diese Vorhersage übermittelt hat. Etwas anderes ist es natürlich, wenn diese Vorhersage expressis verbis in der Bibel enthalten ist und ein Bibelleser darauf stößt und nun andere darauf hinweist - sollte diese Vorhersage dann nicht eintreffen, so läge die Schuld nicht bei dem Bibelleser, sondern bei der Bibel selbst. Das sollen sich auch alle Endzeitautoren vor Augen halten, wenn sie ihre Auslegungen im Sinne von 'ich lege nur dar, was die Bibel sagt' präsentieren. Ein Versagen ihrer Auslegungen würde dann umso stärker die Bibel belasten.

Betrachten wir noch ein - auch von der WTG selbst zitiertes - konkretes Beispiel für einen falschen Propheten, wie er im Buch Jeremia beschrieben wird. Noch bevor der babylonische König Nebukadnezar Jerusalem erobert hatte, sagte Hananja das baldige Ende dieses Königs voraus. Jeremia dazu: „Der Prophet aber, der Heil weissagt - an der Erfüllung des prophetischen Wortes erkennt man den Propheten, den der Herr wirklich gesandt hat.“ (Jeremia 28,9) Im Bericht heißt es weiter: „Da nahm der Prophet Hananja das Jochholz vom Nacken des Propheten Jeremia und brach es entzwei. Vor dem ganzen Volk erklärte Hananja: `So spricht Jahwe: Ebenso nehme ich binnen zwei Jahren das Joch Nebukadnezzars, des Königs von Babel, vom Nacken aller Völker und zerbreche es.' Der Prophet Jeremia ging seines Weges. “

Man könnte nun versuchen, die Vorhersage Hananjas noch irgendwie mit folgender Begründung zu rechtfertigen: `Gut, seine Zeitangabe hat zwar nicht ganz gestimmt, aber der Inhalt seiner Botschaft war ja doch richtig. Zwar nicht innerhalb von zwei Jahren, aber doch innerhalb eines Jahrhunderts ging seine Vorhersage in Erfüllung.' Das könnte man zwar versuchen, aber Gott macht bei diesen Versuchen nicht mit. Der Bericht über den falschen Propheten endet tragisch: „Im siebenten Monat desselben Jahres starb der Prophet Hananja.“ (Jer. 28,17)

Übrigens verweisen auch evangelikale Endzeitautoren häufig auf diese klassische Stelle 5. Mose 18. So z.B. Lindsey (S. 19f). Dabei denken sie aber bloß an die alttestamentlichen Propheten, nicht so sehr an die Überprüfung ihrer eigenen Vorhersagen. Das deshalb, weil sie ihre eigenen Darlegungen nicht so sehr als „Vorhersagen“ betrachten, sondern eher als Wiedergabe oder bestenfalls Auslegung der biblischen Vorhersagen. Auf dieses mitunter naive Verständnis ihres Auslegens gehen wir im nächsten Kapitel (im Abschnitt: Nur die Vorhersagen der Bibel wiedergegeben?) ein.

10. Der vierte Fehler: Eigene Vermutungen als Dogma

a) Wie Sicherheit zum Ausdruck kommen kann

Haben die ZJ also nur von der Möglichkeit gesprochen, nicht von der Sicherheit? Im Folgenden gebe ich bei wörtlichen Zitaten („…“) in Klammern die Seite meiner Russell-Biographie an, wo dieses Zitat behandelt und wo anschließend die Quelle angeführt wird. Die übrigen Aussagen ('…') entsprechend sinngemäß dem, was man in WTG-Publikationen lesen bzw. mündlich von ZJ hören kann.

Der genannte, von ZJ gerne gesuchte Fluchtweg entspricht jedoch nicht der Wahrheit; eine genaue Betrachtung der Formulierungen zeigt deutlich, daß es um sichere Vorhersagen ging (abgesehen von 1975). Das vollständige Ende der Herrschaft heidnischer Regierungen mit dem Jahr 1914 meinte Russell „als eine in der Schrift fest begründete Tatsache nachgewiesen“ (S. 66) zu haben.

Ganz allgemein ist jedenfalls wichtig, daß wir bei der Einschätzung von Vorhersagen auch den dabei erhobenen Anspruch beachten: Stellte ein Endzeitspezialist seine Deutungen als etwas Sicheres, als etwas Wahrscheinliches oder bloß als etwas Mögliches hin? Ein hoher Anspruch eines Endzeitautors kann auf verschiedene Weise deutlich werden:

Erstens durch die Behauptung, eine bestimmte Behauptung sei sicher richtig. Vgl. das obige Russell-Zitat. Hören wir als evangelikales Beispiel Klaus Gerth: „So verhält es sich hinsichtlich des sowjetischen Angriffs auf Israel. Die Tatsache bleibt bestehen, aber wir wissen die Zeit nicht.“ (S. 79) Daß die Sowjetunion irgendwann Israel angreifen werde, wird hier als Tatsache präsentiert.

Zweitens durch die Rückführung seiner Botschaft auf Gott. Über Russell etwa wurde gesagt: „Er sagte, daß er seine Bücher niemals selbst geschrieben haben könnte. Alles kam von Gott durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes. “ (S. 54) Einige Pfingstler wie David Wilkerson und Steven Lightle beanspruchen, Visionen von Gott empfangen zu haben. Etwas schwächer, aber noch immer stark kann der Anspruch klingen, von Gott besonderes Verständnis für die biblischen Aussagen bekommen zu haben. So sagt Ulrich Hartmann in seinem Vorwort zum Buch Was sagt die Bibel über das Ende der Welt? von Wim Malgo: „Wir sind dankbar, daß der ewige Gott auch Wim Malgo Verständnis gegeben hat, tief in die göttliche Prophetie zu sehen. Es war schon früher so: Immer wieder hat Gott Männer beauftragt, die Menschen zu warnen und sie mit Seinem Plan bekanntzumachen.“ (S. 9f)

Drittens kann ein hoher Anspruch auch in der Forderung, das Buch genau zu lesen, sichtbar werden. So war Russell das Wie des Lesens seiner Schriften wichtig; wenn jemand Russells Bücher nur liest - das wäre „kein Studieren im rechten Sinne des Wortes“. „Ein rechtes Studieren würde heißen, über jedes Wort und jeden Satz nachzudenken.“ (S. 47) Im oben erwähnten Vorwort Hartmanns zu Malgos Buch bittet er den Leser: „Lesen Sie dieses Buch aufmerksam, … Lesen Sie das Buch nicht nur einmal, sondern zwei-, dreimal, und lassen Sie den Inhalt auf sich einwirken.“ (S. 9f)

b) Zeitpunkt offengelassen oder einigermaßen festgelegt?

Es ist bekannt, daß wir den Zeitpunkt für das Ende nicht kennen. Das wird so ziemlich jeder Endzeitautor zugestehen. Das bedeutet aber jetzt nicht unbedingt, daß dieser Zeitpunkt völlig offengelassen wird. Das müssen wir bei dem regelmäßig eingestreuten Eingeständnis, daß niemand Tag oder Stunde der Wiederkunft Jesu weiß, beachten. Diese Begriffe werden dabei nämlich sehr wörtlich genommen: Den genauen Zeitpunkt kennen wir nicht, den ungefähren schon. Darauf kommen wir am Ende dieses Kapitels (sowie in Kap. D,4) noch zu sprechen.

Aber auch sonst dürfen wir in das scheinbare Zugeständnis eines Autors, den Zeitpunkt nicht zu kennen, nicht zuviel hineinlesen. Betrachten wir z.B. Billy Graham. Auf der einen Seite scheint er die Frage nach dem Zeitpunkt offenzulassen: „Nach den Himmelskörpern gemessen, kann die Zeit uns noch zehn oder hundert oder tausend Jahre gewähren; aber es mag uns auch nur noch ein Tag, eine Woche oder ein Monat beschieden sein. Es mag sehr wohl von uns gelten, 'daß dies Geschlecht nicht vergehen wird, bis alle diese Dinge erfüllt werden'. (Mt. 24,34)“ (S. 152) Er grenzt sich auch von jenen ab, die ein Datum genannt haben: „Ich möchte gewiß nicht den Fehler William Millers oder so vieler anderer aufrichtiger, aber übereifriger Gottesmänner machen, indem ich auch nur ein annäherndes Datum für die Rückkehr Jesu angebe. Ich möchte jedoch in allem Ernst darauf hinweisen, daß die Zeiten, in denen wir leben, sich ganz wesentlich von jeder früheren Zeit unterscheiden. Das Tempo ist gesteigert.“ (S. 151; 1954er-Ausgabe S. 215)

Auf der anderen Seite führt Graham den Leser dahin zu glauben, daß der Antichrist aus dem Kommunismus kommen werde: „Vor allem stehen wir der gewaltigen Macht des Kommunismus gegenüber - des größten, bestorganisierten und unverhohlensten Feindes des Christentums, der der Kirche seit den Tagen des heidnischen Roms entgegengetreten ist. Der Antichrist, vor dem die Propheten warnten, daß er in den letzten Tagen erscheinen würde, wächst und nimmt Gestalt an vor unseren Augen - ein kühner, eherner, gut bewaffneter Antichrist, der sich nicht bücken wird, um seine Identität zu verhüllen oder seine Absicht zu verdecken.“ (S. 151f) Durch eine solche Äußerung führt er den Leser doch zu der Annahme, daß die Endzeitereignisse unmittelbar vor der Tür stehen - und nicht vielleicht noch 100 Jahre auf sich warten lassen. Und woher meint Graham zu wissen, daß der Antichrist ein Kommunist sein werde? Etwa hundert Jahre später kann doch die politische Weltsituation ganz anders sein als 1950.

Bei Graham beobachten wir also, einigermaßen widersprüchlich, beides: Einerseits arbeitet er darauf hin, daß jetzt sehr bald das Ende da ist, und gibt auch schon das Lager an, aus dem der Antichrist kommen werde, andererseits äußert er sich auch so, daß die Frage nach dem Zeitpunkt des Endes völlig offen zu bleiben scheint.

Ähnlich ist es auch bei Klaus Gerth: „Es gibt Dinge, die die Bibel klar voraussagt. Die Tatsache eines Angriffs aus dem Norden gehört dazu. Andererseits wissen wir von Voraussagen, bei denen uns Zeit und Stunde nicht klar gesagt werden. So verhält es sich hinsichtlich des sowjetischen Angriffs auf Israel. Die Tatsache bleibt bestehen, aber wir wissen die Zeit nicht.“ (S. 79; unverändert S. 85) Aus dem Eingeständnis, die Zeit nicht zu wissen, darf nicht geschlossen werden, daß Gerth die Zeitfrage völlig offenlassen will. Der „Angriff aus dem Norden“ ist für ihn gleichbedeutend mit einem „sowjetischen Angriff“; d.h. die Sowjetunion wird zu jener Zeit noch bestehen, und das beinhaltete zwar keinen präzisen zeitlichen Rahmen, aber zumindest soviel, daß sich die politische Konstellation bis dahin nicht mehr wesentlich ändern sollte. Es hätte ja die Sowjetunion noch bestehen und den Angriff durchführen sollen.

c) Fehlbarkeitseingeständnis nur als Lippenbekenntnis?

„Wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen?“ (Römer 11,34)

Mitunter beteuert ein Endzeitspezialist, kein Ratgeber Gottes zu sein - wie Friedrich Heitmüller bei der Frage, wie lange es noch bis zur Wiederkunft Jesu dauern wird:

„Wenn wir an die Beantwortung dieser tiefeinschneidenden Frage herantreten, dann sind und bleiben wir uns dessen bewußt, daß wir weder der Ratgeber Gottes gewesen sind, noch auch in das mit sieben Siegeln verschlossene Buch, das den Ratschluß des allmächtigen Gottes enthält, geschaut haben.“ (S. 12)

Mit solchen Aussagen dürfen wir uns jedoch nicht begnügen, sondern müssen beachten, wie der jeweilige Endzeitautor seine Vermutungen dann tatsächlich präsentiert. Mitunter geschieht das in sehr bestimmter Weise, so daß sich solche Eingeständnisse der eigenen Fehlbarkeit und Nicht-Allwissenheit eigentlich als Lippenbekenntnisse erweisen.

Solche Äußerungen finden wir schon beim Begründer der Wachtturmgesellschaft, Charles Russell. Auch diesem galt alleine der Text der Bibel als inspiriert. Da aber nun - knapp vor dem Ende - die Zeit zum Verständnis der prophetischen Aussagen der Bibel gekommen war, hat Gott durch seinen „Kanal“ (d.i. Russell) den Christen gezeigt, wie diese Aussagen zu verstehen sind (S. 54-62). Ähnlich meinte auch Hal Lindsey: „In unserer Generation wurde das prophetische Wort 'entsiegelt', wie es Gott verheißen hatte.“ (S. 215) Und: „Ich glaube, Gott gibt uns heute Erleuchtung für das Verständnis der Heiligen Schrift.“ Daneben kann dann durchaus - wie bei Russell - auch das Eingeständnis der Nicht-Inspiriertheit stehen: „glauben Sie bitte nicht, ich hielte mich für unfehlbar in dem Sinne, wie es die biblischen Propheten unter der Inspiration des Heiligen Geistes waren.“ Und weiter: „Er schenkt uns jedoch keine unfehlbare Offenbarung wie den Verfassern der Bibel.“ Davon darf man sich aber wiederum nicht täuschen lassen, denn es gilt auch: „Ich möchte es dennoch wagen, aufgrund sorgfältigen Studiums der prophetischen Schriften und vieler Veröffentlichungen von gläubigen Theologen einige Voraussagen zu machen, die meiner Ansicht nach auf sicherer Grundlage ruhen.“ Hier wird doch einige Sicherheit beansprucht (ähnlich Lindsey 105).

d) Nur die Vorhersagen der Bibel wiedergegeben?

Bei der Verteidigung der prophetischen Tätigkeit der ZJ kann man mitunter hören: 'Die ZJ haben selbst nichts vorhergesagt; sie haben lediglich auf die Vorhersagen der Bibel hingewiesen.' Hat sich demnach die Bibel geirrt, nicht die ZJ? Dabei wird die Schuld letztlich auf die Bibel abgewälzt. Aber sagt die Bibel wirklich vorher, daß es ab 1914 weltweiten Frieden geben wird? Doch sicherlich nicht. Also haben die ZJ sehr wohl etwas über die Bibel hinaus verkündet. Und für dieses Über-die-Bibel-hinaus sind sie verantwortlich.

Bei evangelikalen Endzeitautoren erleben wir die Tendenz, das im eigenen Buch Dargelegte als (weitgehend) durch die Bibel gestützt anzusehen. Bei Lindsey klingt das so: „In diesem Buch versuchen wir, soweit wie möglich im Hintergrund zu bleiben und die Propheten Gottes zu Wort kommen zu lassen.“ (S. 8) Das mag Lindsey versucht haben, gelungen ist es ihm nicht immer (vgl. unten Kap. E,2). Malgo präsentiert Deutungen der biblischen Endzeitaussagen und redet gegen Ende des Buches den Leser folgendermaßen an: „Lieber Leser, nicht wahr, du hast innerlich gespürt, daß das, was du bis dahin gelesen hast, die Wahrheit ist, zumal es die Bibel so sagt.“ (Bibel 103) Hat wirklich alles, was der Leser bis dahin in Malgos Buch gelesen hat, die Bibel so gesagt?

Wenn ein Autor betont, daß er letztlich gar keine persönliche Meinung äußert, sondern nur wiedergibt, was die Bibel sagt, so klingt das im ersten Moment sehr bescheiden und zurückhaltend. Bei näherem Hinsehen stellt sich aber heraus, daß dahinter ein enormer Anspruch steht: Die Darlegung des Autors ist dann nämlich nicht mehr hinterfragbar, sondern kann bloß widerspruchslos akzeptiert werden. Denn welcher Christ würde es noch wagen, der Bibel widersprechen zu wollen? Im Allgemeinen verbirgt sich hinter einer solchen Darstellungsweise auch ein Stück Naivität. Der Autor kommt gar nicht auf die Idee, daß die biblischen Aussagen vielleicht auch anders gemeint sein könnten, als er selbst sie versteht. So wie er die Bibel versteht, so ist sie wirklich gemeint. Wer daher seine Auslegungen anzweifelt, der zweifelt - so die naive Sicht des Autors - die Bibel an.

In dieser Gleichsetzung der eigenen Bibelauslegung mit der Bibel selbst wird eine dogmatische Haltung sichtbar. Bist du skeptisch gegenüber den „Heilsfahrplänen“? Dann bist du ein Bibelkritiker und ein Rationalist, wie Kurt Koch uns belehrt: „Bibelkritiker sprechen gern in einem verächtlichen Ton von einem sogenannten Heilsfahrplan. Diese neurationalistischen Tendenzen können uns aber in unserer Liebe zum Herrn Jesus und zu seinem Wort nicht irremachen.“ (S. 78) Eine gewisse Mahnung zur Vorsicht findet man jedoch nicht nur bei „Bibelkritikern“, sondern z.B. bei dem bekannten Schweizer Pfingstler Jakob Zopfi: „Die Endzeitzeichen sind nicht zur Erstellung von Heils- und Unheilsfahrplänen gegeben. … Hände weg von festgefügten Zukunftschematas, ja gar Zeitfahrplänen …“ (S. 25)

Wim Malgo mußte die Feststellung machen, daß die von ihm vertretenen Ansichten in Norddeutschland nicht so gut aufgenommen werden wie weiter südlich. Ob das gegen Norddeutschland spricht? Nach Meinung Malgos schon, er zieht daraus weitreichende Schlußfolgerungen:

„Es ist eigenartig, aber auch auf unseren Verkündigungsreisen verspüren wir diese geistlichen Grenzen. Je nördlicher man kommt - zum Beispiel nach Norddeutschland, Skandinavien -, desto schwerer wird das Predigen. … So stellen wir fest, daß der Herr in Süddeutschland und in der Schweiz noch ein großes Volk hat, während weiter nördlich die asiatische Kälte die Gemeinde Jesu überfällt.“ (S. 82)

Die Offenheit für die Botschaft Malgos - die, wie wir in Kap. E,8 sehen werden, durchaus ihre Eigenheiten hat - wird hier also mit Offenheit für Gott gleichgesetzt.

e) Dispensationalismus

Jene Endzeitautoren, die dazu neigen, sich konkret festzulegen, gehören sämtlich zum Lager der Dispensationalisten. Der Name leitet sich von den sieben „Dispensationen“ (= Heilsepochen) mit jeweils unterschiedlichem Rettungsweg ab. Ein Dispensationalist erwartet eine zweifache, durch sieben Jahre getrennte Wiederkunft Jesu: Zuerst eine unsichtbare, bei der die Gemeinde ihm entgegengerückt wird (= Entrückung); daraufhin sollte es zur „großen Drangsal“ während der Herrschaft des Antichristen kommen, der bei der zweiten Wiederkunft Jesu besiegt wird, woraufhin das 1000jährige Reich aufgerichtet wird. Israel als Volk spielt bei ihm auch in der Endzeit eine besondere Rolle. Soviel zu den nächsten Ereignissen in dispensationalistischer Sicht.

Bei einer Diskussion über das Tausendjährige Reich nahmen vier Vertreter teil. Zwecks Unterscheidung haben sich für die Unterscheidung der möglichen Positionen verschiedene Bezeichnungen eingebürgert. Dabei kann man im einzelnen natürlich darüber streiten, ob eine bestimmte Bezeichnung wirklich glücklich und treffend ist. So würde der Vertreter des „Amillenialismus“ lieber von „realisiertem Millenialismus“ sprechen (Clouse 123). Der Vertreter des Dispensationalismus würde auf einen derartigen Namen lieber ganz verzichten wollen und seine Position einfach als die biblische gekennzeichnet sehen: „Die Meinung, die ich selber vertrete, wird oft als 'Dispensationalismus' oder gar 'dispensationalistischer Prämillenialismus' bezeichnet. Ich finde diese bombastischen Namen überflüssig. Ich möchte ganz einfach und in logischer Reihenfolge die biblischen Aussagen zu diesem Thema entfalten, denn die Heilige Schrift lehrt uns ganz deutlich, was wir in der Zeit vor und nach der Wiederkunft Jesu zu erwarten haben.“ (Clouse 51) Diese Haltung ist für Dispensationalisten typisch. So wie sie die Bibel verstehen, so sei sie wirklich gemeint. Natürlich beansprucht jeder Vertreter, die wahre biblische Position wiederzugeben - sonst würde er sich ja korrigieren. Aber die anderen Vertreter würden nicht sagen, die für ihre Position gebräuchlichen Namen sollten abgeschafft werden und stattdessen sollte ihre eigene Position als die biblische, die anderen Positionen dagegen als die unbiblischen bezeichnet werden. Diese feste Überzeugung, die eigene Endzeitsicht sei die eindeutig richtige und sie sei als solche von allen Menschen guten Willens erkennbar, erschwert ein Ernstnehmen der Kritik an der eigenen Position sowie ein Verstehenwollen anderer Positionen. „Darum hat es im Verlauf der letzten Jahre sehr wenige konstruktive Gespräche zwischen Dispensationalisten und den Anhängern anderer Schulen prophetischer Auslegung gegeben.“ (Clouse 77) Dieser Dispensationalismus wurde erstmals im 19. Jahrhundert von John Nelson Darby, einem Repräsentanten der Brüderbewegung, vertreten. Durch die Sog. Scofield-Bibel wurde dieses System weit verbreitet. Man findet den Dispensationalismus aber nicht nur in der Brüderbewegung, sondern auch sehr stark in Pfingstkirchen (und charismatischen Kreisen). Generell kann man sagen, daß Dispensationalisten auch Fundamentalisten sind. Sie betonen also nicht einfach wie andere Evangelikale die Autorität der Bibel, sondern vertreten darüber hinaus ihre Irrtumslosigkeit in all ihren Aussagen. Damit verbunden ist oft die Neigung zu einer wörtlichen Interpretation. So sagt auch Herman A. Hoyt, der dispensationalistische Vertreter, in dem zuvor erwähnten Sammelband: „Die Heilige Schrift sollte immer in ihrem buchstäblichen und normalen Sinn verstanden werden.“ (Clouse 54) Sehen wir einmal davon ab, ob ein Dispensationalist diese Regel selbst konsequent durchhält - ein Kritiker von Hoyts Beitrag bezweifelte das: „Ich fand folgende sechs Beispiele für Bibelstellen, die Hoyt nicht 'buchstäblich' auslegte: …“ (Clouse 87) Es besteht aber wohl nicht nur der Anspruch, sondern auch die Tendenz zu einer sehr wörtlichen Auslegung. Das wird etwa bei der Deutung von Jesu Ausspruch, daß niemand Tag oder Stunde kennt, sichtbar: Dispensationalisten nehmen diese Aussage sehr wörtlich; „Tag oder Stunde“ = genauer Zeitpunkt. Den ganz genauen Zeitpunkt weiß niemand, aber den ungefähren meinen Dispensationalisten sehr wohl zu kennen (aufgrund der „Zeichen der Zeit“). (Näheres zu diesem Ausspruch Jesu in Kap. D,4.)

Die in Teil E näher untersuchten Endzeitautoren sind also durchwegs Fundamentalisten. Für die übrigen Evangelikalen gilt diese Kritik nur zum Teil. Aber auch nicht alle Fundamentalisten vertreten den Dispensationalismus (Etwa Samuel Külling, der Rektor der FETA Basel, lehnt ihn ab.) Betrifft also meine Kritik nur einen kleinen Teil der Evangelikalen? Hier ist zweierlei zu bedenken: Der Absatz dieser Art von Literatur ist jedenfalls enorm groß (im deutschen Sprachraum bringen vor allem die Verlage Schulte+Gerth und Leuchter solche Literatur heraus); nur wenige evangelikale Bücher kommen an diese Absatz-Zahlen heran. Wie auch immer diese Literatur verbreitet wird, sie landet jedenfalls in vielen Händen. Insofern scheint es mir wichtig, auf einige bedenkliche Gesichtspunkte öffentlich hinzuweisen. Dazu kommt, daß manche hier behandelte Erscheinungen, wie etwa der Signalismus (siehe Kap. D,4), in schwächerer Form auch von vielen nichtfundamentalistischen Evangelikalen vertreten werden.

Schließlich ist auch die Wirkung auf außenstehende Beobachter nicht zu übersehen. Es zeigt sich, daß aufgrund der weiten Verbreitung dieser Literatur sie manchen nicht so gut informierten Außenstehenden als repräsentativ für „die Evangelikalen“ gilt. So meinte etwa der „Beauftragte der Evangel.-Luth. Kirche in Bayern für religiöse und geistige Strömungen unserer Zeit“ in einem Artikel, in dem er sich mit New Age kritisch auseinandersetzt: „Für gefährlich bis absurd halte ich allerdings die Reaktionen, die auf New Age aus dem evangelikalen Lager kommen. Daß ein Buch wie 'Die sanfte Verführung' von Constance Cumbey sich einer derartigen Aufmerksamkeit erfreuen kann, ist mir kaum erklärlich. Die dort vorgetragene Theorie von der Verschwörung satanischer, spiritistischer Mächte kann nur die Angst fördern. … Daß sich das evangelikale Schrifttum, welches sich mit New Age beschäftigt, großer Beliebtheit erfreut, soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß es für eine weiterführende Auseinandersetzung kaum hilfreich ist.“ (Erwin Haberer im Deutschen Pfarrerblatt 1988, S. 273-275) Nun ist das erwähnte Buch von Cumbey keineswegs repräsentativ für die Evangelikalen insgesamt, weder für die Verlage noch für die Leser. Denn das 1985 im evangelikalen coprint-Verlag erschienene New Age-Buch von Hans-Jürgen Ruppert fand eine ähnliche Verbreitung wie das von Cumbey, und wohl vor allem unter evangelikalen Lesern. Aber die Gefahr, daß ein von einem evangelikalen Verlag herausgebrachtes und massenhaft abgesetztes Buch als repräsentativ für „die Evangelikalen“ genommen wird, besteht eben. Dadurch sind dann auch die anderen Evangelikalen zur Stellungnahme herausgefordert.

(Eine umfassende theologische Behandlung der Zukunftsthematik bringt Hans SCHWARZ: Jenseits von Utopie und Resignation. Einführung in die christliche Eschatologie. 1991. Da Schwarz lange Zeit in den USA unterrichtete, kennt er auch die dort erschienene Literatur sehr gut. Als Universitätstheologe steht er allerdings dem Dispensationalismus distanziert gegenüber, berücksichtigt ihn aber genauso wie die anderen - religiösen und säkularen - Strömungen. Speziell um die verschiedenen Positionen im Hinblick auf das Millennium geht es in Robert CLOUSE: Das Tausendjährige Reich, 1983, sowie in Werner Stoy: Hoffnung für unsere Erde? Das Tausendjährige Reich, 1985.)

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