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Calvin, Jean - Psalm 31.

Calvin, Jean - Psalm 31.

Inhaltsangabe: David ist aus irgendeiner großen Not oder auch aus mehreren Nöten erlöst worden. Zuerst führt er die Bitten an, die damals, als der Tod ihm drohend vor Augen stand, bei ihm aufgestiegen sind. Daran knüpft er eine Danksagung. Wie ernstlich dieselbe gemeint ist, zeigen die immer wiederholten Lobeserhebungen, mit denen er alle Frommen zu guter Hoffnung ermahnt, weil sie an ihm ein so herrliches und merkwürdiges Beispiel der Güte Gottes sehen.

V. 1 u. 2. Herr, auf dich traue ich. Einige meinen, dass David diesen Psalm gedichtet habe, als er gegen alle Hoffnung aus der Wüste Maon, ohne Schaden zu nehmen, entkommen war (1. Sam. 23, 24 ff.). Diese Annahme ist allerdings nicht zu beweisen, aber auch nicht zu verwerfen: denn ohne Zweifel bezieht sich der Psalm auf eine der größten Gefahren, die David je erlebt, oder vielleicht auf mehrere. Im Eingang berichtet er, wie er damals in seiner Angst und Qual gebetet hat. In diesen Worten offenbart sich eine wunderbare Glut der Empfindung. Als Grund seiner Zuversicht gibt er an, dass er auf den Herrn vertraut habe. Denn er hielt an dem Grundsatz fest, dass wir unmöglich in unserer Hoffnung, die wir auf Gott gesetzt haben, getäuscht werden können. Hierbei beruft er sich allein auf den Glauben. Er verspricht sich vor allem deswegen Rettung, weil er fest glaubt, dass er durch Gottes Gnade und Hilfe bewahrt bleiben werde. Da dieser Gedanke schon früher erklärt ist und uns oft begegnet, so genügt es, mit einem Worte auf ihn aufmerksam gemacht zu haben. Möchten wir alle uns darin üben! Dann könnten wir David nachsprechen und jedes Gebet mit der Vorrede eröffnen, dass unser Gebet aus dem Quell festen Vertrauens auf den Gott entspringt, in dessen Hand unser Heil ruht.

Lass mich nimmermehr (wörtlich: „nicht auf ewig“) zu Schanden werden. Fühlt sich David auch im Augenblick von Gottes Hilfe verlassen, so bittet er doch, dass ihn Gott nicht endlich und für immer verwerfe. Dass er in dieser Weise zeitliche Bedrängnis und wirkliches Verlassensein von Gott unterscheiden kann, stärkt seine Geduld in der Anfechtung. Möglicherweise hat das Gebet aber auch den anderen Sinn, dass Gott in jeglichem Unglück seine Hilfe bereithalten und immer, wenn es nötig ist, seine Hand ausstrecken möge.

Errette mich durch deine Gerechtigkeit! Gott zeigt sich gerecht, wenn er seinen Knechten die versprochene Treue hält. Gottes Gerechtigkeit ist nach einem geläufigen Sprachgebrauch der Psalmen (5, 9; 51, 16 usw.) einfach seine zuverlässige Treue, mit der er alle die Seinen schützt, die seinem Schutz und Schirm sich anvertrauen. David stärkt sich also in seiner Hoffnung durch den Gedanken an Gottes Wesen, da Gott sich selbst nicht verleugnen kann. Nach alledem ist nicht an die zugerechnete Gerechtigkeit zu denken und noch viel weniger daran, dass David an Verdienste erinnerte, um deren Willen der gerechte Gott ihm helfen müsste.

V. 3. Neige deine Ohren zu mir. Diese Worte zeigen uns, von welchem Eifer zum Beten Davids Herz erfüllt war. Denn gewiss sucht er nicht rednerischen Schmuck und Glanz, sondern seine Bilder wollen ein möglichst passender Ausdruck seiner lebhaften Empfindung sein. Dass Gott ihm eilend helfen soll, lässt auf die Größe der Gefahr schließen: wenn die Hilfe nicht alsbald erscheint, muss es bald um sein Leben geschehen sein. Dass Gottes Schutz allein sein Fels und seine Burg ist, darin liegt ein Geständnis, dass er sich ohnedies seinen Feinden unterlegen fühlt: er für sich müsste jeden Widerstand aufgeben.

V. 4 u. 5. Denn Du bist mein Fels usw. Diese Betrachtung schiebt David ein, um nicht nur seinen Gebetseifer, sondern auch seine Zuversicht auf Erhörung zu stärken. Haben wir doch öfter beobachtet, wie er unter seine Gebete Sätze mischt, die zur Hebung von Zweifeln und zur Stärkung der Glaubensgewissheit dienen. Nachdem er also seine Not geschildert hat, gewinnt er gleich neuen Mut, richtet sich auf und behauptet, dass sein Gebet sicher Erfolg haben werde. Denn an die Bitte: „Sei mir ein Fels“ – schließt sich unmittelbar die Aussage: „Du bist mein Fels.“ Daraus sehen wir, dass David sein Gebet nicht aufs Ungefähr ausgestoßen hat, wie die Ungläubigen, die von Gott sich vielerlei zu wünschen pflegen, weil sie in Furcht und Zweifel an der Erhörung unsicher hierhin und dorthin greifen. Davids gewisser Glaube zieht sogar eine weitere Folgerung für sein ganzes zukünftiges Leben: Du wirst mich leiten und führen. Dieser doppelte Ausdruck schildert die göttliche Führung durch gar verschiedene Wege, - etwa in dem Sinne: mag ich über steile Berge klimmen oder mich über holprige Stellen emporarbeiten oder durch Dornen wandern müssen, - immer bin ich gewiss, dass Du als Führer mit mir gehst. Und weil ein Mensch im Blick auf sich selbst stets fürchten muss, dass er falle, setzt David ausdrücklich hinzu: um deines Namens willen. Denn nur weil der Herr für seinen Namen und seine Ehre sorgt, hat er einen Anlass, uns zu helfen: Gottes Name im Gegensatz zu allem Verdienst ist also der einzige Grund unseres Heils. Im folgenden Verse vergleicht David die Nachstellungen und Betrügereien, mit denen seine Feinde ihn zu fangen suchen, mit einem Netze. Wir wissen ja, wie oft solche Ratschlüsse, ihn zu töten, gefasst wurden, wobei es für ihn kein Entrinnen mehr gab. Und da seine Feinde sehr schlau waren und ihn unglaublich hassten, so waren sie so eifrig darauf aus, ihn zu verderben, dass er sich menschlicher Weise vor ihnen gar nicht hüten konnte. Darum redet er den Herrn, der allein imstande ist, solche Schlingen zu durchschneiden, in denen er unglückliche Menschen gefangen sieht, noch einmal an: Du bist meine Stärke.

V. 6. In deine Hände befehle ich meinen Geist. Aufs Neue hält David Gott seinen Glauben vor und bezeugt, dass er so hoch von seiner Vorsehung halte, dass er alle seine Sorgen ihr überlasse. Denn wer sich in Gottes Hand und in seinen Schutz übergeben hat, macht ihn nicht allein zum Herrn über Leben und Tod, sondern verlässt sich auch ruhig unter allen Gefahren auf seinen Schutz. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass nur der allein sein Leben in Wahrheit dem Herrn befehlen wird, der bedenkt, dass ihm von tausend Seiten der Tod droht und dass sein Leben an einem Faden hängt und gleichsam wie ein Hauch ist. So bleibt auch für David in der größten Verzweiflung nichts übrig, als im Vertrauen darauf, dass Gott der Hort und Beschützer seines Lebens ist, ruhig seinen Gang zu gehen. Doch ist es wunderbar, dass obwohl uns alle so vieles beunruhigt, doch kaum unter hundert einer so verständig ist, sein Leben in Gottes Hand zu stellen. Die Menschen leben so fröhlich und sicher in den Tag hinein, als wäre ihr Nest, in dem sie wohnen, vor allem Unglück geborgen. Sobald sie jedoch eine Furcht überfällt, geraten sie vor Angst fast außer sich: die Folge davon ist, dass sie nie zu Gott kommen. Denn entweder täuschen sie sich durch eitle Hoffnungen, oder wenn Zittern sie erfasst und sie vor Furcht wie angedonnert dastehen, empfinden sie nichts von Gottes väterlicher Fürsorge. Quält uns darum eine bange Sorgenhitze oder wirft uns auch plötzlich zu Boden, will sie uns vom rechten Wege abbringen oder doch im Laufe hemmen, so können wir uns allein mit dem Gedanken beruhigen, dass Gott, der unser Leben geschaffen hat, es auch erhalten will: ein anderes Mittel, die Last zu erleichtern und Kummer und Verzweiflung abzuschütteln, gibt es nicht. Wenn nun Gott sich herablässt, die Sorge für unser Leben zu übernehmen und zu tragen, so wollen wir lernen, immer diesen Zufluchtsort aufzusuchen, selbst wenn ein tausendfacher Tod uns droht. Ja, je zahlreichere Gefahren jemandem drohen, umso eifriger muss er sich in diesem Gedanken üben. Dies ist der Schild wider jeden Ansturm von Schwierigkeiten, wider alle Anfechtungen und Stürme: Mag unser Heil vernichtet erscheinen, so wird doch Gott es treulich schützen. Daraus erwächst dann das Gebet, dass Gott seinen Schutz und seine Verteidigung nun auch in die Hand nehmen möge. Solche Zuversicht wird auch einen jeglichen veranlassen, mit bereitwilligem Gehorsam die Pflichten seines Berufs auf sich zu nehmen und unverwandt und furchtlos seinem Ziel entgegen zu gehen. Denn woher kommt es, dass so viele lässig und träge sind, andere treulos ihre Pflicht versäumen? Kommt es nicht daher, dass sie allzu vorsichtig sind, durch Gefahren und Unannehmlichkeiten sich zu sehr schrecken lassen und der göttlichen Vorsehung nichts zutrauen? Kurz, wer nicht in Gottes Schutz ruht, so dass er sein Leben seinem Schutz und Schirm anvertraut, der lernt gar nicht recht, was es heißt, zu leben. Wer hingegen Gott zu Hort seines Lebens gemacht hat, der wird auch mitten im Tode nicht daran zweifeln, dass sein Leben erhalten bleiben wird. Nicht bloß dazu müssen wir unser Leben in Gottes Hand legen, damit er es in dieser Welt erhalte und bewahre, sondern auch damit er es mitten im Tode gegen den Untergang schütze, - wie uns dies Christus durch sein Beispiel gelehrt hat. Denn so wie David wünschte, dass sein Leben trotz der Todesgefahren verlängert werde, so bat Christus, als er am Ende dieses hinfälligen Lebens stand, dass sein Geist im Tode erhalten bleiben möchte (Lk. 23, 46). Wir haben es hier also mit einem allgemeinen Gebet zu tun, in welchem die Gläubigen ihr Leben dem Herrn befehlen, zuerst damit er es mit seiner Hand beschütze, so lange es den Gefahren dieser Welt ausgesetzt ist, darnach dass er es im Tode, der lediglich Vernichtung zu sein scheint in seiner verborgenen Hut bewahre. So wollen wir daran festhalten, dass uns Gott weder im Leben noch im Tode jemals verlässt: denn wen er unter seinem Schutze heil bis ans Ende geleitet hat, den wird er beim Abscheiden endlich zu sich nehmen. Wir haben hier einen der kräftigsten Sprüche der heiligen Schrift, der ganz besonders dazu angetan ist, uns von dem Misstrauen gegen Gott zu heilen: nun können die Gläubigen wissen, dass sie sich nicht ohne Maß und Ziel mit verkehrten Sorgen und Mühen zu quälen brauchen, weiter dass keine Furcht sie von der Bahn der Pflicht abzutreiben braucht, dass sie auch nicht nötig haben, auf der Jagd nach eitlen Hoffnungen und trügerischen Hilfen sich zu verirren und zu Fall zu kommen, dass sie keinem Schrecken zu erliegen noch den Tod zu fürchten brauchen, - denn was vielleicht dem Fleisch Verderben bringt, kann doch die Seele nicht töten. Insbesondere muss es uns aber wider alle Versuchungen wappnen, dass Christus, der im Sterben seine Seele dem Vater befahl, damit auch alle Seelen seiner Gläubigen in Obhut nahm; darum rief auch Stephanus ihn als seinen Hüter an (Apg. 7, 58): „Herr Jesu, nimm meinen Geist auf.“ Weil nun der Geist oder die Seele der Sitz des Lebens ist, so bedeutet der Ausdruck schließlich das Leben selbst.

Du hast mich erlöst. Manche Ausleger übersetzen: „Du erlöst mich,“ – in dem Sinne: „Du wirst mich gewisslich erlösen.“ Ich glaube aber, dass sich David durch Erinnerung an früher erfahrene göttliche Gnadenbeweise in seiner Zuversicht stärken will. Ist es doch für die Zukunft besonders tröstlich zu wissen, dass Gott schon früher unser Erlöser war: so dürfen wir gewiss sein, dass er unser Leben in seine Obhut nimmt. Darauf deutet auch die Anrede: du treuer Gott. Weil der Herr treu und wahrhaftig ist, dürfen wir ihm zutrauen, dass er derselbe bleibt, der er zuvor war: so knüpft David zwischen der Zuversicht des Gebets und der Hoffnung künftiger Hilfe einerseits und den früher erfahrenen Wohltaten anderseits ein festes Band. Es ist, als sagte er zum Herrn: „Herr, der du dir immer gleich bleibst und nicht nach Menschenweise deine Gesinnung änderst, du hast es schon tatsächlich bezeugt, dass du der Beschützer meines Heils bist. Deshalb lege ich meine Seele in deine Hand, da du schon bei Erretter gewesen bist.“ Was David hier in Bezug auf das irdische Leben sagt, überträgt Paulus (2. Tim. 1, 12) auf das ewige Heil: „Ich weiß, an wen ich glaube, und ich bin gewiss, er kann mir bewahren, was mir beigelegt ist, bis an jenen Tag.“ Und fürwahr, wenn schon David so viel Zuversicht aus dieser zeitlichen Befreiung gewonnen hat, so sind wir sehr böse und undankbar, wenn die Erlösung durch Christi Blut uns nicht mit unbesiegbarer Tapferkeit ausrüstet.

V. 7. Ich hasse, die da halten auf eitle Götzen, buchstäblich: „auf trügerische Nichtigkeiten“. Um noch deutlicher auszusprechen, dass sein Glaube sich ganz fest an Gott klammert, beteuert David, dass er sich von sündhaften Zuneigungen, die unseren Sinn von Gott abzulenken pflegen, und an denen die Ungläubigen meistens leiden, frei gehalten habe. Eben dieser Gegensatz macht, wie so oft, die Sache vollends deutlich. „Nichtigkeiten“ sind nicht bloß Zauberkünste, denen die Morgenländer freilich im Übermaß ergeben waren: das Wort ist viel umfassender und erinnert an alle trügerischen Hoffnungen, die uns vom Vertrauen auf Gott abziehen, und mit denen wir uns selbst belügen; mögen wir uns an ihrem prächtigen Schein eine Weile nähren, so werden sie uns endlich doch äffen und im Stich lassen. David bezeugt also, dass er alle solche eingebildeten Nichtigkeiten, mit denen die Menschen ihre Hoffnungen zu nähren pflegen, weggeworfen und sich allein auf seinen Gott gelehnt habe. Da nun aber nicht bloß ein jeder für sich an diesen trügerischen Lockungen der Welt sich berauscht, sondern immer einer den andern verführt, betont der heilige Sänger ausdrücklich, dass ihm die Leute verhasst sind, die mit solchen Lügen sich abgeben. In der Tat müssen wir sie mit Fleiß meiden und fliehen, wenn wir uns nicht mutwillig in ihren schädlichen Betrug verstricken lassen wollen. Im engsten Zusammenhang schließt sich die weitere Aussage an: Ich aber hoffe auf den Herrn. Denn eben darin liegt der Grund, weshalb David die Verführer hasst. Zugleich bezeugt er, dass ein Mensch nur dann dem Herrn sich völlig ergibt, wenn ihm jede verführende Einwirkung ein Gräuel ist.

V. 8 u. 9. Ich freue mich usw. Hier wird eine Danksagung eingeschoben. Viele meinen allerdings, dass David hier das Gebet unterbreche, um ein Gelübde auszusprechen, falls er aus der gegenwärtigen Not erlöst werde. Da hierfür aber kein Grund vorliegt, so neige ich mich mehr zu der Ansicht, dass er hier einen Augenblick im Beten innehält und sich einen guten Ausgang verspricht, für den er mit Recht dankt. Wir dürfen uns nicht darüber wundern, dass in den Psalmen die verschiedenartigsten Gemütsbewegungen miteinander abwechseln, da David in ihnen seine Versuchungen und Glaubenskämpfe beschreibt und dann, wenn er Hilfe bekommen hat, dem Herrn Danklieder singt. So müssen wir uns denn in verschiedene Zeitpunkte zugleich versetzen, wenn David dem Herrn dafür dankt, dass er sein Elend ansieht; darin ist der Erfolg d. h. die Hilfe schon mitbegriffen, wie die Fortsetzung zeigt: und übergibst mich nicht in die Hände des Feindes. Die Wandlung der Lage in ihr Gegenteil lesen wir zwischen den Zeilen: als David auf allen Seiten erdrückend eingeengt war, riss ihn Gott wunderbar heraus. Eben darauf deutet der letzte Satz: du stellst meine Füße auf weiten Raum. Welch plötzlicher und unvermuteter Umschwung!

V. 10. Herr, sei mir gnädig usw. Mit vielen Klagen schildert David die Größe seines Elends und seines Schmerzes, um dadurch den Herrn zur Hilfe zu bewegen. Allerdings bedarf es eigentlich keiner Gründe, Gott zu überreden, aber er gestattet den Gläubigen, vertraulich mit ihm zu reden, wenn sie ihre Sorgen vor ihm ausschütten: und in demselben Maße, wie ihre Leiden drücken, werden sie sich zur Hoffnung auf Hilfe emporarbeiten können, wenn sie ihre Klagen vor Gott bringen. Mögen nun Davids Klagen auch übertrieben lauten, so will er darin doch ohne Zweifel seine innerste Empfindung ausdrücken. Dass seine Augen, dazu Seele und Leib verfallen sind, lässt ersehen, wie schwer und lange ihn die Leiden folterten. Sicherlich war er sanftmütig genug, um nicht gleich bei jedem kleinen Anlass in Hitze zu geraten und sich nicht durch maßlose Traurigkeit aufzureiben. Zudem war er daran gewöhnt, Leiden zu ertragen. So erklärt sich der heftige Ausdruck seines Unmuts nur durch besonders harte und unerhörte Leiden. Übrigens zeigt schon das Wort „Unmut“, dass seine Standhaftigkeit keine innere und leidenschaftslose Ruhe war: sein Schmerz konnte heftig und glühend ausbrechen. Daraus schließen wir, dass die Heiligen oft hart und schwer mit ihren Leidenschaften zu kämpfen hatten, und dass auch ihre Geduld nicht frei von Trauer war. Aber sie kämpften eifrig dagegen an und brachten es dahin, dass sie nicht durch die Menge der Leiden erdrückt wurden.

V. 11. Denn mein Leben hat abgenommen. Durch die Trauer war David so aufgerieben, dass sein Leben und seine Jahre dahinschwanden. Auch diese Worte sind kein Zeichen von Weichlichkeit, sondern vielmehr der Bitterkeit seiner Leiden. Allerdings scheute er es bei anderen Gelegenheiten durchaus nicht, seine Schwäche einzugestehen, um dadurch Hilfe zu erlangen. – Meine Kraft ist verfallen in meinem Kummer. Einige übersetzen dafür: „vor meiner Missetat.“ Das ist sprachlich nicht unmöglich, doch ist es ebenso zulässig und im vorliegenden Zusammenhang sogar empfehlenswerter, an die Strafe der Missetat zu denken. Ist es nun auch richtig, dass David alles, was er je von Leiden zu erdulden hatte, als eine Strafe für seine Schuld ansah, so zählt er doch hier nur seine Leiden auf, ohne ihre Ursachen zu berühren. Es ist also wahrscheinlich, dass er nach seiner Gewohnheit nur dieselbe Sache auf verschiedene Weise ausdrückt.

V. 12. Wegen meiner Feinde usw. Weil David allgemein verhasst war, und die Feinde fast das ganze Volk auf ihre Seite gezogen hatten, so war er auch bei seinen Freunden und Verwandten in einen schlechten Ruf gekommen. Denn das allgemeine Urteil pflegt unsere Herzen wie ein heftiger Strom mit fortzureißen. Er setzt noch hinzu, dass sie vor ihm fliehen, wenn sie ihn von ferne sehen. Denn die Worte: „auf der Gasse“ zeigen an, dass sie ihn keines Grußes würdigten, ja dass sie schon davonliefen, wenn sie ihn von weitem erblickten, um nicht von dem Übel angesteckt zu werden. Sie hielten es für ein Verbrechen und für eine Schande, ihm ihre Freundschaft auch nur im Geringsten zu zeigen.

V. 13 u. 14. Mein ist vergessen usw. Im weiteren Verfolg des gleichen Gedankens klagt David darüber, dass er so von allen vergessen sei, als wenn er bereits tot wäre. Denn wenn die Überlebenden den Toten auch bisweilen ein Andenken bewahren, so tritt doch öfters der Fall ein, dass dieses Andenken untergeht, weil sie gar keinen Umgang mehr mit ihnen haben, und weil die Lebenden die Toten in keiner Weise unterstützen und ihnen helfen können. Dasselbe bestätigt der Vergleich mit einem zerbrochenen Gefäß, der auf die größte Verachtung und Geringschätzung deutet. David will damit etwa sagen: man zählt mich überhaupt nicht mehr mit.

Endlich fügt er hinzu (V. 14), dass viele ihn schmähten und er von Schrecken umgeben war. Fast wäre ich aber versucht, statt „viele“ zu übersetzen: „die Großen“. Denn die Sache wird umso unwürdiger, wenn hervorragende Leute, deren Urteil für andere eine Autorität bedeutet, uns durchhecheln und die Schande auf uns bringen, dass wir Verbrecher wären: denn was von solchen Leuten ausgeht, hat beim Volke schon ein Vorurteil für sich. So ergibt sich ein sehr passender Sinn: David wurde von der ganzen Clique der Vornehmen schmählich verurteilt, ihr Glanz verdunkelte die Unschuld des unglücklichen Mannes. Dies bestätigt auch der Satz: Schrecken ist um und um, wenn sie miteinander über mich ratschlagen. Dies passt besser auf vornehme Leute wie auf das gemeine Volk: und es ist doch von denselben Leuten die Rede wie kurz zuvor. Im Übrigen sehen wir hier, wie schlau diese gottlosen Leute ihre Ratschläge einrichteten, um David zu verderben: sie erregten zunächst Misstrauen gegen ihn, als wäre er ein verbrecherischer und verworfener Mensch. Und während sie ihn mit ihren Schmähungen zerfleischten, deckten sie ihre Frechheit mit dem Schein sittlichen Ernstes: sie berieten über seine Vernichtung, als könne man einen solchen Menschen nicht mehr dulden. So brauchen wir uns nicht zu wundern, dass seine durch so viele Prüfungen gequälte Seele sich tief verwundet fühlte.

V. 15. Ich aber, Herr, hoffe auf dich. David setzt hier allen Versuchungen, durch die man ihn zu überwinden trachtete, die Standhaftigkeit seines Glaubens entgegen, indem er sagt, dass er nicht wankend geworden, sondern vielmehr fest dabei geblieben sei, seine Rettung von Gott zu erhoffen. Er gesteht aber auch, dass sein Mut einigermaßen erschüttert war: nach der Schwachheit seines Fleisches lag er tief gebeugt darnieder. Das ist kein Widerspruch; vielmehr besteht beides miteinander, dass der Schmerz ihm hart zusetzte und alle Lebenskraft nahm – und dass er in guter Hoffnung sich aufrecht hielt und den Herrn unablässig anrief. Mitten in tiefer Finsternis der Traurigkeit und harter Qualen leuchtete doch in seinem Herzen noch das heimliche Licht des Glaubens. Bei allen Seufzern, welche die gewaltige Last seiner Anfechtungen ihm auspresste, sammelt er doch seinen Geist zur Anrufung Gottes. So musste er durch viele Hindernisse sich durcharbeiten, ehe er sein schönes Bekenntnis aussprechen konnte. Darnach gewährt er uns einen Einblick, wie er seine Hoffnung aufrecht erhielt: er bedachte nämlich bei sich, dass Gott ihn niemals verlassen werde. Beachtenswert ist die Form, in welcher er dies sagt: Ich spreche: Du bist mein Gott. Er hat also jeden Zweifel unterdrückt und den Glauben fest in seinem Herzen behauptet. Denn nicht eher wird das Wanken ein Ende haben, als bis eine feste Überzeugung alle unsere Gedanken beherrscht. Übrigens wird David nicht sagen wollen, dass er nur heimlich und still zu sich selbst geredet habe, wobei das sprechende Organ mehr das Herz als die Zunge gewesen wäre, - sondern er hat sich an Gott selbst als an seinen einzigen Zeugen gewendet. Ist doch nichts schwerer als, wenn wir unsern Glauben von der ganzen Welt verspottet sehen, unsere Rede dennoch an den einigen Gott zu richten und uns mit dem Zeugnisse des Gewissens zufrieden zu geben, dass Er unser Gott ist. Und dieses ist endlich auch die wahre Bewährung unseres Glaubens, dass wir, mögen auch noch so heftige Fluten sich gegen uns erheben, mögen auch noch so starke Stürme uns erschüttern, trotzdem an diesem Grundsatze festhalten, dass wir unter Gottes Schutz stehen, und frei zu ihm sprechen: Du bist unser Gott.

V. 16. Meine Zeiten stehen in deiner Hand. Dies ist die Einleitung zu einer weiteren Bitte, mit welcher David dem Herrn seine Rettung noch dringender ans Herz legt. Er spricht aus, dass er unter Gottes Schutz sich vor keinem Zufall und blinden Schicksal fürchtet, welches sonst die Menschen zu schrecken pflegt. Die Meinung ist: Du, Herr, entscheidest darüber, ob ich leben oder sterben soll; mein Leben steht in deiner Gewalt. Die Mehrzahl „Zeiten“ ist nicht zufällig, sondern deutet auf die verschiedenen Zufälle, denen das menschliche Leben in jedem Augenblick ausgesetzt ist. Man darf also keineswegs bloß an den Zeitpunkt des Lebensendes denken: denn David sagt nicht einfach, dass seine Lebenszeit oder seine Tage in Gottes Hand stünden. Ich zweifle nicht, dass vor seinem Geiste eine ganze Reihe entscheidungsvoller Zeiten, täglich drohende Gefahren und unerwartete plötzliche Zufälle stehen, wobei er doch ruhig und sicher sich in Gottes Vorsehung ergibt, weil er weiß, dass von ihr die guten wie die bösen Tage kommen. Wir sehen also, dass David nicht nur im Allgemeinen Gott als den Weltregenten anredet, sondern dass er sein eigenes Leben durchaus in Gottes Hand weiß, - und nicht bloß dies: er weiß auch, dass bei allen Verhältnissen und Wechselfällen Gott seine Hand schützend über ihn hält. Daraus leitet er dann die Bitte ab, dass der Herr ihn aus der Hand seiner Feinde retten möge.

V. 17. Lass leuchten dein Antlitz. Wir sahen bereits früher und werden noch öfter anmerken, dass diese Ausdrucksweise dem allgemeinen menschlichen Gefühl entspricht. Der Mensch glaubt, dass Gott sein Angesicht nicht zu ihm kehre und ihn nicht ansehe, wenn er seine Fürsorge nicht handgreiflich und wirksam zeigt. Unsere Anfechtungen verdunkeln sein Angesicht wie Nebel den Sonnenglanz. Darum bittet David, Gott möge durch augenblickliche Hilfe klar beweisen, dass er ihm günstig und freundlich sei, was im Dunkel der Anfechtungen sich nicht so leicht sehen ließ. Übrigens kann in doppelter Hinsicht gesagt werden, dass Gott sein Angesicht leuchten lässt: wenn er seine Augen öffnet, um unsere Lage hilfreich anzusehen und wenn er uns seine gnädige Gesinnung empfinden lässt. Beides gehört ja untrennbar zusammen, ja eines ergibt sich aus dem andern: doch scheint die erstere Ausdrucksweise entsprechend unserem fleischlichen Empfinden eine Veränderung in Gott zu setzen, die man doch nicht eigentlich aussagen darf. Die andere Redeweise deutet dagegen darauf hin, dass weniger der Herr als vielmehr wir geschlossene und stumpfe Augen haben, wenn er eine Zeitlang sich um unser Elend nicht zu kümmern scheint. Der weitere Gebetsruf: „hilf mir!“ – ist eine Erläuterung des vorangehenden Satzes. Diesen aber schickt David voraus, weil er in einer Lage, die gar keinen anderen Grund zur Hoffnung bot, sich Gottes Güte ermutigend vor Augen stellen wollte.

V. 18 u. 19. Herr, lass mich nicht zu Schanden werden. David fährt fort in seinem Gebet, und um mehr Hoffnung zu bekommen, stellt er sich seinen Feinden gegenüber. Er hält sich vor, dass es doppelt widersinnig sein würde, wenn jene, die durch ihre Gottlosigkeit offen Gottes Zorn herausforderten, ungestraft ausgehen würden, während der Unschuldige, der auf Gott vertraut, getäuscht und zum Gespött würde. Auf diese Weise wird der Vergleich verständlich. Übrigens redet David hier nicht von Hoffnung und Zuversicht, sondern sagt stattdessen: ich rufe dich an. Diese Anrufung, mit welcher man zu Gott flieht, ist der notwendige Ausdruck des Glaubens an seine Vorsehung. Dass die Gottlosen schweigen werden in der Unterwelt d. h. im Grabe, will besagen, dass sie im Tode gebändigt werden sollen, damit sei keinen Schaden mehr stiften können. Schweigen müssen sowohl ihre listigen und treulosen Ränke wie ihre übermütigen gewaltsamen Angriffe. Darum heißt es auch im nächsten Satz (V. 19): Verstummen müssen falsche Mäuler. Dabei ist offenbar an verschlagene Worte und verleumderische Überredungskünste wie an windige Prahlereien zu denken. Denn von den betreffenden Leuten heißt es, dass sie frech wider den Gerechten reden, also ihn hart und schroff anfahren, und dazu stolz und höhnisch. Böse Selbstüberhebung machte Davids Feinde kühn im Lügen, und die Folge davon ist immer Schmähsucht. Denn es kann nicht ausbleiben, dass ein Mensch, der sich mehr anmaßt, als ihm zukommt, auf die anderen mit Verachtung niedersieht.

V. 20. Wie groß ist deine Güte usw. Dieser Vers ist ein staunender Ausruf über die Freundlichkeit und Guttätigkeit Gottes gegen seine Verehrer, die all unser Begreifen übersteigt. Denn Gottes „Güte“ bezeichnet hier seine innere Gesinnung. Besonders nachdrücklich wirkt die Form der Frage oder des Ausrufs: David erzählt nicht einfach von Gottes Freundlichkeit, sondern bricht in Bewunderung aus über die Wohltaten, die er erfahren hat. Ohne Zweifel ist dieser Ausruf ein echter Ausdruck seines Erlebnisses: wunderbarer und unerwarteter Weise war er von seinen Leiden befreit worden. So heißt er die Gläubigen nach seinem Beispiel über ihr eigenes Fassungsvermögen sich zu erheben: sie sollen sich viel mehr versprechen und von der Gnade Gottes viel mehr erwarten, als der menschliche Verstand begreift. Dass Gottes Güte verborgen ist für die, so ihn fürchten, beschreibt dieselbe als deren besonderes wertvolles Eigentum. Denn wenn sie auch in mancherlei Erweisungen sich unterschiedslos auf gottlose und unwürdige Menschen erstreckt, so erweist sie sich doch viel reicher und glänzender an den Gläubigen; und sie allein genießen alle Wohltaten Gottes zu ihrem Heil. Ferner: wenn Gott auch seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse (Mt. 5, 45), ja sich auch den vernunftlosen Tieren gegenüber freigebig erweist, so will er doch im vollen Sinne des Wortes nur ein Vater für seine Kinder sein. Es heißt also nicht ohne Grund, dass Gottes Güte für die Gläubigen verborgen sei, da er nur sie eines näheren und vertrauten Umgangs würdigt, um ihnen seine Gunst zu erweisen. Einige suchen allerdings in diesen Worten einen tieferen Sinn. Sie meinen, dass Gottes Güte deswegen eine verborgene genannt werde, weil Gott, wenn er seine Kinder durch Kreuz und Leiden prüft, seine Gnade vor ihnen verbirgt, obwohl er sie nicht vergisst. Doch wahrscheinlicher ist, dass die Güte deswegen verborgen genannt wird, weil sie ein zurückgelegter Schatz ist. Doch ist es auch zulässig, den Ausdruck aus der Empfindung der Frommen zu erklären, die, wie gesagt, allein die Frucht der Guttätigkeit Gottes in ihrem Herzen genießen, während die Gottlosen durch stumpfe Gleichgültigkeit sich hindern lassen, Gott als den wohltätigen Vater zu erkennen, obgleich sie sich mit seinen Gaben mästen. So kommt es, dass obwohl Gottes Güte alle Teile der Welt erfüllt und einnimmt, sie trotzdem im Allgemeinen nicht erkannt wird. Doch die Absicht des heiligen Sängers wird uns noch deutlicher werden, wenn wir auf den Gegensatz zwischen den Gläubigen und den Fremden achtgeben. Denn gleich wie ein vorsorglicher Mensch, wenn er auch freigebig gegen alle ist, doch seine Kinder und Hausgenossen deswegen nicht beraubt und darauf bedacht ist, dass er seine Familie nicht durch verschwenderische Freigebigkeit arm mache, so sorgt auch Gott, wenn er den Fremden sich freigebig erweist, insbesondere dafür, dass seinen Kindern das, was ihnen gewissermaßen als ihr Erbteil zukommt, erhalten bleibt. Aus dem nächsten Gliede ergibt sich, dass es sich dabei nicht gerade um die ewige Seligkeit handelt, welche den Gläubigen im Himmel zuteilwird, sondern um Hilfe und Wohltaten zur Erhaltung des gegenwärtigen Lebens. Denn Gott will sich zu den Seinen vor den Leuten bekennen, und zwar so handgreiflich, dass auch die Weltmenschen zur Augenzeugenschaft gezwungen werden. Denn wenn die Welt auch mit geschlossenen Augen an allen Werken Gottes vorübergeht und meistens nichts von seiner väterlichen Fürsorge für die Heiligen weiß, so ist es doch sicher, dass er hiervon täglich so glänzende Beweise gibt, dass diese auch den Verworfenen nicht verborgen bleiben können, falls sie nicht selbst dieses Licht, das ihnen entgegenstrahlt, verdecken. Daher verkündigt David mit Recht, dass Gott vor den Leuten seine Güte denen erweise, die auf ihn trauen, weil es sicher ist, dass sie ihn nicht ohne Grund und vergeblich verehren.

V. 21. Du verbirgst sie heimlich bei dir. Wörtlich: „Du versteckst sie in dem Versteck deines Angesichts“. Damit preist David Gottes Gnade besonders in der Richtung, dass sie die Gläubigen vor allem Schaden schützt und bewahrt. Denn da Satan fortwährend und auf mannigfache Weise ihr Glück bedroht, auch die Welt ihnen größtenteils Feind ist, so kann es nicht ausbleiben, dass sie vielen Gefahren ausgesetzt sind. Daher würde ihre Lage, wenn Gott sie nicht mit seiner Hand beschützte und ihnen immer wieder zur Hilfe käme, sehr traurig sein. Übrigens ist der Ausdruck in Erinnerung daran gewählt, dass kurz vorher von der Güte die Rede war, die Gott für die Seinen verborgen hat. Dass Gott die Gläubigen „in dem Versteck seines Angesichts“ verbirgt, ist eine etwas ungewöhnliche, aber sehr treffende Rede: nur wenn Gott auf uns blickt, sind wir sicher und geborgen. Durch diese Lobpreisung wird die Kraft der göttlichen Vorsehung aufs Höchste erhoben. Sie genügt, um Übel jeglicher Art fernzuhalten, da sie mit ihren Strahlen allen Bösen die Augen blendet und ihre Hände schlaff macht. Darauf wird die Hütte deuten, in welcher Gott die Seinen verbirgt. Denn es ist kaum ein genügender Grund, dabei an das Heiligtum zu denken. Geschützt werden die Gläubigen vor jedermanns Trotz. Wir wissen ja, mit welch wütender Gewalt die Verworfenen sich gegen die Guten und Einfältigen erheben würden, wenn Gott sie nicht in Schranken hielte. Aber mag ihre Begierde und ihre Frechheit auch noch so zügellos sein, - Gott beschattet die Guten in wunderbarer Weise durch das Blitzen seines Angesichts, so dass sie ihnen nicht schaden können. Gefährlicher noch als die offene Grausamkeit der Feinde sind ihre zänkischen Zungen, d. h. ihre giftige Schmähsucht. Das hatte David zur Genüge erfahren. Da uns nun mit Recht ein guter Name mehr weit sein muss als selbst das Leben, wollen wir lernen, der Gerechtigkeit nachzujagen und dabei alle falschen Verleumdungen zu verachten. Dabei dürfen wir uns stets daran erinnern, dass es Gottes eigentliche Art ist, die Seinigen gegen ungerechte Beschimpfungen zu verteidigen.

V. 22. Gelobt sei der Herr usw. Jetzt wendet David die allgemeine Lehre, die er aufgestellt hat, auf sich selbst an und verkündigt, dass Gottes Güte sich wunderbar in der Rettung seines Lebens offenbart hat. Da er aber von einer Hilfe spricht, die, als alles verworren und verloren war, plötzlich und unverhofft gebracht wurde, so haben die Erklärer recht, wenn sie meinen, dass zu den Worten: „in einer festen Stadt“ in Gedanken ein „wie“ zu ergänzen sei. Während David allen Schlägen bloßgestellt und allen Ungerechtigkeiten ausgesetzt war, kann er doch rühmen, dass Gottes Hilfe ihm besseren Schutz gewährt habe als eine gut befestigte Stadt oder eine uneinnehmbare Festung.

V. 23. Denn ich sprach in meinem Zagen usw. David gesteht in diesem Verse, dass er es durch seinen Unglauben verdient habe, dass er von Gott verlassen und verworfen werde und zu Grunde gehe. Es war dieses ja allerdings eine Schande vor den Menschen, aber um Gottes Gnade mehr zu verherrlichen, trägt er kein Bedenken, die Schmach seines Fehlers zu offenbaren. Fast dasselbe Bekenntnis wiederholt er Ps. 116, 11: „Ich sprach in meinem Zagen: Alle Menschen sind Lügner.“ Dass solche ungläubigen Reden dem Zagen oder der Bestürzung entspringen, will jedenfalls sagen, dass David sich zu ihnen hinreißen ließ, - nicht aber mit ruhiger und klarer Vernunft einwilligte. So ließ er sich zwar durch die Furcht erschüttern, aber er unterlag nicht: dass Gott ihn verstoßen habe usw., war nicht der Ausdruck einer ständigen Überzeugung. Wir wissen ja, dass die Gläubigen oft durch Schrecken beunruhigt werden und durch unheilige Ungeduld und zu rasche Wünsche zur Voreiligkeit sich fortreißen lassen, aber doch nachher wieder zur Besinnung kommen. Aus dem Zusammenhange geht deutlich hervor, dass Davids Glaube durch diese Versuchung niemals ganz vernichtet wurde: denn er setzt alsbald hinzu, dass sein Gebet erhört worden sei. Wäre sein Glaube erloschen gewesen, so hätte er nicht ernstlich beten können. Er hatte also nur einen Fehltritt aus Übereilung getan. Wenn nun den heiligen Propheten Gottes, der eine so hervorragende Stellung einnahm, das verkehrte vorschnelle Urteilen so in Verzweiflung bringen konnte, wie sehr müssen wir uns dann fürchten, dass unser Mut einmal ganz zusammenbrechen könnte! Davids Bekenntnis soll, wie schon gesagt, zur Verherrlichung Gottes dienen. Doch zeigt sein weiter fortgesetztes Beten, dass sein Glaube zwar geknickt, aber nicht entwurzelt war. Und die Heiligen kämpfen oft in der Weise mit ihrem Misstrauen, dass sie bald schwanken, bald wieder neuen Mut fassen und sich aufraffen, um zu beten. Denn die Schwachheit des Fleisches kann sie selbst dann, wenn sie fast darniederliegen, nicht hindern, sich als unermüdliche Kämpfer Gottes zu zeigen. Doch obwohl David tapfer gegen die Versuchung ankämpfte, erkannte er doch an, dass er der Gnade Gottes unwürdig sei, da er sie gewissermaßen durch seine Zweifel ferngehalten habe.

V. 24. Liebet den Herrn. Nach meiner Ansicht ermahnt David die Frommen hier nicht, Gott zu fürchten und zu ehren, wie viele meinen, sondern er ermuntert sie nur zu guter Zuversicht, als wenn er ihnen befehlen würde, sich ganz dem Herrn zu ergeben, alle ihre Hoffnungen auf ihn zu setzen, und ruhig bei ihm zu bleiben, ohne sich anderswohin ziehen zu lassen. Wie kommt es, dass wir solches Gefallen haben an unseren Trugbildern? Kommt es nicht daher, dass wir an Gott keinen Geschmack mehr finden, wie es doch billig wäre, und dass nicht unser ganzer Sinn auf ihn gerichtet ist? Dass wir den Herrn lieben sollen, fasst hier also in sich, dass wir ihm alle unsere Wünsche unterbreiten sollen. Von Natur wünschen alle Menschen, dass es ihnen gut gehe und dass sie glücklich werden möchten; aber da der größte Teil sich durch die Lockungen der Welt fangen lässt und Lügen und Täuschungen liebt, so wendet kaum unter hundert einer sein Herz in Wirklichkeit Gott zu. Diese Auffassung wird bestätigt durch den Grund, den David gleich nachher anführt. Denn der Prophet ermahnt die Frommen, Gott zu lieben, weil er die Wahrhaftigen behütet. Dieser Ausdruck prägt ein, dass man sich ohne Hinterhalt mit Gottes Schutz allein zufrieden geben soll. Zugleich erinnert er aber, dass man nach einem guten Gewissen und reinen Leben trachten muss, wenn man Gottes Schutz begehrt. Anderseits vergilt der Herr dem, der Hochmut übt. Sehen wir also, wie solchen Leuten alles für eine Zeitlang glücklich von statten geht, so soll kein sündhafter Neid uns beunruhigen: ihre Frechheit, in der sie alles für erlaubt halten, braucht uns nicht zu erschüttern und um alle Fassung zu bringen. Alles in allem will David sagen: mögen auch die Gottlosen sich selbst Beifall klatschen, wenn sie ungestraft ihre Schandtaten verüben, während die Gläubigen in großer Angst und Gefahr sind, so müssen diese sich doch dem Herrn übergeben und sich ruhig auf seine Gnade verlassen, weil er die Wahrhaftigen immer beschirmt und den Stolzen den Lohn gibt, den sie verdienen. Da der Hochmut sich meistens bei den Vornehmen findet, so zweifle ich nicht, dass der Prophet zugleich stillschweigend die Hochmütigen deshalb tadelt, weil sie sich einbilden, dass ihre hohe Stellung nicht nur ein Schild, sondern auch eine uneinnehmbare Burg gegen Gott sei. Weil also ihre Macht sie blind macht und bezaubert, so dass sie sich nicht selbst beherrschen, sondern ohne Maß die Verachteten und Schwachen beleidigen, so sagt der Prophet sehr fein, dass ihnen entsprechend ihrer hohen Stellung, die sie aufgeblasen macht, ein Lohn aufbewahrt sei.

V. 25. Seid getrost und unverzagt. Diese Ermahnung ist noch auf das gleiche Ziel gerichtet. Denn die hier geforderte Standhaftigkeit wurzelt in jener Liebe zu Gott, die uns beseelt, wenn wir mit ganzem Herzen das Heil, das er uns verheißt, erfassen und alle sonstigen Lockungen abweisen. Solch ausdrückliche Mahnung zur Tapferkeit und Standhaftigkeit ist aber keineswegs überflüssig. Denn wenn jemand fest auf Gott vertraut, so muss er sich bereit machen und sich rüsten, vielen Angriffen Satans zu begegnen. Das Erste ist also, dass wir uns ruhig in Gottes Schutz und Schirm übergeben, und dass die Empfindung seiner Güte alle unsere Gedanken beherrscht: das Zweite, dass wir mit fester Standhaftigkeit uns wappnen und mit unermüdlicher Kraft uns rüsten, um immer bereit zu neuen Kämpfen zu sein. Da aber niemand von sich selbst die Kraft hat zu diesem Kampfe, so befiehlt David uns, unsere Hoffnung auf den Geist der Tapferkeit zu setzen und Gott darum zu bitten. Dieses ist wohl zu beachten. Denn hieraus schließen wir, dass wir, wenn Gottes Geist uns an unsere Pflicht mahnt, nicht darauf sehen dürfen, was wir selbst vermögen, noch unsere Pflicht selbst nach dem Maßstabe der menschlichen Kraft messen dürfen, sondern dass wir uns vielmehr aufs Beten legen müssen, damit der Gott, der allein hierzu imstande ist, das ersetze, was uns fehlt.

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autoren/c/calvin/calvin-psalmen/psalm_31.txt · Zuletzt geändert: von aj
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