Calvin, Jean - Der Brief an die Philipper - Kapitel 4.

Calvin, Jean - Der Brief an die Philipper - Kapitel 4.

V. 1. Also, meine lieben und gewünschten Brüder. Nach seiner Gewohnheit schließt Paulus mit eindringlichen Ermahnungen, welche seine Lehren dem menschlichen Herzen so tief wie möglich einprägen möchten. Zugleich sucht er aber die Gemüter mit freundlicher Anrede zu gewinnen, die freilich nicht als leere Schmeichelei, sondern als ein Ausdruck echter Liebe verstanden sein will. Er nennt die Philipper seine Freude und seine Krone, denn er ist darüber erfreut, dass Leute, die er durch seine Arbeit gewonnen hat, im Glauben beharren, so dass er sie in Hoffnung als seinen Ruhm verzeichnen darf für den Tag, an welchem der Herr den Taten, die in seiner Kraft geschehen sind, ihre Krone spenden wird. Ruft Paulus seinen Lesern zu: also bestehet in dem Herrn, so liegt ja darin eine Anerkennung ihres bisherigen Wandels. Sie hatten bereits Beweise standhafter Beharrlichkeit gegeben. Da aber der Apostel wusste, wie schwach Menschen sind, so hielt er es für nötig, sie für die Zukunft zu stärken.

V. 2. Die Evodia ermahne ich und die Syntyche. Man ist allgemein der Ansicht, dass Paulus irgendeinen Streit zwischen diesen beiden Frauen beilegen wollte. Ich möchte in dieser Hinsicht nichts Gewisses sagen, sondern möchte nur darauf hinweisen, dass der Wortlaut eine solche Annahme keineswegs hinreichend stützt. Nach dem Zeugnis, welches die beiden empfangen, haben wir es jedenfalls mit Frauen zu tun, welche das Herz auf dem rechten Fleck hatten. Berichtet doch der Apostel sogar, dass sie (V. 3) mit ihm über dem Evangelium gekämpft hätten. So musste wohl viel daran liegen, die beiden in der Zusammenstimmung zu erhalten, und ein etwaiger Streit unter ihnen wäre ein gefährlicher Schade gewesen; vielleicht genügt allein dieser Tatbestand, die besondere Mahnung zur Eintracht zu begründen. Übrigens fügt der Apostel auch einen Hinweis auf das rechte Einheitsband hinzu: sie sollen Eines Sinnes sein in dem Herrn. Jede Verbindung außerhalb der Gemeinschaft des Herrn trägt ihren Fluch in sich. Aber nichts ist so auseinandergerissen, dass es nicht in Christo eins werden könnte.

V. 3. Ich bitte auch dich, mein treuer Geselle. Der griechische Wortlaut lässt auch die Übersetzung zu: „meine treue Genossin“. Ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, will ich also unentschieden lassen. Keinesfalls aber dürfte man hier den Paulus seine Gattin anreden lassen: denn er war zweifellos unverheiratet (1. Kor. 7, 8). Wir müssen uns also damit begnügen, dass hier irgendein Unbekannter den Auftrag empfängt, sich der beiden Frauen in innerlicher Hilfsbereitschaft anzunehmen.

Welcher Namen sind in dem Buch des Lebens. Das Buch des Lebens ist das Verzeichnis der Gerechten, die vorher verordnet sind zum ewigen Leben (vgl. auch 2. Mo. 32, 32). Dieses Verzeichnis liegt bei Gott. Es ist also nichts anderes, als der ewige Ratschluss, den er bei sich gefasst hat. Hesekiel (13, 9) sagt dafür: die Zahl des Hauses Israel. Ähnlich steht Ps. 69, 29: „Tilge sie aus dem Buch der Lebendigen, dass sie mit den Gerechten nicht angeschrieben werden“, d. h. dass sie nicht unter die Auserwählten gezählt werden, die Gott zu seiner Gemeinde und zu seinem Reiche rechnet. Wollte nun jemand einwenden, dass Paulus voreilig handelt, wenn er die verborgenen Geheimnisse Gottes zu verkünden unternimmt, so antworte ich, dass Gott durch gewisse Anzeichen seine Erwählung ersehen lässt, und dass wir nach dem Maße unserer Erkenntnis daraus immerhin unsere Schlüsse ziehen dürfen. So wird es gelten, Leute, welche die Zeichen der Kindschaft an sich tragen, vorläufig auch als Kinder Gottes einzuschätzen, bis einst die Bücher geöffnet werden, die alles völlig offenbar machen. Ohne Zweifel ist es allein Gottes Sache, jetzt die Seinen zu kennen und einst die Schafe von den Böcken zu scheiden, - aber unsere Sache ist es, aus Liebe alle diejenigen für Schafe zu halten, die sich gehorsam Christo als ihrem Hirten unterordnen, in seinem Schafstall sich sammeln und dort beständig bleiben. Unsere Sache ist es auch, die Gaben des heiligen Geistes, die er nur seinen Auserwählten schenkt, derartig einzuschätzen, dass sie uns als Siegel der verborgenen Erwählung dienen.

V. 4. Freuet euch im Herrn. Diese Ermahnung fügt sich in die Zeitverhältnisse ein. Das Leben der Frommen war damals eine beständige Unruhe: von allen Seiten drohten Gefahren. So konnte es leicht geschehen, dass sie dem Kummer und der Ungeduld unterlagen und abfielen. Paulus aber befiehlt ihnen an, sich trotz aller Widrigkeiten und Beunruhigungen in ihrem Herrn zu freuen. Und sicherlich offenbaren die geistlichen Tröstungen, mit welchen Gott uns stärkt und fröhlich macht, dann am meisten ihre Kraft, wenn die ganze Welt uns zur Verzweiflung treibt. Zu beachten sind auch die Verhältnisse, aus welchen heraus Paulus diese Worte gesprochen hat. Denn dann versteht man erst recht, welch gewaltige Wirkung sie erzielen mussten. Gerade der Gedanke an die Lage des Apostels konnte die Leser wohl erschüttern. Wenn nun aber Verfolgungen, Gefangenschaft, Verbannung oder der Tod sie schreckten, so trat ihnen Paulus vor Augen, der im Gefängnis, mitten in der Hitze der Verfolgungen, in der Angst des Todes nicht nur selbst fröhlich war, sondern auch andere fröhlich machte. Alles in allem: mag kommen, was da will, so werden die Gläubigen stets reichen Grund zur Freude haben, - denn der Herr steht auf ihrer Seite. So ruft Paulus noch einmal: Freuet euch! und prägt damit die ununterbrochene Freude in Gott noch fester und tiefer in unser Herz. Das ist freilich eine ganz andere Freude, als die trügerische, hinfällige und vergängliche Lust der Welt, über welche Christus sein „Wehe!“ ruft (Lk. 6, 25). Allein die Freude in Gott wankt nicht und wird niemals von uns genommen.

V. 5. Eure Lindigkeit, wörtlich Nachgiebigkeit, lasset kund sein. Dieser Satz lässt ein doppeltes Verständnis zu. Einmal könnte Paulus an jene linde Nachgiebigkeit denken, die lieber auf ihr Recht verzichtet, als bei irgendjemandem eine Klage über Härte und Strenge aufkommen lassen möchte. Dann wäre der Sinn: lasset jedermann, der mit euch zu tun hat, ein billiges und menschliches Wesen an euch kundwerden und bei euch erfahren. Empfehlenswerter scheint mir das andere Verständnis, wonach Paulus vielmehr eine Nachgiebigkeit des Geistes meint, die nicht leicht sich durch Unrecht reizen und durch Unglück erschüttern lässt, sondern sich in stetem Gleichgewicht hält. So würden wir hier eine Ermahnung finden, alles mit lindem Gleichmut zu tragen, wie schon Cicero1) sagt: „Meine Seele ist ruhig, weil sie alles als gleich gut annimmt“. Solche Gleichstimmung des Gemüts, welche die Mutter wahrer Geduld ist, empfiehlt Paulus den Philippern. Und zwar soll dieselbe vor jedermann kund und sichtbar werden, indem sie ihre Früchte bringt, je nachdem es die Umstände erfordern.

Der Herr ist nahe. Eine Wendung, welche einen naheliegenden Einwand von vornherein abschneidet. Lehnt sich doch ein fleischlicher Sinn nur zu leicht gegen die Vorschrift auf, die wir soeben vernahmen. Müssen wir die Erfahrung machen, dass sich die freche Laune gottloser Menschen bei Nachgiebigkeit von unserer Seite nur steigert, und dass jeder Beweis von Geduld nur neue übermütige Beleidigungen hervorruft, so werden wir nur schwer unsere Seele in Geduld fassen. So hält man sich denn an das Sprichwort: man muss mit den Wölfen heulen, weil man ja weiß, dass die Wölfe jeden verschlingen, der sich als Schaf gebärdet. Man zieht den Schluss, dass frecher Übermut mit gleicher Gewalt überwunden werden soll, damit niemand ungestraft uns beleidige. Gegen solche Gedanken setzt Paulus die Zuversicht zur göttlichen Vorsehung: der Herr ist nahe, dessen Kraft gegen jeden Übermut, dessen Güte gegen jede Bosheit wird aufzukommen wissen. Wir haben die Verheißung seiner Gnadengegenwart, wenn wir seinem Gebot gehorchen. Wer aber wird die bloße Bedeckung durch Gottes Hand nicht allem Schutze vorziehen, welchen die Welt bereitstellen kann? Herrliches Wort, aus welchem wir vor allem lernen wollen, dass alle Ungeduld nur daher kommt, dass man der göttlichen Vorsehung vergisst! Nur daher kommt es, dass jeder Anstoß uns alsbald ins Wanken bringt, weil es uns nicht klar vor Augen steht, wie Gott für uns sorgt. Dagegen ist das einzige Mittel, unsere Seele stille zu machen, wenn wir uns an die Überzeugung halten, dass weder Glück und Zufall, noch die Laune gottloser Menschen, sondern Gottes väterliche Hand über uns waltet, und wenn wir uns nur ganz dieser Vorsehung übergeben. Wer da weiß, dass Gott bei ihm ist, hat stets eine sichere Zuflucht. Dass der Herr nahe ist, kann übrigens in doppeltem Sinne gesagt werden. Einmal, insofern sein Gericht bevorsteht, und zweitens, insofern er bereit ist, den Seinen Hilfe zu bringen. Im letzteren Sinne ist es hier zu nehmen, wie auch Ps. 145, 18: „Der Herr ist nahe allen denen, die ihn anrufen“. Der Apostel meint also: freilich wären die Frommen übel daran, wenn der Herr fern wäre. Da er sie aber in seinen treuen Schutz genommen hat und sie mit seiner überall gegenwärtigen Hand beschützt, so muss dieser Gedanke ihnen zur Stärkung dienen, damit die Wut der Gottlosen sie nicht schrecke. Dann wird erfüllt, was Paulus weiter sagt (V. 6): Sorget nichts! Gemeint ist ein „Sorgen“, das aus mangelndem Vertrauen auf Gottes Macht und Hilfsbereitschaft geboren wird.

V. 6. Sondern in allen Dingen usw. Eine Mahnung, wie wir sie auch von David und Petrus vernehmen (Ps. 55, 23; 1. Petr. 5, 7), dass wir unsere Sorgen auf den Herrn werfen sollen. Denn wir sind nicht von Eisen, sodass keine Versuchung uns erschüttern könnte. Aber das ist unser Trost und unsere Erquickung, dass wir alles, was uns drückt und quält, auf Gott werfen und uns so davon freimachen können. Dieses Vertrauen gibt unserem Gemüt Ruhe; aber auch nur dann, wenn wir im Beten geübt sind. Es gilt also, sobald uns eine Versuchung anfällt, zum Gebet wie zu einem heiligen Zufluchtsorte sich zu wenden. Wir dürfen unsere Bitten, d. h. unsere Anliegen und Wünsche, im Gebet und Flehen vor Gott kundwerden lassen. So schütten die Gläubigen ihr Herz vor Gott aus, indem sie sich und alles, was sie haben, dem Herrn befehlen. Mag es immerhin einige Erleichterung gewähren, wenn man hier und dorthin nach dem eitlen Troste der Welt ausschaut: der einzig sichere Hafen bleibt doch die Zuflucht zu Gott.

Mit Danksagung. Da viele oft in verkehrter Weise beten, indem sie bitten, als hätten sie etwas von Gott zu fordern; oder gegen Gott murren, als hätten sie Ursache ihn zu verklagen; und andere nicht warten können, wenn ihre Wünsche nicht sofort erfüllt werden, so fügt Paulus zum Gebet die Danksagung. Er will damit sagen: wir müssen das, was wir nötig haben, so von Gott erbitten, dass wir zugleich unser Verlangen seinem Willen unterwerfen und inmitten des Bittgebets uns zur Dankbarkeit für jeden Fall stimmen. Das wird dann sicherlich bewirken, dass Gottes Wille unser Hauptanliegen wird.

V. 7. Und der Friede Gottes. Einige fassen diesen Vers als Gebetswunsch; aber das ist unrichtig. Er ist vielmehr eine Verheißung, welche zeigt, was wir davon haben werden, wenn wir fest auf Gott vertrauen und ihn anrufen. Paulus sagt: wenn ihr dies tut, so wird der Friede Gottes eure Herzen und Sinne bewahren. Die Schrift pflegt die Seelenvermögen des Menschen in zwei Teile zu teilen: Herz und Sinne. Letzteres Wort bezeichnet das aufnehmende Verstandesvermögen, unter ersterem werden alle Willensregungen begriffen. Beides zusammen umfasst also den gesamten Seeleninhalt. Paulus gibt uns die Versicherung, dass, wenn Gottes Friede uns bewahrt, weder verkehrte Gedanken noch Wünsche uns von Gott werden abführen können. Ein „Friede Gottes“ im vollen Sinne heißt aber ein solcher Friede, der nicht von der augenblicklichen Lage der Dinge sich abhängig macht und darum bei jedem irdischen Wechselfall ins Schwanken kommt, sondern der sich auf Gottes festes und unbewegliches Wort gründet. Von diesem Frieden heißt es mit Recht, dass er höher ist denn alle Vernunft. Denn in der Tat liegt dem menschlichen Geiste nichts ferner, als in der größten Verzweiflung noch zu hoffen, Überfluss zu sehen beim größten Mangel und in der größten Schwachheit nicht zu unterliegen, und endlich sich zu versprechen, dass uns nichts fehlen werde, wenn wir von allem entblößt sind, - und das alles auf Grund von Gottes Gnade allein, deren Erkenntnis sich nur durch das Wort und die innere Verbürgung des Geistes erschließt.

V. 8. Weiter, lieben Brüder. Es folgen allgemeine Ermahnungen, die sich auf das ganze Leben beziehen. An erster Stelle empfiehlt Paulus ein wahrhaftiges Wesen: er meint damit ein gutes und reines Gewissen samt den Früchten, die ein solches zeitigt. Zweitens sollen wir ehrbar oder heilig sein, also unserer Berufung würdig wandeln, frei von unheiliger Befleckung. Sollen wir uns drittens gerecht zeigen, so wird damit unser Verhältnis zu den Menschen geregelt, deren keinen wir verletzen oder betrügen sollen. Viertens will uns der Apostel keusch haben, selbstverständlich unseren ganzen Wandel. Aber das alles genügt ihm noch nicht: wir sollen außerdem danach streben, den Menschen lieblich, d. h. angenehm zu erscheinen, soviel sich das mit Gott verträgt. Man soll auch von uns sagen können, was wohl lautet: wir müssen also auf einen guten Ruf bedacht sein. Doch fügt Paulus andererseits wieder hinzu: ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob. In unserer allgemeinen Sittenverderbnis hat sich das Urteil oft so verwirrt, dass man lobt, was im Grunde ein Laster ist. Außerdem dürfen Christen, welche sich nur ihres Gottes rühmen sollen, auch nicht alles darauf abstellen, ein rechtes Lob von Menschen zu empfangen. Paulus will also durchaus nicht, dass man für seine guten Taten nach Beifall und Anerkennung hasche, und noch weniger, dass man sein Leben nach dem allgemeinen Urteil gestalte: vielmehr sollen wir auf lobenswerte Werke nur deswegen halten, damit wir die Gottlosen und die Feinde des Evangeliums, welche nur zu gern die Christen verspotten und herabsetzen, zur Anerkennung eines christlichen Wandels zwingen. Heißt es endlich von allen den genannten Tugenden: dem denket nach (d. h. darauf seid bedacht), so meint der Apostel selbstverständlich, dass dem Nachdenken auch die Tat folgen soll.

V. 9. Welches ihr auch gelernt und empfangen und gehört und gesehen habt an mir. Durch diese Häufung ähnlicher Worte gibt Paulus zu verstehen, dass er in dieser Weise fortwährend gepredigt hat. So prägt er ein: dies und nichts anderes war meine Lehre, mein Unterricht, meine Rede bei euch. Demgegenüber wussten die Heuchler nur immer wieder auf die Zeremonien zu drücken. Wie hässlich wäre es, wenn die Gemeinde solch heiliger Unterweisung, die sie empfangen und reichlich genossen hatte, den Rücken kehren würde! Übrigens kann Paulus ausdrücklich erinnern, dass die Philipper das alles auch an ihm „gesehen“ haben. Das ist ja die erste Forderung, die an einen Prediger gestellt wird, dass er nicht nur mit seinem Munde, sondern auch durch sein Leben predige, und die Wahrheit seiner Lehre durch seinen guten Wandel beweise. Paulus konnte seiner Ermahnung vollen Nachdruck geben, indem er darauf hinwies, dass er durch sein Leben nicht minder wie durch seine Worte als Lehrer und Erzieher dastand.

So wird der Gott des Friedens mit euch sein. Nicht bloß, wie es eben hieß, der Friede Gottes, sondern der Gott des Friedens selbst soll mit uns sein. Denn wenn Gott zu uns kommt, bringt er jegliches Gut mit sich. Wir sollen wissen, dass der Gott, der alles gut und glücklich wendet, uns spürbar nahe sein wird, wenn wir uns nur eines frommen und heiligen Wandels befleißigen.

V. 10. Ich bin aber höchst erfreut. Diese Aussprache herzlicher Dankbarkeit will vorbeugen, dass den Philippern nicht etwa ihre freundliche Spende nachträglich leid werden möchte. So pflegt es ja zu gehen, wenn wir Grund zu der Annahme haben, dass man unsere Leistungen verachtet oder gering schätzt. Sie hatten dem Apostel durch Epaphroditus Unterstützungen gesandt. Deren Empfang bestätigt er nun und spricht dabei seine Freude aus, dass sie wieder wacker worden sind, wörtlich: dass sie neuen Trieb empfangen haben, für ihn zu sorgen. Diese Wendung erinnert an einen Baum, dessen Lebenssaft im Winter sich zurückzieht, der aber im Frühling Blüten zu treiben beginnt. Doch sofort schränkt der Apostel seine Aussage wieder ein, damit es nicht den Anschein gewinne, als wolle er sich über frühere Vernachlässigung beklagen. Er stellt also ausdrücklich fest: wiewohl ihr allewege gesorgt habt, aber die Zeit hat es nicht wollen leiden. So schiebt er die Schuld auf die Ungunst der Zeit.

V. 11. Nicht sage ich das des Mangels halber. Paulus verbessert sich zum zweiten Mal: denn es soll nicht der Verdacht aufkommen, dass er kleinmütig gewesen und durch das Unglück gebrochen. Aber er braucht die Philipper nur an seine ihnen wohlbekannte vorbildliche Standhaftigkeit und Anspruchslosigkeit zu erinnern. So kann er wohl sagen, dass ihre freundliche Gabe ihm Freude bereitet: aber er würde auch einen etwaigen Mangel geduldig getragen haben. Bemisst sich doch der „Mangel“ nach der Empfindung, die man davon hat. Denn wer mit seinem von Gott bestimmten Lose zufrieden ist, fühlt im Gemüte niemals Mangel: ich habe gelernt, bei welchen, d. h. in welchen Umständen ich bin, mir genügen lassen. Warum? Weil die Heiligen wissen, dass es so Gottes Wille ist. Ihr Genüge bemessen sie also nicht nach dem, was äußerlich vorhanden oder nicht vorhanden ist, sondern nach dem Willen Gottes, den sie aus den gegebenen Verhältnissen ablesen. Denn es steht ihnen fest, dass Gottes Vorsehung und Wohlgefallen ihr Leben regiert.

V. 12. Ich kann niedrig sein und kann hoch sein. Paulus versetzt sich in gegensätzliche Lagen und spricht es aus, dass sein Geist sich in alles schicken kann. Gewöhnlich macht das Glück den Menschengeist übermäßig aufgeblasen, das Unglück wirft ihn tief darnieder. Der Apostel aber weiß nichts von diesem doppelten Fehler. Er vermag auch die Niedrigkeit zu tragen. „Hoch“ und „satt“ zu sein versteht ein Mensch, der nüchtern und mäßig unter Danksagung zu gebrauchen weiß, was er hat, zum Verzicht auf alles bereit, wenn es Gottes Wille sein sollte, nach Vermögen mitteilsam für die Brüder und frei von Überhebung. In dieser Weise „hohe“ und „satte“ Tage zu tragen, ist viel schwerer, als Armut zu tragen, ist eine hohe und seltene Tugend. Wer aber ein wahrer Christ sein will, muss sich in dieser Wissenschaft von Paulus üben lassen. Dabei soll man sich aber derartig an ein mäßiges Leben gewöhnen, dass man es nicht hart und drückend empfinden würde, wenn einmal der Überfluss schwinden sollte.

V. 13. Ich vermag alles durch Christus. Paulus hatte sich hoher Dinge gerühmt. Nun möchte er weder selbst in den Ruf der Selbstüberhebung kommen, noch anderen Anlass zu törichter Prahlerei geben. Darum fährt er fort, dass Christus es ist, der ihm so starken Mut verleiht. Was der Apostel kann, vermag er in Christo, nicht in eigener Kraft: Christus muss die Stärke geben. Daraus wollen wir entnehmen, dass Christus auch in uns sich stark und unbesiegbar erweisen wird, wenn wir im Bewusstsein der eigenen Schwachheit uns allein von seiner Kraft tragen lassen. Wenn übrigens Paulus „alles“ vermögen will, so meint er nur alles, was im Kreise seiner Berufung liegt.

V. 14. Doch ihr habt wohlgetan usw. Wie weise und vorsichtig verfährt der Apostel in jeglicher Beziehung! Er schaut nach allen Seiten aus, damit er nirgends Anstoß gebe. Seine Standhaftigkeit rühmte er nur, um dem Gedanken vorzubeugen, dass der Mangel ihn niedergedrückt habe. Nun aber sorgt er wieder, dass seine hohe Sprache nicht nach Geringschätzung der Wohltat klingen möchte, welche die Philipper ihm erwiesen. Denn solche Geringschätzung würde nicht bloß unfreundlich und hart, sondern auch hochfahrend heißen müssen. Zugleich möchte die Anerkennung den Philippern wohl auch die Freudigkeit erhalten, gegebenen Falls einem anderen unter Christi Dienern zu Hilfe zu kommen.

V. 15. Ihr aber von Philippi wisst usw. Wahrscheinlich fügt Paulus dies zu seiner Entschuldigung hinzu, weil er von den Philippern öfters etwas angenommen hatte. Denn wenn die übrigen Gemeinden in dieser Beziehung ihre Pflicht getan hätten, so musste der Schein entstehen, als sammle er einen förmlichen Überfluss ein. So wird ihm das Bedürfnis, sich selbst zu reinigen, zum Anlass, die Philipper zu loben. Und dies Lob erlaubt es seinem anspruchslosen Sinne, die anderen zu schonen. Möchten auch wir nach des Paulus Vorbild niemals uns gar zu geneigt zum Nehmen zeigen und dadurch bei den Gläubigen in den Verdacht unersättlicher Habgier bringen! Übrigens braucht der Apostel die Philipper nur zu erinnern, dass sie selbst wissen, wie die Sache steht: sie brauchen dafür keine Zeugen. Die Bereitwilligkeit zur Hilfeleistung pflegt ja bei uns zu steigen, wenn wir wissen, dass andere diese Pflicht versäumen. Zeigen sich aber schon andere freigebig, so pflegt unsere Gabelust sich zu mindern.

Nach der Rechnung der Ausgabe und Einnahme. Bei einem Konto steht die Ausgabe auf der einen, die Einnahme auf der anderen Seite, und beide Posten müssen sich die Waage halten. Genau so stand auch die Rechnung zwischen dem Apostel und seinen Gemeinden. Paulus verkündigte ihnen das Evangelium: sie waren verpflichtet, ihm dafür als Gegenleistung seinen Lebensunterhalt zu gewähren, - wie er an einer anderen Stelle sagt (1. Kor. 9, 11): „So wir euch das Geistliche säen, ist es ein groß Ding, ob wir euer Leibliches ernten?“ Hätten daher die anderen Gemeinden für des Paulus Unterhalt gesorgt, so würden sie ihm damit kein Geschenk gemacht, sondern nur ihre Schuldigkeit bezahlt haben. Denn durch seine Predigt des Evangeliums besaß er bei ihnen ein Guthaben. Sie hatten dasselbe aber nicht beglichen, weil sie keine Aufwendungen für ihn machten. Welch schändliche und unwürdige Undankbarkeit, einen solchen Apostel, von dem sie wussten, dass sie ihm mehr schuldig waren, als sie bezahlen konnten, zu vernachlässigen! Und wiederum, welche Milde dieses heiligen Mannes, dass er so leicht und mit so mildem Herzen ihre Hartherzigkeit hinnimmt, dass er sie nicht einmal mit einem bitteren Worte anklagt!

V. 17. Nicht dass ich das Geschenk suche. Aufs Neue weist er die Ansicht zurück, als sei er unbescheiden in seinen Ansprüchen. Die Philipper sollten es nicht als eine unberechtigte Zumutung empfinden, dass sie allein die Rückstände der anderen decken mussten; sie sollten nicht meinen, Paulus triebe Missbrauch mit ihrer Bereitwilligkeit. Er kann es bezeugen, dass er viel weniger auf seinen, als auf ihren Vorteil bedacht ist. Er sagt: was ich von euch erhalten habe, kommt euch zugute, denn um so viel, als ich von euch empfangen, wächst euer Vermögen, da ebenso viele Posten euch als eingezahlt gutgeschrieben werden. Dies wollen nämlich – also völlig im Rahmen des Gleichnisses – die Worte von der Frucht besagen, welche reichlich, (wörtlich „überfließend“, also auf der Seite der Einnahmen) in der Rechnung der Philipper sein soll.

V. 18. Denn ich habe Alles, und habe überflüssig. Mit vollster Deutlichkeit bestätigt Paulus noch einmal, dass er genug habe. Ein schönes Zeugnis stellt er der Freigebigkeit seiner Gemeinde aus, indem er sagt: ich bin erfüllt. Ohne Zweifel war es nur eine mäßige Summe, die man ihm geschickt hatte, aber er sagt, dass er damit Überfluss habe bis zur Sattheit. Doch noch größer ist das Lob, das er bald nachher ihrem Geschenk spendet. Dasselbe heißt ein süßer Geruch, ein angenehmes Opfer, Gott gefällig. Was kann man mehr wünschen, als dass unsere Wohltaten zu heiligen Opfern werden, welche Gott aus unseren Händen annimmt, und deren Wohlgeruch ihn erfreut? In gleichem Sinne sagt Christus (Mt. 25, 40): „Was ihr getan habt Einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Dieser bedeutungsvolle Vergleich mit dem Opfer lehrt uns, dass wir in solchen von Gott befohlenen Liebespflichten gar nicht bloß Menschen etwas tun, sondern dem Herrn selbst einen geistlichen und heiligen Dienst leisten, wie es im Hebräerbrief (13, 16) heißt: „solche Opfer gefallen Gott wohl.“ Aber wehe über unsere Trägheit! Gott lädt uns in ehrenvollster Weise ein, seine Priester zu werden, er gibt uns selbst in die Hand, was wir opfern sollen, - und dann unterlassen wir das Opfer und verzehren, was zu heiliger Darbringung bestimmt ist, nicht bloß in gewöhnlichem Gebrauch, sondern verschleudern es auch oftmals zu schmählichem, schmutzigem Genuss! Die Altäre, auf welche wir nach unserem Vermögen Opfer legen sollten, sind die Armen und die Diener Christi. Aber an ihnen geht man vorüber und vergeudet seinen Besitz für allerlei Prunk, steckt ihn in die Kehle, trägt ihn in die Hurenhäuser, wendet ihn in prächtige Bauten!

V. 19. Mein Gott aber wird erfüllen usw. Die Wunschform „mein Gott erfülle“ will ich nicht durchaus verwerfen: indessen empfiehlt sich unsere Übersetzung mehr. Ausdrücklich sagt der Apostel „mein Gott“, weil der Herr als ihm getan erachtet und annimmt, was man seinen Knechten erweist. Die Philipper hatten also in Wahrheit auf Gottes Acker gesät, von dem sie eine sichere und reiche Ernte erwarten dürfen. Und der Lohn, welcher ihnen verheißen wird, gilt nicht nur für das zukünftige Leben, sondern auch für die Notdurft des gegenwärtigen. Paulus ruft ihnen zu: meint nicht, dass solche Gaben euch ärmer machen; der Gott, welchem ich diene, wird euch reichlich alles geben, dessen ihr bedürfet. Gott wird unsere Notdurft in Herrlichkeit, d. h. herrlich und reichlich ausfüllen. An seine Vermittlung in Christo Jesu erinnert Paulus noch, weil in seinem Namen dem Herrn angenehm wird, was wir tun.

V. 20. Gott aber, unserm Vater, sei Ehre! Dies kann am Schlusse des Briefes eine allgemeine Danksagung sein, vielleicht aber auch im Anschluss an das Vorige ein besonderer Dank im Hinblick auf die Freigebigkeit der Philipper. Denn die Unterstützung konnte Paulus ihnen doch nur insofern zurechnen, dass er sie zugleich auf Gottes Erbarmen zurückführte.

V. 21. Es grüßen euch die Brüder, die bei mir sind. In der Reihe der Grüßenden erscheinen zuerst des Paulus nähere Genossen, dann (V. 22) alle Heiligen, d. h. alle Glieder der römischen Gemeinde, sonderlich aber die von des Kaisers Nero Hause. Diese letztere Notiz erscheint besonders bemerkenswert. Welch seltener Erweis des göttlichen Erbarmens, dass das Evangelium bis in diesen Abgrund aller Verbrechen und Laster durchzudringen vermochte! Davor müssen wir umso mehr bewundernd stille stehen, als überhaupt im höfischen Wesen nur selten ein heiliger Wandel Raum findet.

1)
Ein römischer Staatsmann und Philosoph im ersten Jahrhundert vor Christi Geburt.
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