Geleitwort zum zweiten Band von Paul Wernle.

Geleitwort zum zweiten Band von Paul Wernle.

Die zweite Hälfte unserer Calvinbriefe setzt in einer der schwersten Zeiten des Genfer Reformators ein, da sich zu der unsichern Lage in Genf, den sich steigernden Anfeindungen aus dem Bernbiet, den immer gleich trostlosen Verfolgungsberichten aus Frankreich die Kunde vom Zusammenbruch des englischen Reformationswerks und dem jammervollen Los, das den aus England geflohenen Evangelischen von den dänischen und deutschen Lutheranern bereitet wurde (397, 399, 400, 401), gesellte. Gerade Calvins größter Erfolg in den letzten Jahren, seine Verständigung mit den Zürchern, brachte, sobald sie 1551 im Druck veröffentlicht wurde, den Lutheranern den scharfen Gegensatz der calvinischen Abendmahlslehre zur lutherischen erst zum Bewusstsein und entfesselte den glücklich eingeschlafenen innerprotestantischen Streit zu unerhörter Lebendigkeit. Calvin täuschte sich erheblich, wenn er meinte, es in diesem Kampfe nur mit einigen extremen überlutherischen Eiferern zu tun zu haben, die er dann durch Freundschaftsbezeugungen und literarische Geschenke an die sächsischen Fürsten (406) und Pfarrer (482) im eigenen Lager unschädlich zu machen hoffte. Er musste erleben, dass hinter diesen Eiferern die ganze lutherische Theologensippschaft stand, auch sein guter Freund Brenz (452, 453, vgl. 665, 716), und dass Melanchthon, der einzige, der ähnlich wie er in diesen Fragen dachte, durch keinen noch so energischen Weckruf Calvins zu freimütigem Bekenntnis, aus seiner Reserve aufzuscheuchen war (411, 443, 460). An allen Orten, wo Reformierte unter einem lutherischen Fürsten oder Magistrat mit Lutheranern zusammenwohnten, beginnen seit dem die Drangsalierungen ihres Gottesdienstes und ihrer Gemeindeordnung, in Wesel ( 396, 510, 718), Frankfurt (475, 486, 489, 501, 709, 714), Straßburg (409, 457, 732, 745), Montbeliard, - selbstverständliche Dinge vom Grundsatz des Territorialkirchentums aus, aber für Calvin eine entsetzliche Endeckung, behandelt zu werden, „als hätten wir eine andere Religion“ (522).

Ihm blieb die Einigung des Protestantismus eines der Hauptziele seiner Arbeit in den nächsten Jahren. Es war ihm ganz selbstverständlich, dass er die höhere Einheit zu den Abirrungen rechts und links besitze, mehr noch, dass er Luthers Geist und eigentliche Meinung vertrete weit besser als die jetzigen „Affen Luthers“ (444, 621, 623). Käme nur ein Religionsgespräch der Protestanten zustande unter Teilnahme Melanchthons und anderer Gemäßigter, so würde die Wahrheit mit Hilfe seiner dialektischen Überlegenheit die große Mehrzahl gewinnen. Streng Reformierten wie Bullinger und Pietro Martire Vermigli ist er dafür als zweiter Butzer verdächtig geworden (433, 458, 542), der den Lutheranern viel zu weit entgegenkomme und die mit Zürich erzielte Vereinbarung wieder gefährde; die Freundschaft mit Bullinger drohte zu Zeiten wegen dieses von Calvin so zäh festgehaltenen, von den Zürchern so bestimmt abgelehnten Gesprächsprojekts in Scherben zu gehen. Als gar Beza und Farel auf einer Bittreise für die verfolgten Waldenser die Hilfe der deutschen Theologen und Fürsten durch ein zweideutiges Bekenntnis erkauften, das sie vor den Zürchern verheimlichten, welche Mühe kostete es Calvin, ohne Preisgabe seiner Freunde die schweizerische Union zusammenzuhalten (527, 532, 533, 536, 537, 544)! Es ist einer der Punkte in seinem Leben, wo Opportunismus und Gewissen in ihm selber sich bekämpften. Für die Wahrheit seines Lebenswerks sorgte am besten der durch gar keine Freundlichkeit zu besänftigende Eigensinn der lutherischen Gegner, die ihm zuletzt sogar in seiner französischen Heimat mit ihrer Augustana bedrohlich wurden (von 664 an). Der Riss war durch keine Union mehr heilbar, aber das mit so zäher Hingabe festgehaltene Ziel der protestantischen Einheit in allen Ländern macht doch die überragende Größe dieses Reformators aus.

Das allerwichtigste und die Voraussetzung für jeden Erfolg in der großen Welt war für ihn die Klärung der Genfer Verhältnisse im Jahre 1555, da die immer stärkere Französisierung Genfs den Fremdenhass der Alt-Genfer in einem nächtlichen Tumult zum Explodieren brachte und Calvin den willkommenen Anlass gab, unter dem Vorwand einer großen Staatsverschwörung mit der Partei Perrin ein für allemal fertig zu werden (451, 453, 454, 466). Freilich um den Preis, dass er für eine Anzahl Jahre von den Genfer Verbannten als der Urheber aller Folter- und Henkersqualen verschrien wurde zu all dem, was man von Servet und Bolsec her schon von seiner Grausamkeit erzählte, hinzu, dass insbesondere der mächtige Nachbarkanton Bern allen Lästerern Calvins Freiheit und Ermutigung gab und den abgelaufenen Burgrechtsvertrag nur unter den für Genf demütigendsten Bedingungen zu erneuern gewilligt war, zuletzt sogar die unbequeme Calvinistenpartei in der Waadt, Viret an der Spitze, zum Land hinausjagte (591, 597). Dadurch ist Calvin der Sieg in Genf unendlich versauert worden; wenn man von Schuld auf seiner Seite reden will, so hat ihm wirklich die Strafe nicht gefehlt. Welche Mühe haben ihm nur diese Burgrechtsverhandlungen mit Bern bereitet (466, 474, 483, 494, 504, 507, 519, 521, 542, 550, 589, 617), wie hat er aber auch den Zürcher Rat durch Bullinger (617) und die Basler Schiedsrichter durch seinen Agenten in Basel, den Arzt Gratarolo (589), zu bearbeiten gewusst! Und aus dem Zusammenbruch der Waadtländischen Kirche entstand die Genfer Akademie, die „Pflanzschule der Pfarrer für ganz Frankreich“ (748), - zu schweigen von der Überflügelung Berns durch Genf an weltgeschichtlicher Bedeutung überhaupt. In den Briefen der letzten Jahre ist von den Anfeindungen aus Bern nicht mehr die Rede und nur die übliche defensive Trägheit der Berner Hilfstruppen im französischen Religionskrieg entlockte Calvin ärgerliche Seufzer (710).

Durch den protestantisch gewordenen Beichtvater des Königs von Polen, Lismanino, ließ sich Calvin seit 1554 bewegen, die polnische Reformation mit allen Kräften anzutreiben, den König selbst (427, 472), den Fürsten von Radziwil (437), ja am 29. Dezember 1555 hat er 10 Polenbriefe geschrieben, alle individuell nach den genauen Schilderungen der Adressaten und ihrer Stellung durch Lismanino (476 – 480). Kein Wunder, dass er von den Polen selber herbeigerufen wurde (520); er meinte, sie hätten an Lismanino und vor allem an Laski Führer genug. Fein ist hier besonders die Korrespondenz mit dem Grafen von Tarnow über das Thema, ob die Gefahr politischer Unruhen ein Recht gebe zur Aufhaltung der Reformation (585, 612, 628), übrigens auch ein Beispiel, wie Calvin, wenn er durch freie Sprache einen Vornehmen beleidigte, sich gewandt herauszuziehen wusste. Polen war für ihn in einer hoffnungsarmen Zeit ein Land großer Erwartungen.

Am aussichtslosesten schien lange Zeit der Fortgang der Reformation in Frankreich zu bleiben; zeugen doch davon nur schon die fortgesetzten Auswanderungen evangelischer Franzosen nach Genf, die Calvin in den Ruf brachten, er wolle alle Welt nach Genf ziehn (438). Indes zeigen eine Reihe von Briefen, wie Calvin unermüdlich in der Stille arbeitete, nicht mehr nur an Einzelnen, sondern bereits an Gemeinden, die er zu fleißigem brüderlichem Zusammenschluss mitten zwischen Tollkühnheit und Ängstlichkeit hindurch, zu kirchlicher Sakramentsverwaltung im Gegensatz zu individueller Willkür, zu Lehrzucht und Sittenzucht anhielt (403, 414, 419, 438, 462). Diese Arbeit im Verborgenen war die wahre Grundlegung der Hugenottenkirche. Erst als im September 1557 eine Hugenottenversammlung in Paris, darunter adlige Frauen und Männer, überrascht wurde und die Würde der Gefangenen gewaltiges Aufsehen erweckte (536, 538, 539), ward aller Welt klar, wie stark die reformierte Sache in der Stille geworden war: „Ganz Frankreich steht in Flammen“ (538). Noch war von politischer Selbsthilfe keine Rede, beim evangelischen Deutschland suchte Calvin durch wiederholte Gesandtschaften fürbittende Einsprache für die Gefangenen. Und sofort wie er mit den evangelischen Großen in persönlichen Rapport trat, war das erste, das er kennen lernte, ihr Wankelmut und ihre Menschengefälligkeit, bei Männern und Frauen. Kaum hatte er dem König Antoine von Navarra des gefangenen d´ Andelots heroisches Beispiel vorgehalten (566), so nötigte ihn die Kunde von dessen Fall zu einem der vielen Bußbriefe, die er so wahrhaftig und doch so tröstlich zu schreiben verstand (573, vgl. 565). Einen Trostbrief nach dem andern für die Gefangenen wie für die unrühmlich Befreiten und die noch verschonten Geängstigten sandte er an seine Franzosen, privat und kollektiv (541, 558, 590, 604, 615), auch an die tapferen Pfarrer in der Hauptstadt (539, 556, 564). Als die erste französische Nationalsynode gerade in diesen schweren Zeiten zusammentrat, wollte Calvin nichts von der Veröffentlichung eines Bekenntnisses wissen (600), wie er überhaupt jeden Übereifer und jedes provokatorische und tumultuarische Vorgehen auf schärfste missbilligte. Es sollte die Aufgabe der gesetzlich dazu Berufenen wie des Bourbonen sein, auf gesetzlichem Wege die Freiheit des evangelischen Glaubens zu erkämpfen (548, 566).

Das Jahr 1559 war das Entscheidungsjahr für den Calvinismus in Europa durch den Sieg der Reformation in Schottland und England und den Tod des lauter unmündige Söhne zurücklassenden Heinrich II. in Frankreich, der eine politisch ganz neue Lage schuf. Calvin streckte sofort seine Hände nach allen Ländern aus, nicht immer mit Glück. Nur in Schottland wurde er durch den ihm geistesverwandten John Knox indirekter Begründer der protestantischen Kirche und musste dafür sorgen, dass der Rigorismus seines Jüngers nicht alles Maß überschritt (610, 659, vgl. 667). Aber auf England zog derselbe Knox durch seine frühere, von Calvin nicht gebilligte Schrift gegen das monströse Weiberregiment (398) die Ungnade der Königin Elisabeth auch dem Calvin zu, und keine unterwürfige Jesajawidmung vermochte daran etwas zu ändern (587, 588, 598); wer weiß, welche Bedeutung Calvin und der Puritanismus für England gewonnen hätten ohne dies Knoxische Pamphlet! Ein Versuch, auf Gustav Wasa von Schweden und seinen Sohn Erich ebenfalls durch Widmungen und Ehrenbezeugungen Einfluss zu gewinnen (593, 594), scheiterte an seiner Bodenlosigkeit, wie früher der Versuch mit Dänemark (380 vgl. 400). Aussichtsvoller, obschon auch ungleich gefährlicher war die Aktion Calvins in Frankreich, die sofort mit der Kunde vom Tod Heinrichs einsetzt (607). Nach Calvins Idee hätte sich Antoine von Bourbone als nächster Verwandter des minorennen Königs Franz sofort an den Hof begeben und den Einfluss der Guisen vernichten sollen, aber diese Schnecke kroch so langsam (607) und verdarb durch Feigheit und Verrat das Glück der Situation (608). Da griffen statt des Berufenen und Berechtigten die Unberufenen ein, die Adelsverschwörung von Amboise zum Sturz der Guisen und die Kirchenokkupationen und bewaffneten Erhebungen des evangelischen Volks in allen Teilen Frankreichs. Calvin hat jene Verschwörung nicht gewollt und nicht gebilligt, aber so genau voraus gewusst, dass ein starker Verdacht der Mitschuld auf ihm sitzen blieb (620, 622, 623, 658) und Genf beim französischen König in den Ruf des Herdes aller Unruhen geriet (653). Auch die bewaffneten Erhebungen und Kirchenokkupationen der Hugenotten widerriet und tadelte er mit Strenge, während er doch auch dem Gedanken Raum gab, dass am Ende Gott durch den Übereifer und die Torheiten der Kleinen die Großen an ihre Pflicht mahnen wolle (695). Er ist in allem erstaunlich auf dem Laufenden, manche seiner Briefe sind Geheimbriefe, die durch ihre dunkeln Andeutungen uns nur halb verständlich sind (620, 636); im königlichen Rat wurden abgefangene Calvinbriefe verlesen und Calvin wieder erfuhr dies Ratsgeheimnis (637). Ein erster heller Strahl in der verworrenen Lage war das Auftreten des Admirals Coligny auf der Notabelnversammlung in Fontainebleau für das Recht der Evangelischen der Normandie, Gott auf ihre Weise zu dienen (638): ein ganz aufrichtiger Mann, der für seinen Glauben leben und sterben konnte, unter der Unmenge der Halben und Charakterlosen (die Korrespondenz mit dem Admiral und seiner Frau 578, 579, 596, 652, 658, 662, 668, 741, 742). Ein anderer damals wenigstens tapferer Mann, der Prinz von Condé, der sich wider alle Mahnungen Calvins vertrauensselig an den Hof begab, um sofort verhaftet zu werden als Urheber der Verschwörung von Amboise, entging nur durch den unerwarteten Tod des Königs Franz der Hinrichtung (645, 646). „Hast du je etwas Günstigeres gelesen oder gehört als die Nachricht vom Tode des kleinen Königs?“ schrieb Calvin; Gott vom Himmel war im äußersten Unglück den Evangelischen zu Hilfe gekommen (648).

Mitten in den taktlosen Jubelhymnen und den phantastischen Erwartungen einer plötzlichen Umkehrung ganz Frankreichs, denen sich die Mehrzahl der Evangelischen hingab, blieb Calvin nüchtern und klar. In der Instruktion für den König von Navarra schränkte er die Forderungen für die Evangelischen auf das denkbar niedrigste Maß ein: Wegfall des Messzwangs und Gewähr freier religiöser Versammlungen, mehr sollte bei strengen Strafen verboten sein (647). Den evangelischen Tumultuanten trat er als ein rechter alttestamentlicher Buß- und Strafprophet entgegen, sobald sie gegen ihre Feinde zu den Waffen griffen (660) oder sich im Bildersturm vergingen (670 vgl. 692); selbst Coligny erhielt eine Mahnung zu schärferer Mannszucht in seinem Gefolge (668). Als das Pfarrerbegehren für die Masse der neuen Gemeinden in ganz Frankreich sich in Genf so steigerte, dass die Leute, die Pfarrer holen wollten, Calvins Türe belagerten und um den Vortritt stritten, und die Genfer aus den Handwerkerstuben den letzten Mann aufboten, der auch nur ein wenig literarisch und theologisch gebildet erfunden wurde (664, 665), brachte es Calvin fertig, den Neuenburger Pfarrern eine scharfe Lektion zu erteilen, weil einer der ihren ohne rechtliche Entlassung nach Frankreich in den Dienst gegangen war (661). Es hat doch auch in ihm selbst damals gewaltig auf und ab gewogt; wundervolle Hoffnungen entwichen ihm unwillkürlich (648, 653, 665), dann packt ihn die Angst vor dem Fanatismus und dem Wankelmut der Seinen, wie vor dem zielbewussten Wüten der Guisenpartei, und er zwingt sich, auf alles gefasst zu sein (665). Gerade als zu Poissy in Gegenwart des Hofs Beza und Pietro Martire Vermigli mit den katholischen Theologen im Redeturnier sich maßen (674, 677, 679, 680, 683, 684, 688, 689, 692, 696 – 698 die Korrespondenz mit Beza darüber), stritt der Jubel über Augenblickserfolge, als sei nun den evangelischen Kirchen die Freiheit errungen (680, 684), mit der klaren Einsicht in die gänzliche Bedeutungslosigkeit der theologischen Disputationen; im Ganzen hat Calvin doch klarer als alle Politiker und Diplomaten die Lage und ihre Aufgaben erkannt. Das Unglück für den französischen Protestantismus war der Schwächling und Verräter an seiner Seite, Antoine von Bourbon, der auf jede ihn abzulenken bestimmte Buhlschaft am katholischen Hof hereinfiel (663), der auf das arglistige Projekt, zur Verwirrung der Calvinisten die Lutheraner zum Religionsgespräch herbei zu ziehen, einging trotz Calvins Warnung (690, vgl. 675), ja der endlich mit dem Papst in Unterhandlung trat, ums eine spanischen Besitzungen wieder zu erlangen (695) und schließlich nicht schuld daran war, dass Beza, den er nach Frankreich geladen hatte, nicht in die Hände der katholischen Henker fiel (702). Calvins Mahn- und Strafworte waren als rechte Prophetenworte in den Wind geredet; dafür fand er einen Wiederhall an der heroischen Frau des Bourbonen, Jeanne d´ Albret (650, 693, 703, 719, 734, vgl. 739, 754), die alles Unheil ihres Mannes reichlich gut machte zum Besten der evangelischen Sache, wie auch im Gegensatz zum Todfeind der Hugenotten, Francois de Guise, dessen Schwiegermutter, Renata von Ferrara, nach Frankreich zurückgekehrt und von ihrem früheren Abfall heil und fest geworden, sich als eine heldenhafte Beschützerin der Evangelischen in den kommenden Wirren erwies (vgl. 421, 435, 572, dann 633, 651, 700, 731, 753, 754, 756).

Eine Reihe von Briefen machen uns mit den verschiedenen Stadien des ersten Religionskriegs bekannt (704, 706, 708, 710, 712, 715, 716, 719, 720), mehr noch mit der neuen Arbeit, die dieser für die Befreiung des minorennen Karl aus der Hand der Guisen geführte Krieg Calvin brachte: Truppen werben und dirigieren, Geldmittel auftreiben in Frankreich und auswärts, Exzesse der Sieger drakonisch zurechtweisen. Auch diplomatische List (707) und Schlauheit im Reformationswerk (719) wusste er zu gebrauchen, ohne seine Wahrhaftigkeit zu riskieren. Aber am größten vielleicht in seinem ganzen Leben steht er da nach dem schmachvollen Friedensschluss, zu dem der gefangene und weich gemachte Condé sich bewegen ließ, und der die Hugenottenkirche um den Ertrag von jahrelanger erfolgreicher Arbeit betrog (721 – 723, 728 - 730, 733). Was Ernst machen mit dem Vorsehungsglauben und Gehorsam unter Gottes Hand bedeutet, ohne Furcht und feige Resignation, vielmehr mit neuem Einsatz klugen Denkens und beharrlichen Wollens, hat Calvin damals gezeigt; „wir müssen mehr als je wieder von vorn anfangen“ (729) und der Waffenprobe die schwerere Probe des ganzen Gehorsams unter Gott folgen lassen (730).

Es gab noch viel Drohendes und Niederschlagendes auch in dem letzten Jahr, das ihm als einem nur noch halb lebendigen nach dem Frieden von Amboise noch übrig blieb. Die Gesamtlage des Calvinismus sah nichts weniger als rosig aus: Zusammenbruch der deutschen französischen Gemeinden in Frankfurt (709, 714) und Straßburg (745), mit dem verglichen der Gewinn der Pfalz (609, 617, 737) ein vorläufig unsicherer Ersatz war, gänzliche Zerrissenheit der polnischen Evangelischen durch die Umtriebe des Sonderlings Stancaro und des Antitrinitariers Blandrata, so dass Calvin zuletzt die ganze Nation verdächtig erschien, weil nur ganz wenige aufrichtig handeln (745, vgl. von früher her 613, 626, 632, 656, 657, 724, 725, 750), in Frankreich der zu allem Guten wie Bösen fähige bourbonische Erbprinz Heinrich (739), damals erst dreizehn Jahre alt, der stellvertretende Führer Condé so sinnlich und charakterlos wie sein gestorbener Bruder Antoine (746, 752), erträgliche Edikte auf dem Papier, deren Respektierung von den Launen der Königin-Mutter, der Gouverneure und der Parlamente abhing (740, 743, 749, 752), ganz helle Vertrauensgestalten für die Zukunft nur wenige wie die Königin Jeanne d´ Albret (754), Coligny (741, 742, 752), Renata, auch diese ein Gegenstand mannigfacher seelsorgerlicher Bemühung (753, 754, 756), in der Schweiz Basel in Gefahr, von seinem Antistes Sulzer ins Luthertum hinüber geleitet zu werden (745), Bern durch die Selbstsucht und Schwäche der andern evangelischen Orte zur Herausgabe seines Besitzes rings um Genf herum an den Savoyer genötigt (744), und dadurch wieder Genf, das die ganzen letzten Jahre Angst genug ausgestanden hatte (586, 611, 622, 625, 641, 642, 653, 657, 697) in verstärkter Zukunftsunsicherheit (744, 747). Und trotz all dem war der Calvinismus zu Lebzeiten seines Begründers die unbesiegliche Macht in Frankreich, Schottland, England, bald auch Holland und Deutschland geworden.

Man suche sich nun aber aus unsern Briefen zu vergegenwärtigen, mit welcher Ungunst körperlicher Verfassung und in welchem Zwang beruflicher Verhältnisse Calvin sein Reformationswerk in allen Ländern geleistet hat. In einer Reihe von Briefen berichtet er, bald kurz, bald mit einer gewissen Ausführlichkeit, von den mancherlei Krankheiten, die von Jahr zu Jahr ihm seine Arbeit mehr erschwerten (494, 495, 512, 556, 586, 595, 600, 616, 618, 641, 684, 688, 689, 716, 735, 756, 757), zusammenfassend in dem berühmten Brief an die Ärzte von Montpellier (755); zählt man alles zusammen, was war eigentlich noch gesund an dem Mann? „Ich kann kaum den kleinsten Teil meiner Amtspflicht erfüllen“, heißt es 1559, „und es ist nur wenig Hoffnung, dass es später besser werde.“ Ein andermal: „Mir ist stetes Kranksein bestimmt; um meinen Vorlesungen, Predigten und andern Amtsverrichtungen nachkommen zu können, muss ich einen guten Teil der übrigen Zeit im Bette liegen; wenn mir nicht das Frühlingswetter einige Besserung gibt, muss ich meinen Studien dann den Abschied geben.“ „Vorgestern predigte ich, nachdem ich im Lehnstuhl bis in die Kirche getragen worden war“ und wieder: „Mich hält Gott mit Fesseln fest, ich schleiche im Zimmer herum und komme kaum vom Bett bis zum Tisch. Zuweilen macht er sich selber über seine „fette und reiche Salbung“ lustig (684), meist klingt es resigniert, doch ohne Bitterkeit. Der Mann, der es mit dem alten Cato hielt: „Große Rücksicht auf den Leib sei große Rücksichtslosigkeit gegen die Tugend der Seele“, hat die Kosten dieser Praxis bezahlen müssen. Vielleicht ist doch manches harte und gereizte Wort milder zu beurteilen, wenn man denkt, was der Mann alles in sich niederzwingen musste, welches Recht er hatte, streng in der Forderung an andere zu sein. Von seinem Beruf als Genfer Pfarrer und Professor ist fast nie die Rede in diesen Briefen; die Alltagspflicht von Predigten, Vorlesungen, Sitzungen des Konsistoriums und der Venerable Compagnie, Teilnahme an Ratsgeschäften verstand sich für ihn von selbst. Und doch muss man sich erinnern, dass die meisten Kommentare Calvins gedruckte Nachschriften seiner Zuhörer aus den Vorlesungen und Predigten sind; ohne ernste exegetische Arbeit der Präparation ist solches auch bei einem Calvin nicht denkbar, obschon wir ihn verstehn, wenn es ihm zuweilen unbehaglich war, solche gar nicht für den Druck ausgearbeitete Produkte dann in die Welt und unter das Urteil der Sachverständigen ausgehen zu lassen (vgl. 737). Eine große Arbeit bereitete ihm die Gründung der Genfer Akademie trotz Bezas unbezahlbarer Hilfe; wie viele Briefe hat er nur an den einen Mercier verschwenden müssen, um ihn aus dem berühmten Paris nach Genf zu gewinnen (555, 727, 748)! Dazu kommen aber noch alle die Extraaufgaben: die Sorge für die italienische Gemeinde in Genf mit den vielen unruhigen, ketzerisch angesteckten Köpfen (562, 571), die Sorge für die französischen Refugianten in Genf Jahr für Jahr, - zum Überfluss hat ihm einmal auch noch dänische Gäste aufnötigen wollen (715) - , Waldenser Kollekten (669 und oft), wobei dann noch von den Feinden Gerüchte herumgeboten wurden, Calvin habe Teile der Gelder für sich verbraucht (465). Seinem gefeierten Freund Caraccioli (484) musste er helfen, sich von seiner katholisch gebliebenen Frau gesetzlich scheiden zu lassen (599), dann wieder galt es, für den Neffen eines neuenburgischen Pfarrers einen Lehrvertrag in Genf zu vermitteln (467), einen Arzt nach Biel zu empfehlen (500), die Zürcher vor einem berüchtigten Heiratsschwindler zu warnen (504), für einen Neuenburger eine Frau auszusuchen (569), junge Genfer in Zürich als Pensionäre zum Deutschlernen unterzubringen (635, 638). Gutachten hat man ungefähr über alle Fragen des täglichen Lebens von ihm begehrt und aus allen Ländern; er war nicht umsonst Jurist gewesen, die Unterscheidung der Fälle und die präzise Sprache kam ihm von dort zu gut. Und dann die unzähligen Pfarrerschwierigkeiten, untaugliche Subjekte nah und fern! Welchen Ärger hat ihm allein die Frau seines geschätzten des Gallars in dessen Abwesenheit durch ihr Geschwätz und Geschimpf bereitet (639, 644)! Endlich das Dunkelste: Ehebruch in der Familie des Bruders (516, 517), Schande an der eigenen Stieftochter (700).

Es wäre kein Wunder, wenn Calvin über einer solchen Masse von nächsten Berufsgeschäften neben der großen Reformationsarbeit einen unpersönlichen Charakter angenommen hätte, als ein Mann, der restlos in seiner Sache aufging. Man würde das umso mehr verstehen, als ja Calvin ein großer Teil seiner Adressaten von Angesicht unbekannt war und einzig die Sache, der gemeinsame Glaube, das Verbindende war. In der Tat konnte er ganz intime Herzensfreundschaften zerbrechen, wenn ein anderer Glaube oder auch nur Neutralität gegenüber seinen Feinden dazwischen trat. So ist die so überaus intime Freundschaft mit de Falais wegen dessen Parteinahme für Bolsec und Castellio aufgelöst worden (481), ebenso diejenige mit dem Montbeliarder Reformator Toussaint, für dessen kirchenpolitische Bedrängnis unter einem lutherischen Fürsten Calvin so wenig Verständnis hatte wie für seine weitherzigere Glaubensart (420, 431, 560, 583, 715). Dem vollendeten Bruch mit Sulzer, dem Pseudolutheraner, den Calvin um seiner wichtigen schweizerischen Stellung so lang als möglich zu tragen sich zwang, kam gerade noch Calvins Tod zuvor (745), dagegen hielt er an Melanchthon unentwegt fest ungeachtet seines Dissensus in der Prädestinationsfrage, seiner Drückebergerei im Abendmahlsstreit, ja ungeachtet eines Freundschaftsschreibens an Castellio, das von allen Calvinfeinden boshaft ausgenützt wurde und Calvins Ingrimm erregte (568, 586), einfach aus dem Gefühl heraus, dass dieser Mann, mochte er fehlen in hundert Stücken, unfehlbar der Gemeinde der wahren Jünger Jesu angehöre, mit der Calvin im Himmel zusammenzutreffen hoffte. Den Beweis, wie er starke dogmatische und politische Gegensätze an einem Mann, freilich gerade einem Nicht-Theologen, ertrug, wenn er trotz aller Empörung über sein augenblickliches Verhalten Hochachtung vor seinem Charakter haben musste, gibt die Zurkindenkorrespondenz (485, 570, 597) in der Calvin auch persönlich sich objektiviert wie in wenig andern Briefen. Eher spricht zu seinen Ungunsten, dass die Freundschaft mit Viret durch das Dazutreten des weit begabteren, Calvin kongenialeren Beza stark abgekühlt wurde (574) und sich nicht mehr zu ihrer frühern Herzlichkeit erhob (711, 740); bei Farel brachte dessen tolle Verheiratung im Greisenalter (581, 582) eine empfindliche Störung, während die große Lücke der Farelkorrespondenz wohl im Verschwinden der Briefe ihren Grund hat, wie denn die Abschiedszeilen des Sterbenden besser als alles bezeugen, was ihm dieser Freund geblieben ist (759). Unerschüttert in den schwersten Krisen blieb das Verhältnis zu Bullinger, aus der einfachen Notwendigkeit heraus, dass Genf und die in jenem machtvoll zusammengefasste deutsche Schweiz zusammenstehen mussten. Dagegen steigt erst in diesem Briefband die Freundschaft mit Beza zu der Verwachsenheit der beiden Personen an, die Beza noch zu Lebzeiten Calvins als dessen rechte Hand und designierten Nachfolger erscheinen lässt; mit keinem andern hat er brieflich so gescherzt (677, 684) und mitten in seinen eigenen Leiden des Freundes Gesundheit sorgend auf dem Herzen getragen (683, 692, 696). Und dann das intime Verhältnis mit dem Kollegen Macard, dem Helden von Paris, und mit seinem Intimus de Trie, über deren beider Tod er Klagen echter Freundesliebe ergießt (639, 674, 697). Von ganz eigenem Reiz sind endlich die Briefe an seinen Jugendfreund Daniel, dessen Sohn in Genf studierte und Calvin den Anlass zur Wiederanknüpfung alter Liebe gab (606, 614, 619); klingt es nicht wie während der Studienjahre, wenn Calvin sich sträubt, von Daniels Sohn sich Schulden zurückzahlen zu lassen, er, der dem Vater Daniel ja ganz verpflichtet ist, und der zum Beweis seinen beiden Töchtern als Neujahrsgeschenk je einen Henri d´ Or sendet, damit sie wenigstens ein kleines Pfand seiner Dankbarkeit haben? Kann man da behaupten, die große Sache habe die Persönlichkeit erdrückt?

Doch ist das nicht das Entscheidende, sondern vielmehr das andere, dass Calvin so vollkommen persönlich in seines Gottes Sache lebte und allem, was er tat, und was er schrieb, ohne zu wollen, seinen persönlichen Stempel aufdrückte. Seine Briefe werden auch in dieser deutschen Übersetzung es verraten, dass er immer ganz dabei gewesen ist mit seinem Hass (vgl. 754) und seiner Liebe, demütig, ja erbarmenswert vor seines Gottes Augen, aber gegen die Menschen furchtlos und frei, und trotz aller seiner Schwächen und Sünden eine verkörperte Energie des Guten gegen das Böse, in der dogmatischen und kirchlichen Gebundenheit seiner Zeit das Gewissen in Person, und mehr als das, eine wenn auch unvollkommene Offenbarung jenes Guten, das nicht nur Gedanke, sondern die einzige Macht der Wirklichkeit zu sein verlangt

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