Bomhard, Georg Christian August - Predigt am heiligen Karfreitag

Bomhard, Georg Christian August - Predigt am heiligen Karfreitag

Vorwort.

In dieser heiligen Zeit fällt es mir besonders schwer, mein edles Amt nicht mehr verwalten und meiner werten Gemeinde nicht mehr nützlich sein zu können, schweigen zu müssen von den großen Taten des Herrn, deren öffentliche Verkündigung so viele Jahre lang meine Freude war. Ich fühle mich wie ein invalider Veteran, der einst an den siegreichen Schlachten seines Königs frohen Anteil genommen hat, nun aber aus der Ferne vernehmen muss, wie Andere demselben Panier in den Kampf folgen, der fortdauern wird bis an das Ende der Tage, und wie seine Gegenwart dabei nicht vermisst wird. Kann ich aber nicht in Person und mündlich etwas beitragen zur erbaulichen Feier des großen Tages, an welchem der Gottmensch die Welt, und den, der in der Finsternis dieser Welt herrscht, auf Golgatha überwunden hat, so will ich doch es schriftlich zu tun versuchen, und denen, die mich noch immer gerne hören wollen, aus dem reichen Vorrat meiner alten Zeugnisse von dem Herrn unserem Heilande einen kleinen Teil mitteilen.

Wohl weiß ich und freue mich dieser Gewissheit, dass es meiner nicht bedarf, um an diesem Tag die hiesige evangelische Gemeinde in den Vorhöfen des Höchsten zu erbauen, dass sie in jedem ihrer Gotteshäuser Gelegenheit genug haben wird, die seligmachende Botschaft zu hören, wie der große Erzhirte der Schafe sein Leben für die Seinigen gelassen hat. Doch ist es mir ein Bedürfnis, so lange ich kann, auch an meinem Teil öffentlich davon Zeugnis zu geben, dass das Kreuz des Herrn uns vom Fluch der Sünde erlöst und den Himmel aufgeschlossen hat.

Hierzu habe ich denn aus meinen vielen Passionspredigten die nachstehende, die ich schon vor vielen Jahren gehalten habe, ausgewählt und dem Druck übergeben, nicht weil ich sie für besonders gelungen halte, sondern weil ihr Text der Grundsatz, der Wahlspruch ist, in welchem ich von jeher mein Amt zu führen bemüht war, wie mir alle, die Predigten, Beicht- und Konfirmations-, Grabreden und andere Amtsvorträge von mir gehört haben, gewiss gerne bezeugen werden. Sie enthält am nahen Schluss meiner irdischen Laufbahn mein kurzes Glaubensbekenntnis, welches im Grunde das unserer ganzen heiligen Kirche ist, und was könnte ich daher herzlicher wünschen, als dass es auch das aller derer, die ich getauft, im Christentum unterrichtet und konfirmiert habe, das meiner ganzen lieben Gemeinde, ach aller die sich nach dem Namen Christi nennen, sein möge!

Es ist in unseren Tagen bei unzähligen sogenannten Christen, auch in unserer Stadt, die von dem edlen evangelischen Glaubensbekenntnis einen berühmten Namen in der Weltgeschichte hat, nicht mehr zu finden; die verworfenen Lügen eines Strauß, Ronge, Renan und so vieler andern Feinde Christi, die schmählichsten Zeitungsartikel haben es vielen Herzen geraubt. Solche sind aber tote verwesende Glieder an dem heiligen Leib des Herrn, der christlichen Kirche; verdorrte Reben, die nicht mehr mit dem Weinstock, welcher ist Christus, in Verbindung stehen und daher nach dem eigenen Ausspruch des Herrn abgehauen und ins Feuer geworfen werden.

Unter allem, was mir in öffentlichen Blättern über mein Predigtbuch zu Gesicht gekommen ist, hat mich nichts so sehr gefreut als das Urteil eines Rezensenten: „Diese Predigten seien von der ersten bis zur letzten ein Triumphlied des Erlösers.“ Das haben sie wenigstens sein wollen; das bezeugt mir, dass ich meinem Wahlspruch treu geblieben bin; das bürgt mir dafür, dass ich im Sinne der hohen Apostel und unserer gläubigen Väter und also ohne Zweifel vielen der mir anvertrauten Seelen zum Segen unserer heiligen Kirche gedient habe. Es soll aber eben so gewiss das Leben eines jeden Christen, dem es um sein Heil zu tun ist, zum Preise des Erlösers und zum Segen des Nächsten gereichen.

Predigt.

Deines Kreuzes, Sohn Gottes und des Menschensohn, deines welterlösenden Versöhnungstodes rühmen und trösten wir uns wider alle Anfechtungen der Sünde, des Todes und der Hölle; darauf gründen wir unsere beste Zuversicht im Leben und im Tod, für diese und für jene Welt. Nach Golgatha nehmen wir unsere Zuflucht aus den Dunkelheiten dieser Zeit, in all' unserer Angst, Furcht und Not, die uns hienieden bange macht, und finden in deinen Wunden Ruhe für unsere Seelen, in deiner Armut unseren Reichtum, in deiner Blöße unser Ehrenkleid, in deinen durchbohrten Händen unser himmlisches Erbteil, in deinem Tod unsere Berechtigung zu unserem ewigen Leben. O Herr unser Heiland, gib uns allen die unendlichen Segnungen deines unschuldigen Leidens und Sterbens! Mache uns durch deinen Geist das Wort von deinem Kreuze zu göttlicher Kraft und göttlicher Weisheit, damit wir anbetend erkennen und erfahren, dass es das Beste ist von allem, was wir wissen, in welche Tiefen der Weisheit, Heiligkeit und Liebe Gottes es uns blicken lässt, welch eine Kraft zur Wiedergeburt und Erneuerung zu dem Bild Gottes es für unsere Seelen hat, wie das Leben, die Reinheit, das Heil und die Herrlichkeit deiner ganzen Kirche daraus kommt! Erfülle uns deine gnadenvolle Verheißung: „Wenn ich erhöht werde von der Erde, will ich sie alle zu mir ziehen.“

„Wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöht hat, so muss des Menschen Sohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Dieses hat bekanntlich der Herr dem Nikodemus beteuert in jener höchst merkwürdigen Unterredung mit ihm, die uns Johannes im dritten Kapitel seines Evangeliums aufbewahrt hat. Viel hat dort der Lehrer von Gott gekommen dem Obersten unter den Pharisäern und Meister in Israel gesagt, was diesem etwas ganz Neues und Niegehörtes, mehr noch etwas Dunkles, Rätselhaftes war, wovon Nikodemus sich noch nichts hatte träumen lassen und was ihm jetzt aus dem Munde Christi wie ein Traum vorkommen mochte, dessen seltsame Bilder man sich nicht zu deuten vermag, wovon er verwunderungsvoll dachte und fragte: „Wie mag solches zugehen?“ Was ihm der Herr von der Notwendigkeit der Wiedergeburt, von dem Segen der Taufe, von den Wirkungen des heiligen Geistes, von der Hoheit des Menschensohnes, der vom Himmel hernieder gekommen, auch wieder dahin zurückkehren werde was er ihm davon sagte, das waren Andeutungen, die jenem wissbegierigen Manne damals eben so wenig klar sein konnten, als die Apostel des Herrn selbst sie dazumal schon zu fassen vermochten; das waren Samenkörner, die Nikodemus einstweilen aufnehmen und in einem feinen guten Herzen behalten sollte bis die Zeit käme, wo sie sich entwickeln, aufgehen und ihre köstlichen Früchte bringen würden. Finden wir doch, dass es der Herr ebenso auch mit uns macht. Wie Manches von heiligen Wahrheiten, biblischen Sprüchen, göttlichen Dingen haben wir in unserer frühen Jugend schon gehört und ins Gedächtnis aufgenommen, was uns damals noch sehr unverständlich war, wovon wir den erhabenen Sinn noch kaum zu ahnen im Stande waren, was wir uns einstweilen für die Zukunft merken sollten, dessen Verständnis aber, wenn es uns darum zu tun war, nach und nach in uns erwacht und gewachsen ist und noch immer zunimmt mit den zunehmenden Jahren. Sage man den Anfängern im Christentum, den jungen Kindern, immerhin gar Manches von den hohen Lehren des Evangeliums, was sie noch keineswegs zu fassen vermögen, es kommt für sie, wenn sie nicht gottlos werden, das heißt, nicht der Bibel, der Kirche, dem Gebet und Sakrament den Abschied geben, es kommt für sie, wie für Nikodemus die Zeit, wo zu dem Wissen nach und nach die Erfahrung, die Erleuchtung hinzu kommt, wo der Geist Gottes anfängt, es lebendig und fruchtbar in ihren Seelen zu machen. Hat man im Frühling gesät, so kommt im Sommer die Ernte.

Was Nikodemus von jenen Worten Christi gewiss am wenigsten zu begreifen vermochte, war dieses: „Wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöht hat, so muss des Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Im 21. Kap. des 4. Buchs Mosis wird uns erzählt: Als in der Wüste das Volk wider Gott und Moses murrte, sandte Gott feurige Schlangen in das Lager und alle, die von ihnen gebissen wurden, mussten sterben. Moses schrie zu dem Herrn, der befahl ihm, eine eherne Schlange zu machen und sie mitten im Lager aufzurichten, und alle die zu ihr aufsahen, wurden gesund. Das ist das merkwürdigste Vorbild der Kreuzigung Christi im ganzen alten Testament. Was konnte aber damals Nikodemus von der Erhöhung Christi an das Kreuz und von der versöhnenden und erlösenden Kraft seines Blutes, von der seligmachenden Wirkung des gläubigen Aufsehens auf den Gekreuzigten für einen Begriff haben? Und gleichwohl, was ist bald nachher klarer geworden, als die Bedeutung und Wahrheit dieses weissagenden Vorbildes von dem Kreuzestode des Erlösers? Mit welcher Bewunderung wird der redliche Israelit den Sinn dieser Rede Christi erkannt, wie anbetend sich desselben gefreut haben, als das wunderbare Schicksal des Messias vollendet, als durch sein Leiden, Sterben und Auferstehen der gnadenvolle Ratschluss Gottes hinausgeführt, die ganze Majestät des Sohnes Gottes geoffenbart und die Erlösung der Menschen vollbracht war! Da wird ihm das, was ihm einst so rätselhaft gewesen war, ohne Zweifel das Liebste, Höchste, Köstlichste geworden sein, was er sich zu denken vermochte, unendlich lieber als alle Wissenschaft der Pharisäer und Schriftgelehrten und aller Weisen nach dem Fleisch, der einzige wahre Trost auf Erden, und eine Wurzel des ewigen Lebens.

So ist es auch mit uns. „Wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöht hat, also musste des Menschensohn erhöht werden, auf dass alle die an ihn glauben nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Dies zu bedenken ist in der christlichen Kirche die Passionszeit verordnet, vornehmlich der heilige Schluss derselben, der heutige Tag, der Gedächtnistag des blutigen Todes unsers hochgelobten Erlösers. Welch ein Tag, meine Zuhörer, der Karfreitag! Der Tag, an welchem alle Vorbilder von Christo, alle Weissagungen der Propheten von ihm, alle Lichtstrahlen des alten Testaments vom heiligen Geist ausgehend wie in einem Brennpunkte sich vereinigten, um die Erkenntnis unsers Heils und der Wunder Gottes, die dazu geschehen sind, um die Buße, den Glauben, die Hoffnung, die innigste Liebe zu Gott unserem Heilande in unseren Herzen zu erwecken und zu erhalten ein Tag, von welchem Gott uns sagt: „Ich habe dich erhört zur gnädigen Zeit, ich habe dir geholfen am Tage des Heils; siehe, jetzt ist die angenehme Zeit, jetzt ist der Tag des Heils; heute, so ihr Gottes Stimme hört, so verstockt eure Herzen nicht!“ Der stille Freitag wird dieser Tag genannt, denn da geschah wie dort am Schilfmeer: „Der Herr wird für euch streiten, ihr aber werdet stille sein. Seid stille und erkennt, dass ich Gott bin, ich will Ehre einlegen auf Erden!“ Lasst uns jetzt zur gesegneten Feier dieses Tages einen Spruch aus Gottes Wort hören und zu Herzen nehmen, der uns kurz und gut die Gesinnung zeigt, womit die Erlösten des Herrn seines Kreuzestodes allezeit gedenken sollen. Wir erbitten uns dazu den Segen Gottes in dem Gebete seines lieben Sohnes. V. U.1)

Text: 1. Kor. 2,2. „Ich hielte mich nicht dafür, dass ich etwas wüsste unter euch, ohne allein Jesum Christum den Gekreuzigten.

Lesen wir den Spruch, den wir soeben gehört haben und über den wir eine fromme Betrachtung anstellen wollen, im griechischen Grundtexte, so finden wir, dass auf das Beiwort „den Gekreuzigten“ ein besonderer Nachdruck gelegt ist, der in der Übersetzung nicht deutlich hervortritt. Es heißt nämlich dort: „Christum, und zwar (oder: und diesen als) den Gekreuzigten.“ Dieses „und zwar“ will offenbar sagen: Sein Kreuz ist der Mittelpunkt seines göttlichen Werkes zu unserer Erlösung; nicht so sehr sein Prophetenamt als vielmehr sein Hohenpriesteramt ist der Schatz seiner Gnade, der Grund unserer Hoffnung, das Heil unserer Seelen. Der König zur Rechten des Vaters würde uns nichts helfen, wäre er nicht zuvor der Versöhner am Kreuze gewesen. Von Golgatha herab, aus den Wunden des Gekreuzigten haben sich die Segensströme ergossen, welche seitdem durch alle Jahrhunderte für alle Geschlechter der Menschen und aus der Zeit in die Ewigkeit fließen. Das Kreuz Christi müsst ihr wissen, im Auge und im Herzen behalten, den Segen des Kreuzes müsst ihr euch zueignen, wenn euch „Christus von Gott gemacht sein soll zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung.“ Wann wäre ein besserer Tag als der heutige zum Nachdenken über die wichtigste aller christlichen Wahrheiten? Darum will ich euch unter dem Beistande Gottes kürzlich vorstellen:

Unser Wissen von Jesu Christo, dem Gekreuzigten. Über unser Wissen von Christo, dem Gekreuzigten, wollen wir nachdenken. Da haben wir wohl zunächst zu erwägen:

Das ist ein Wissen, welches hoch über jedes andere Wissen geht. Viel, zahllos sind die Dinge, welche unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, unsere Wissbegierde reizen, unser Nachdenken verdienen, unseren Verstand, unseren Scharfsinn beschäftigen, das Gebiet unserer Erkenntnis bereichern und erweitern können; unermüdlich ist der menschliche Geist im Forschen, Suchen und Lernen; überall sieht er sich von Gegenständen umgeben, an denen er seine mannigfaltigen Kräfte versuchen und üben kann; bewundernswürdig, erstaunenswürdig sind seine beständigen Fortschritte in den verschiedensten, oft schwierigsten Wissenschaften und Künsten; in allen Reichen der Natur, in den verschiedensten Gewerben und mechanischen Künsten; in der Länder-, Sprach- und Völkerkunde, in der Erforschung der Geschichte, in der Staatsverwaltung, in der Schriftauslegung, Sternkunde und Weltweisheit geht er von einer Entdeckung und Erfahrung zur andern. Ein erhebender Anblick, diese Masse von Kraft und Tätigkeit, diese vielerlei Talente und Gaben, dieser Wettlauf nach den mannigfaltigsten Zielen der Erkenntnis, diese von Jahr zu Jahr wachsende Menge des menschlichen Wissens!

Was ist nun in dieser unermesslichen Menge das Beste? Was steht über diesem allem so hoch, so glänzend, so einflussreich, so unentbehrlich für unser wahres Glück wie die Sonne am Firmament über der Erde? St. Paulus sagt es uns, und alle gläubigen Seelen stimmen ihm bei: „Ich hielte mich nicht dafür, dass ich etwas wüsste unter euch, ohne allein Jesum Christum den Gekreuzigten.“ An die Korinther hat er dieses geschrieben. Korinth war eine der berühmtesten, reichsten, prachtvollsten Städte des Altertums, blühend durch Handel, Wissenschaft und Künste mancher Art. Ihr Korinther, will der Apostel sagen, ihr habt große Gelehrte, Philosophen, Redner, Dichter, Künstler, Meister in allerlei weltlicher Weisheit und Wissenschaft, wovon ich wenig oder nichts verstehe; ich bin meines zeitlichen Berufes ein Teppichmacher, und muss mich von meiner Hände Arbeit ernähren. Ich ehre euer Wissen und gönne es Euch von Herzen, aber ich beneide euch nicht im mindesten darum; denn ich weiß, ich kenne etwas, das unendlich besser, höher, heilvoller als alles dieses, womit eure berühmte Weisheit nicht von ferne zu vergleichen ist, das ich nicht gegen sie, nicht gegen alle Reiche dieser Welt und ihre Herrlichkeit vertauschen möchte ich kenne Jesum Christum den Gekreuzigten! Und wenn nun der Apostel kurz vorher sagt: „Es steht geschrieben (Jes. 29) ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen; wo sind die Klugen, wo sind die Schriftgelehrten, wo sind die Weltweisen? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht?“ in welcher Wahrheit erscheinen uns noch heute nach achtzehn Jahrhunderten diese Worte? Die Lehrgebäude jener Weisen nach dem Fleisch sind verschwunden, vom Sturm der Zeit wie Spreu verweht; aber das Wort vom Kreuz hat sie alle überdauert, wird heute in allen Weltteilen Millionen gepredigt, wie es St. Paulus den Korinthiern gepredigt hat, ist das Licht, der Ruhm, die Freude, der Trost, der Preis und Dank zahlloser Seelen. Ihr, auf deren Teil von Gelehrsamkeit und Wissenschaften, von der Weisheit dieser Welt nur sehr wenig gekommen ist, die ihr alle eure Tage in Berufsarbeiten zubringen müsst, die euch von dergleichen Kenntnissen fern halten: seht hier den reichsten, herrlichsten Ersatz hierfür! Den Gekreuzigten kennen, „Christum lieb haben ist besser als alles Wissen“ - bei ihm, in ihm ist die lebendige Quelle aller höheren Wahrheit, und in seinem Licht sehen wir das Licht. „Was da töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, dass er die Weisen zu Schanden mache!“ Lest die Schriften des Apostels Paulus welch eine Weisheit von oben, welch eine Einsicht in die erhabensten, heiligen Dinge, welch eine Fülle der herrlichsten Gedanken, welch eine Geistesbildung findet ihr darin! Freilich, er war erleuchtet von dem heiligen Geiste. Aber wer das Wort Gottes hat und zu gebrauchen weiß, wer den Glauben an den Gekreuzigten daraus lernt und in sich aufnimmt, der bekommt auch Teil an den Gaben dieses Geistes, von dem uns gesagt ist: „Nach seiner Barmherzigkeit hat uns Gott selig gemacht durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des Heiligen Geistes, welchen er über uns ausgegossen hat reichlich durch Jesum Christum unseren Herrn, auf dass wir durch desselbigen Gnade gerecht und Erben seien des ewigen Lebens nach der Hoffnung - das ist je gewisslich wahr.“ Ihr, deren Leben dem Dienste der Wissenschaft und der höheren Künste gewidmet ist, seht euch vor, dass nicht von euch gelte, was Paulus im ersten Kapitel dieses Briefes sagt: „Seht an, liebe Brüder, euren Beruf - nicht viel Weise nach dem Fleisch, nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen, sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, dass er die Weisen zu Schanden mache, und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, dass er zu Schanden mache, was stark ist, und das Unedle vor der Welt, und das Verachtete hat Gott erwählt, und was da nichts ist, auf dass er zunichte mache, was etwas ist, auf dass sich vor ihm kein Fleisch rühme.“ „Das Wissen bläht auf,“ trifft gar oft ein. Ohne den Glauben an den Gekreuzigten ist all eure Weisheit nur Torheit vor Gott, macht euch nicht gerecht vor Gott, hilft euch nicht in der Anfechtung, gibt eurem Gewissen keinen Frieden, rettet euch nicht im Gericht, schafft euch nicht das ewige Leben. „Die Welt vergeht mit ihrer Lust Pracht, Kunst und Geschicklichkeit wer aber den Willen Gottes tut, bleibt in Ewigkeit.“ „Das ist aber der Wille Gottes, dass, wer den Sohn Gottes sieht und glaubt an ihn, habe das ewige Leben und ich werde ihn auferwecken am jüngsten Tage.“ Darum sagen wir von unserem Wissen von Christo:

Es gewährt uns den klarsten Blick in die Tiefen der göttlichen Weisheit und Liebe. Wohl gewährt uns auch die Natur helle Blicke in die Allmacht, Weisheit und Güte des Schöpfers, und sehr unverständig, sehr blind und taub an dem inwendigen Menschen müsste der sein, dem nicht die Himmel die Ehre Gottes erzählen sollten, nicht die Feste seiner Hände Werke verkündigte, dem nicht die geringste Kreatur zuriefe: „Merke auf, Mensch, stehe und vernimm die Wunder Gottes. Groß sind die Werke des Herrn, wer ihrer achtet, der hat eitel Lust daran.“ Allerdings glänzen auch in der Weltregierung Gottes, im Menschenschicksal Zeugnisse genug, die uns die gewaltige und gütige Hand beweisen, die alles lenkt und ordnet, und sehr unachtsam und undankbar müsste der sein, der nicht schon oft in Demut und Freude bekannt hätte: „Das hat Gott getan und ist ein Wunder vor unseren Augen was er ordnet, das ist löblich und herrlich und seine Gerechtigkeit und Güte bleibt ewiglich - er hat alles wohlgemacht.“ Allein ihr wisst wohl, es gibt in der Natur auch furchtbare Dinge genug, in denen uns nur blinde, feindliche Gewalten ihr wildes Spiel zu treiben scheinen; es sind in der Weltgeschichte, in den Schicksalen der Menschen der rätselhaften Erscheinungen, der schauerlichen Dunkelheiten gar viele, wo die göttliche Vorsehung und Liebe in Dunkel gehüllt ist, und schwere Zweifel an ihr, die unser Verstand nicht zu lösen vermag, in der Seele sich regen. So hat uns denn der treue Gott etwas gegeben, das alle solche Zweifel auf immer zu beschwichtigen, das unseren Glauben an seine alles regierende, alles zum Besten seiner Kinder lenkende Vorsehung auf einen Felsen zu gründen im Stande ist, wo er durch nichts mehr erschüttert werden kann. Hoch über alle diese furchtbaren Erscheinungen, über alle diese anfechtungsvollen Finsternisse ragt das Kreuz Christi empor im ewigen Sonnenglanz der Macht und Wahrheit, der Weisheit und Gerechtigkeit, der Gnade und Vaterliebe des Höchsten. Hier siehst du den Rat einer Weisheit, die Wahrheit einer Verheißung, die Erbarmung einer Liebe, den Sieg einer Macht, die alles übertrifft, was nur gedacht und gewünscht werden mag, um uns den Herrn unseren Gott, den Herrn des Himmels und der Erden in seiner unaussprechlichen Majestät und Herrlichkeit zu offenbaren. Hier wird dir gezeigt wie in solcher Klarheit sonst nirgends: „Des Herrn Wort ist wahrhaftig, und was er zusagt, das hält er gewiss;“ hier erkennst du wie so deutlich sonst nirgends: „Des Herrn Rat ist wunderbar, aber er führt es herrlich hinaus;“ hier wird dir lauter als durch alle übrigen Wohltaten Gottes verkündigt: „Gott ist die Liebe - Gott will nicht, dass Jemand verloren werde, sondern dass allen Menschen geholfen werde.“ „Welcher auch seines eingeborenen Sohnes nicht hat verschont, sondern hat ihn für uns alle dahin gegeben, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken.“ Hier empfindest du, wie so stark bei keinem andern seiner herrlichen Werke: „O welch eine Tiefe des Reichtums beides der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und wie unerforschlich seine Wege! Denn wer ist sein Ratgeber gewesen, oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben, das ihm werde wieder vergolten? Denn von ihm und durch ihn und in ihm sind alle Dinge ihm sei Ehre in Ewigkeit!“ Hier zieht es dich, wie so gewiss sonst nirgends auf die Knie mit dem demütig freudigen Bekenntnis: „Lob und Ehre und Weisheit und Macht und Stärke und Dank und Preis sei unserem Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.“

Sprichst du mit St. Paulus: „Ich hielte mich nicht dafür, dass ich etwas wüsste unter euch ohne allein Jesum Christum, den Gekreuzigten,“ so kann dich keine Dunkelheit der Regierung Gottes mehr zu gefährlich anfechten, keine Einwendung des Unglaubens und deines eigenen Verstandes und Herzens mehr irre machen in der Überzeugung: „Die Wege des Herrn sind eitel Güte und Wahrheit denen, die seinen Bund und sein Zeugnis halten ich danke dir ewiglich, denn du kannst's wohl machen.“ Du siehst auf Golgatha eine Liebe, die von Anfang her beschlossen hatte, die gefallenen Menschen wieder von Sünde, Tod und Hölle zu erlösen und wieder in die Freiheit der Kinder Gottes zu versetzen, und eine Weisheit, die ein Mittel dazu fand, welches in keines Menschen, in keines Engels Herz gekommen war, das Kreuz, an welchem der eingeborene, menschgewordene Sohn mit seiner durchbohrten Ferse der Schlange den Kopf zertreten hat. „Solche Erkenntnis ist mir zu wunderlich und zu hoch, ich kann's nicht begreifen - wunderbar sind deine Werke, das erkennt meine Seele wohl.“ Deswegen ist es unser Wissen von Christo dem Gekreuzigten,

Welches die Kirche des Herrn vor dem Verderbnis bewahrt. Wie weit einst fast die ganze Kirche vom rechten Glauben abgekommen war, welche seelengefährlichen Irrtümer allenthalben in ihr im Schwang gingen, welche Gefahr des gänzlichen Verderbens ihr drohte, das wissen die, welche mit der Geschichte der Kirche bekannt sind, und keinem wohlunterrichteten evangelischen Christen kann dieses ganz unbekannt sein. Ein pharisäisches, um nicht zu sagen, beinahe heidnisches Wesen hatte in ihr überhand genommen. Nicht der Fürsprecher bei dem Vater, welcher allein gerecht ist und zur Rechten Gottes sitzt, wurde als der Mittler zwischen Gott und Menschen erkannt und angerufen, sondern eine Menge verstorbener Menschen, die, wenn sie auch fromm gewesen waren, doch selbst der Fürsprache bei Gott und des Blutes der Versöhnung bedurften, und von denen die Schrift nichts weiß, vielmehr sagt: „Abraham weiß von uns nichts und Israel kennt uns nicht, Du aber Herr bist unser Vater und unser Erlöser, von Alters her ist das Dein Name.“ Nicht auf Christi Gehorsam bis zum Tod am Kreuze und göttliches Verdienst, „der unsere Krankheit trug und lud auf sich unsere Schmerzen, der um unserer Sünde willen verwundet und um unserer Missetat willen zerschlagen worden war, auf dem die Strafe lag, auf dass wir durch ihn Friede hätten mit Gott und durch seine Wunden wir geheilt würden“ - nicht auf den Sohn Gottes gründete man die Hoffnung der Vergebung der Sünden und Begnadigung, sondern ganz wie die Pharisäer auf des Gesetzes Werke, auf das Äußerliche der Gottseligkeit, auf die eigene Gerechtigkeit, die doch vor Gott nur wie ein unflätig Kleid ist, ja auf Gold und Silber, womit man die Vergebung der Sünden zu erkaufen gedachte. So wurde dem Herrn seine Ehre und den Menschen die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, geraubt. Nur dadurch war dieses möglich, dass man ganz vergessen hatte: „Wisst, dass ihr nicht mit vergänglichem Gold oder Silber erlöst seid von eurem eitlen Wandel nach väterlicher Weise, sondern mit dem teuren Blute Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes.“ Was hat diesem Verderben endlich ein Ziel gesetzt? Welche Macht war stark genug, die Kirche aus diesen Stricken des Feindes zu befreien, die Nebel des Wahns zu zerstreuen und die Augen wieder aufzutun für den König der Wahrheit und für das, was allein zu unserem Frieden dient? Fürwahr, nicht das Aufsehen auf den zur Rechten Gottes Erhöhten in seiner Siegesgestalt, sondern das Aufsehen auf den an das Kreuz Erhöhten in seiner dornengekrönten Knechtsgestalt. Welch ein Licht ging damit plötzlich auf in der Finsternis! Welch ein Geist von oben und mit ihm ein neues, edles Leben kam in die christliche Kirche, als Luther von Gott erleuchtet mit dem heiligen Apostel sprach: „Ich hielte mich nicht dafür, dass ich etwas wüsste unter euch, ohne allein Jesum Christum, den Gekreuzigten!“ als vor den Strahlen dieser seligmachenden Wahrheit die Dunkelheit, die Golgatha umhüllt hatte, weichen musste, und das Kreuz wieder in seiner göttlichen Kraft und Hoheit in die Augen der Christenheit glänzte! Da erbleichten die missbrauchten Namen der Heiligen, und man gab wieder dem die Ehre, dessen Name und kein anderer uns gegeben ist, „dass wir darin sollen selig werden,“ dem, von welchem allein der Geist zeugt: „Es ist Ein Gott und Ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Jesus Christus;“ da wurden die Ablasskästen zerschlagen, wie einst der Herr im Tempel die Tische der Wechsler umstieß, und der ewige Hohepriester erschien wieder, wie er mit seinem teuren Blute durch den zerrissenen Vorhang in das Allerheiligste einging vor Gott zu versöhnen die Sünden des Volkes; da durchdrang Millionen Herzen aufs Neue das große Wort des Apostels: „So halten wir es nun, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werk, allein durch den Glauben. Aus Gnaden seid ihr selig worden durch den Glauben, und dasselbige nicht aus euch, Gottes Gabe ist es, nicht aus den Werken, auf dass sich nicht Jemand rühme;“ da flüchteten sich alle, denen es um ihr Heil zu tun war, unter das Kreuz mit dem demütigen Bekenntnis: „Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir vor Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Christum Jesum geschehen ist, welchen Gott hat vorgestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blute;“ da gewann das Wort Gottes wieder sein ganzes göttliches Ansehen, die Propheten, Evangelisten und Apostel gaben wieder ihr glorreiches Zeugnis, und die unnützen und schädlichen Menschenfündlein und Satzungen mussten aus dem Bereich des evangelischen Glaubens verschwinden. Nur das Wissen von Christo, dem Gekreuzigten, konnte diese Reinigung und Wiederherstellung der Kirche, diesen wunderbaren Sieg des Lichtes über die Finsternis und über die furchtbarsten Gewalten dieser Welt bewirken. So hatten ja schon die Apostel des Herrn es zu ihrer Zeit erfahren und bezeugt: „Wir predigen Christum den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit, denen aber, die berufen sind, beide, Juden und Griechen, predigen wir Christum göttliche Kraft und göttliche Weisheit.“ Wie nun durch diese Predigt von dem Gekreuzigten die Kirche gegründet, ausgebreitet und gereinigt worden ist, so kann sie auch nur durch diese Predigt erhalten werden bis an das Ende der Tage. Wo diese Predigt in uns kräftig worden ist, „da lassen wir uns nicht mehr wägen und wiegen durch allerlei Wind der Lehre, durch Schalkheit der Menschen und Täuscherei uns zu erschleichen und verführen.“ - Wie nun dieses Wissen von Christo dem Gekreuzigten die Kirche rein erhält, so ist es auch:

Ein Wissen, welches das Herz heiligt und tröstet. Ach Paulus wusste wohl, warum er sein Wissen von dem Kreuze Christi so hoch hielt, warum er alles Übrige, worauf er sonst noch sich hätte etwas zu gute tun können, für Kot, für Schaden erklärte gegen die überschwängliche Erkenntnis Jesu Christi, warum er sein Leben daran setzte, alle Menschen mit dieser Erkenntnis zu erleuchten und in ihr göttliche Kraft und göttliche Weisheit erkannte. Denn wer hat das jemals mehr an sich selber erfahren? Welch eine unglaubliche, glückliche Veränderung hatte diese Erkenntnis in ihm hervorgebracht, eine Veränderung, wodurch er wiedergeboren zu einem neuen, edleren Leben, zu einem Menschen Gottes zu allem guten Werk geschickt geworden war! Christum den Gekreuzigten hatte er früher nicht gekannt; ein Pharisäer war er gewesen, mit pharisäischem Auge hatte er das Gesetz angesehen, durch des Gesetzes Werke seine Gerechtigkeit vor Gott zu finden gemeint. Darum war in ihm viel Hochmut, Eigendünkel, Ungerechtigkeit, Zorn, Bitterkeit gewesen, darum glühte er von einem solchen blinden Eifer und Hass gegen die frommen Gläubigen, erzeigte ihnen Böses, wo er konnte, und wähnte Gott einen Dienst damit zu tun, und tat doch, was dem Gott der Wahrheit, der Liebe und des Friedens ein Gräuel war. Er kannte weder den heiligen noch den gnädigen Willen Gottes, und so fehlte es ihm an aller Selbsterkenntnis, Demut, Buße und Liebe, welche ist des Gesetzes Erfüllung, so war er mit aller seiner vermeintlichen Weisheit und Selbstgerechtigkeit doch nur ein unseliges Kind der Finsternis und des Verderbens. Wie ganz, wie vollkommen anders war alles mit ihm geworden, seitdem er den erkannt hatte, „der um unserer Sünde willen dahin gegeben, und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt ist,“ seitdem er sprach: „Es sei ferne von mir rühmen, ohne allein von dem Kreuze Jesu Christi, durch welchen mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt - das ist je gewisslich wahr und ein teuer wertes Wort, dass Christus Jesus kommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen, unter welchen ich der vornehmste bin - aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, auf dass vornehmlich an mir Jesus Christus erzeigte alle Geduld zum Exempel denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben.“ In welcher Christentugend ist Paulus nicht allen Gläubigen ein herrliches Vorbild geworden, nachdem er den Quell der Wiedergeburt und Heiligung in den Wunden Christi gefunden hatte, und uns aufforderte: „Lasst uns ablegen die Sünde, so uns immer anklebt und träge macht und laufen durch Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist, und aufsehen auf Jesum, den Anfänger und Vollender des Glaubens, welcher, da er wohl hätte mögen Freude haben, erduldete er das Kreuz und achtete der Schande nicht, und ist gesessen zur Rechten auf dem Stuhl Gottes.“

So ist es bei allen, die diese Ermahnung befolgen. Nicht die herrlichen Lehren, nicht die erhabenen Wunder, nicht die göttlichen Tugenden des Herrn gewinnen so ganz unsere Herzen, ziehen uns genug in seine selige Gemeinschaft, dass wir dadurch geheiligt werden, aber sein bitteres, unschuldiges Leiden und Sterben, sein Kreuz vermag dieses. „Wenn ich erhöht werde von der Erde, will ich sie alle zu mir ziehen,“ spricht der Herr. Da erweckt seine unaussprechliche Liebe und Treue unser Gewissen, unsere Buße, unsere Liebe und Dankbarkeit, unseren Entschluss, dem zu leben, der uns geliebt und sich selbst für uns dargegeben hat,“ und die gerührte Seele spricht: Der am Kreuz ist meine Liebe. Da breitet er zu sich lockend, zu sich ziehend seine durchgrabenen Hände nach uns aus, und der Speerstich, der ihm das Herz durchbohrt, geht auch uns durchs Herz, dass wir uns mit Leib und Seele ihm zum Eigentum und Opfer begeben, das da lebendig, heilig und ihm wohlgefällig sei. Da fühlen wir: „Er hat unsere Sünde selbst geopfert an seinem Leibe auf dem Holz, auf dass wir der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben, und durch seine Wunden sind wir heil worden.“ Wen unter dem Kreuze Christi der Geist Gottes nicht zum gnadesuchenden Schächer machen kann, der in Buße und Glauben trachtet in sein Reich aufgenommen zu werden, der ist in großer Gefahr, das Schicksal des Schächers zur Linken teilen zu müssen. Was sollen wir von dem Troste sagen, den das Wissen von Christo dem Gekreuzigten den Gläubigen gibt von diesem Troste, den sonst nichts in der Welt uns geben kann, von dieser Erquickung, die als ein Hauch Gottes uns von Golgatha kommt, von dem Frieden Gottes, der über alle Vernunft ist, den wir unserem Versöhner verdanken, von dem Balsam für alle unsere Seelenwunden, der aus den Wunden des Gekreuzigten in die unsrigen fließt, von der Wahrheit: „Gleichwie wir des Leidens Christi viel haben, also werden wir auch reichlich getröstet durch Christum.“ Wenn Schmerzen des Leibes uns peinigen - seine Dornenkrone, seine Kreuzesnägel heißen uns geduldig sein; wenn Hass und Verachtung uns kränkt - seine Schmach, seine Lästerung macht uns gelassen; wenn wir uns verlassen fühlen - seine Gottverlassenheit um unseretwillen ist uns die Bürgschaft, dass Gott uns nicht verlassen wird; wenn uns Not und Armut beugt - sein Schmachten und Dürsten, sein Essigtrank gibt uns Kraft zum Entbehren und Tragen; wenn unser Gewissen uns mit scharfen Stacheln quält, uns Verwerfung und Verdammnis droht - sein Blut ist vergossen zur Vergebung der Sünden; wenn die Todesnot uns bange macht - sein Wort zu dem bußfertigen Schächer öffnet unseren brechenden Augen die Aussicht in das Paradies. Das Bildnis des Gekreuzigten ist das Letzte, worauf sich die Blicke der Sterbenden richten; „Ich hielte mich nicht dafür, dass ich etwas wüsste unter euch, ohne allein Jesum Christum, den Gekreuzigten,“ das ist ihr letzter Gedanke, das ist der Trost von dem allmächtigen, ewigen und barmherzigen Gott, wo alles andere Wissen und Verstehen, alle Weisheit und aller Trost der Welt wie ein dürrer Halm und ein fliegendes Blatt wird.

Ist nun unser Wissen von Christo dem Gekreuzigten besser, höher als alles andere Wissen, gewährt es uns die hellsten Blicke in die Tiefen der göttlichen Allmacht, Weisheit und Liebe, hat es die Kirche vor Verderbnis bewahrt und ihr ihre ursprüngliche Gestalt und Reinheit wiedergegeben, ist es das einzig sichere Mittel zu unserer Rechtfertigung, Heiligung und Beruhigung: was ist gewisser, was notwendiger, als dass es in jeder christlichen Seele, in der ganzen Kirche des Herrn im lebendigsten Bewusstsein erhalten werde, soll anders die Seele ihrer Erlösung durch den Sohn Gottes nicht verlustig werden und die Kirche durch alle Zeiten hindurch blühen, wachsen, herrschen und Millionen Seelen tüchtig zu dem Erbteil der Heiligen im Licht machen? Ihr seht, wie tief die Kirche von ihrem Anfang an dieses gefühlt, welche Anstalten sie von Alters her zur Erhaltung und Förderung dieses seligen Wissens gemacht hat. Deswegen hat sie der ausdrücklichen Predigt von dem Leiden Christi eine besondere Zeit des Kirchenjahres, eine Zeit von vierzig Tagen gewidmet und verordnet, dass während dieser Zeit eine heilige Ruhe und Stille in allen Landen der Christenheit sein und in allen gottesdienstlichen Versammlungen Gesang, Rede und Gebet dem Kreuz des Herrn geweiht werden soll; dessentwegen steht am Schlusse dieser Zeit der heilige Karfreitag mit seinen herzbewegenden Erinnerungen, dass alles, was den Namen Christi nennt, sich auf Golgatha versammeln und betend aufschauen soll zu dem Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn; dessentwegen soll das Kruzifix jeden Altar schmücken und in jedem Hause, wo Christen wohnen, zu finden sein, als das gemeinschaftliche Glaubenszeichen und Siegespanier für die ganze Heerschar der Erlösten des Herrn auf Erden, als die unaufhörliche Erinnerung für die Gemeinde, für die Familie, für jedes Christenherz: „Ob er wohl in göttlicher Gestalt war, so hielt er es doch nicht für einen Raub, Gott gleich sein, sondern äußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an und ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden; er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, bis zum Tode am Kreuze. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen die Knie aller derer, die im Himmel, auf Erden und unter der Erden sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr sei zur Ehre Gottes des Vaters.“ Deswegen hat der Sohn Gottes sein Abendmahl gestiftet, und gibt uns darin seinen für uns getöteten Leib, sein zur Vergebung unserer Sünden vergossenes Blut mit der liebreichen Ermahnung: „Solches tut, so oft ihr's tut, zu meinem Gedächtnis.“ Deswegen machen wir das Zeichen des Kreuzes über das Haupt der Getauften, der Absolvierten und der Entschlafenen, anzudeuten, wodurch sie von Sünde, Tod und Hölle erlöst und für den Himmel gewonnen sind. Und wo ein treuer Diener des Herrn sein Amt verwaltet, da wird man es ihm leicht anmerken, dass ihn die Gesinnung des edlen Apostels beseelt: „Ich hielte mich nicht dafür, dass ich etwas wüsste unter euch, ohne allein Jesum Christum, den Gekreuzigten.“

Sei denn auch in euch, geliebte Christen, dieses Wissen von dem Gekreuzigten stets gegenwärtig, lebendig und fruchtschaffend euer Leben lang! Erneuert, stärkt, belebt es von einer Zeit zur andern durch das Lesen der Passionsgeschichte, durch die schönen Gottesdienste des Herrn, durch die Predigt des Evangeliums, durch das Sakrament des Altars, täglich durch inbrünstiges Gebet zu dem, „der am Tage seines Leidens Gebet und Tränen für uns geopfert hat.“ So wird dieses dankbare, lebendige Wissen euch erleuchten, heiligen, trösten, den schmalen Pfad führen auf eurer ganzen Pilgerschaft, und am Ende der Tage euch geben, was der Sohn Gottes uns am Kreuz erworben hat, Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und das ewige Leben. Amen.

1)
Vater unser …
Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/b/bomhard/bomhard-predigt_am_heiligen_karfreitag.txt · Zuletzt geändert: von aj
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain