Baumgarten, Michael - Am achten Sonntage nach Trinitatis.

Baumgarten, Michael - Am achten Sonntage nach Trinitatis.

Die strenge Forderung der Gerechtigkeit, welche Jesus an die Seinen stellt.

Lasset uns heute, geliebte Zuhörer, unsere gemeinsame Betrachtung damit eröffnen und einweihen, daß wir mit geziemender Aufmerksamkeit und Andacht das Evangelium dieses Tages vernehmen.

Matth. 5, 20-26.

Der Ton dieser Rede unseres Herrn ist ein den Ohren der meisten Christen ungeläufiger und fast störender und die Gestalt, in der hier der Heiland auftritt, ist den Meisten unter uns fremdartig und unverständlich. Die Gewalt eines unbeugsamen Ernstes spielt hier um seine Lippen und seine Worte tönen von Anfang bis zu Ende wie ein mächtig schmetternder Donnergang. Freilich sind die Tonarten, in denen Jesus redet, gar verschieden und die Gestalten, in denen er uns begegnet, gar mannichfaltige. Wie anders zeigt er sich uns, wenn er in der Krippe liegt zu Bethlehem gebunden in Windeln, und wie anders, wenn er sich vom Oelberg erhebt getragen von der Wolke des Himmels; wie anders offenbart er sich, wenn er die Geisel nimmt in seine Hand und die Majestät seiner Erscheinung alle Störer des heiligen Dienstes von dannen jagt, wie anders dagegen, wenn, er seine Hände darreicht, um sie von den Nägeln des Kreuzes durchbohren zu lassen; wie anders ist es, wenn er den Jünger, den er lieb hat, an seiner Brust ruhen läßt, wie anders wiederum erweist er sich, wenn derselbe Jünger ihm zu Füßen stürzt und da liegt wie ein Todter (s Offenb. 1, 17.) Und der Ton seiner Stimme zu weilen ist er wie himmlische, Harmonie, die sich in die unbegrenzten Tiefen unseres Herzens senkt und hier die Pforten des ewigen Lebens aufschließt, oder wie das linde geheimnißvolle Säuseln des Abendwindes, der wie aus einer andern Welt uns anhaucht und uns Geistersprache lehren will. Zu anderen Zeiten aber führt sein Wort einher wie das Brüllen des Löwen und schmettert wie die Posaune des Weltgerichts. Wie ist denn nun unsere Stellung, Geliebte, zu dieser Mannichfaltigkeit und Verschiedenheit, in welcher sich der Erlöser offenbart? Haben wir die Freiheit, uns das auszuwählen, was uns am Meisten zusagt, das Uebrige dagegen zu übersehen und zu überhören, indem wir es auf sich beruhen lassen? Wir fühlen wohl Alle gleich, daß eine solche Willkür unserm Herrn und Haupte gegenüber uns nicht zuständig ist. Er ist der Herr, und wir sind die Knechte; wohin er winkt, müssen wir gehen; er ist das Haupt und wir sind die Glieder, wohin er zieht, müssen wir nachfolgen. Dazu kommt, daß seine Offenbarung nicht eine stückweise und getheilte ist, in jedem seiner Worte, Werke und Erscheinungen ist er ganz und ungetheilt und zwar immer als derselbige. Daher geziemt es uns, daß wir vor Allem und Jedem, was er redet, was er thut und was er leidet, so lange sinnend stille stehen, bis sich darin das Gepräge seiner unnachahmlichen Eigentümlichkeit aufschließt, bis wir darin ihn selbst erkennen und verstehen als denjenigen, der mit keinem Andern, sondern nur mit sich selber verglichen werden kann. Daher ist es bedenklich und gefährlich, sich von irgend Etwas, das uns von Jesu berichtet wird, abzuwenden und es sich fremd werden zu lassen; und dies gilt in hohem Maße von der Entfremdung, in welcher sich die gegenwärtige Christenheit sehr allgemein der verlesenen Rede Jesu gegenüber befindet. Es hängt dies nämlich aufs Engste zusammen mit dem schwächlichen und weichlichen Wesen dessen, was heut zu Tage christlich heißt und ist. Sehr traurig ist es, aber geleugnet kann es nicht werden, daß es dem heutigen Christentum an aller Frische und Farbe der Gesundheit, an aller Kraft, Fülle und Freudigkeit des Lebens in ganz auffallendem Grade fehlet. Wie nun ein verzärtelter Leib sich nicht gerne der frischen, strengen Luft eines Wintertages aussetzt, sondern die behagliche Wärme des Zimmers vorzieht, dadurch sich aber noch immer mehr verweichlicht, so ergeht es unserm Christentum mit der vernommenen Rede Jesu. Es ist hier kein süßes Wort von Versöhnung und Sündenvergebung, kein lieblicher Trost für Leiden und Schwachheiten, ein frischer strenger Hauch des mahnenden und drohenden Geistes ist die belebende Seele der ganzen Rede. Darum wendet man sich von diesem Worte hinweg oder sucht sich mit ihm nothdürftig abzufinden, um sich sodann solchen Reden zuzuwenden, aus denen man leichter nur Beruhigendes und Beschwichtigendes heraushören kann. Wenn nun aber Diejenigen, welche vorzugsweise die Christen und die Gläubigen sein wollen, sich so verhalten, so ist es kein Wunder, wenn die Anderen auf den Irrthum verfallen, die Lehre von der Versöhnung sei lediglich eine unwahre und unreine Abfindung und Beschwichtigung der verklagenden Gewissensstimme und der Glaube an die Vergebung der Sünden sei zu Nichts gut, als sittliche Trägheit und Bequemlichkeit zu fördern; ja sie gehen so weit, zu sagen, Christus habe an die Stelle des unaufhaltsamen Forschens nach Wahrheit und Gewißheit todte Satzungen gebracht, an die Stelle des sittlichen Strebens und Ringens nach Tugend und Reinheit fromme Worte und geistliche Uebungen gesetzt. Indem nun diese Irrenden Christum den Gerechten und Heiligen Gottes zum Sündendiener machen, wähnen sie, über das Christenthum hinausgeschritten zu sein. Aber, daß wir es nur nicht übersehen, diese große Thorheit kommt nicht zu Stande ohne große Schuld Derer, welche den Namen Christi immerdar im Munde führen! Weil den Einen das Christenthum nicht ist, was es sein will, wie eine kräftige himmlische Arznei zur Gesundheit und zum Leben, sondern eher ein süßes Gift zur Verderbniß der noch übrigen Lebenssäfte, so sagen die Anderen: wir bedürfen keines Heilmittels, wir sind in uns selber gesund und stark, während sie doch in Wahrheit krank sind zum Tode.

Wenn es denn nun also stehet, geliebte Zuhörer, so laßt uns mit dem heiligen Worte unseres heutigen Sonntages ganzen und vollen Ernst machen. Wahrlich, wollen wir nicht verloren gehen in dieser eben so schlaffen als übermüthigen Zeit, unter diesem so verzagten als trotzigen Geschlecht, so dürfen wir nicht leichten Schrittes an unserm Wort vorübergehen, sondern wir müssen in dasselbe eintreten wie in ein Heiligthum. So lasset, uns denn thun, Geliebte, lasset uns uns in dieses Heiligthum einschließen, ungestört und unbeirrt von Allem, was wir sonst wissen und denken, bis uns dieses Heiligthum erfüllt werde von der Herrlichkeit des Eingeborenen voller Gnade und Wahrheit. Und .du, himmlischer Vater, wollest uns dazu deinen Segen geben, du selber bist es, der du durch die verborgene Kraft deines heiligen Geistes jegliches Sehnen und Verlangen nach deiner Wahrheit weckest, siehe, wir kommen und möchten schauen das Angesicht deiner heiligen Wahrheit, damit wir leben in deiner Gerechtigkeit und nicht sterben in unseren Sünden. Amen.

Jesus beginnt in unserem Evangelium damit, daß er von denen, die er anredet und die sich als Mitglieder seines Reiches von ihm wollen angesehen wissen, eine vollständige Gerechtigkeit fordert. Aber er beginnt nicht blos mit dieser Forderung, sondern das ganze Wort des Herrn, welches ihr vernommen habt, bewegt sich in dieser Forderung. Die Gerechtigkeit ist das Grundwort, welches das ganze Gebiet dieser seiner Rede bestimmt und beherrscht. Die durchschlagendsten Ausdrücke, welche er hier gebraucht, wie Gericht, Rath, höllisches Feuer, Widersacher, Richter, Diener, Kerker und Bezahlen, alle diese Ausdrücke sind aus dem Kreise entlehnt, in welchem das Wort Gerechtigkeit den Mittelpunkt bildet. Wir werden also Alles zusammenfassen, wenn wir sagen: es ist die strenge und unerbittliche Forderung der Gerechtigkeit, welche Jesus hier an die Seinen richtet.

Wenn wir dieser Sache zunächst im Allgemeinen weiter nachdenken, so muß es uns auch bald einleuchten, daß es auch wirklich gar nicht anders sein kann und darf, wenn Jesus sich als der rechte Heiland der verlorenen Menschheit, der wirkliche Wiederhersteller der zerstörten Gottesordnung erweisen will. Die Gerechtigkeit ist das Grundmaß, nach welchem der Bau des menschlichen Wesens von der Hand des Schöpfers angelegt ist, und dieses Grundmaß ist mit dem menschlichen Wesen unverwüstlich und unzerstörbar verbunden. Wir sehen dieses am deutlichsten an dem Sünder, der den Bau Gottes verwüstet und zerstört. Er mag es anfangen, wie er will, die Stimme des Gewissens begleitet ihn, wo er geht und steht, und diese Stimme predigt ihm fort und fort das Wort der Gerechtigkeit. Darum muß es der Verbrecher unter dem blutigen Beile und der Verdammte in dem ewigen Feuer bezeugen, daß Gerechtigkeit der Grundstein ist, auf welchem Gott das menschliche Wesen für alle Ewigkeit gebauet hat. Da nun die Gerechtigkeit so tief unserem ganzen Wesen eingeprägt ist, so kann keiner uns ein Heiland der Menschheit und ein Retter der Seele sein, als wer die Gerechtigkeit als ein hohes und heiliges Panier erhebt, um welches sich die Seinen zu scharen haben. Deswegen, wenn es uns auch mit tausend Schmerzen durchschneidet, daß er die Forderung der Gerechtigkeit so strenge und unerbittlich stellt, wir werden es doch immerdar für Recht erkennen müssen, daß er es thut, ja wenn wir uns im innersten Grunde unseres Herzens besinnen, so werden wir eben um deswillen ihm entgegenjubeln, weil wir daraus ersehen, daß er nicht lassen will von dem, was der unvertilgbare Grund unseres Wesens ist und weil, wenn es anders wäre, wir niemals unbegränztes Vertrauen zu ihm fassen könnten. Demnach muß es uns auch wohl verständlich sein, daß unser Herr, als er zum ersten Mal sich ausführlich über seinen Beruf vor seinem Volke erklärt, sich auf die unumwundenste und entschiedenste Weise zu der Gerechtigkeit und ihrem ewig unwandelbaren Gesetze bekennt. Es war im Anfang seiner öffentlichen Thätigkeit, als er den Berg in Galiläa bestieg, und um sich versammelt sah die Scharen des Volks aus Galiläa, dem Zehnstädtegebiet, aus Jerusalem und Judäa und von Jenseits des Jordan, und da er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger als die Nächsten zu ihm heran. Da sah er die Volkshaufen und that seinen Mund auf und lehrete sie. Freilich beginnt er nicht mit dem Donner und Blitz vom Sinai, noch mit den Flüchen der Berge Gaizim und Ebal, sondern als der gekommen ist, zu suchen, was verloren ist, hebt er an mit seinen herzgewinnenden Seligpreisungen, die Euch nicht unbekannt sein werden. Nach diesem lockenden Eingang läßt er aber das Erste seiner eigentlichen Rede sein, daß er erklärt: ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, aufzulösen das Gesetz und die Propheten, nicht bin ich gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich ich sage euch, bis daß vergeht der Himmel und die Erde, wird nicht ein Buchstabe, nicht ein Strich von dem Gesetze vergehen, bis daß Alles geschiehet. Wer nun auflösen wird eines dieser kleinsten Gebote und lehret also die Menschen, ein kleinster wird er heißen in dem Reiche des Himmels, wer sie aber thut und lehret, dieser wird groß heißen in dem Reiche des Himmels (s, Matth. 5, 17-19), Mit diesen gewaltigen Worten bekennt sich unser Herr nicht blos für sich selber zu dem geschriebenen Gesetze der Gerechtigkeit, sondern macht zugleich dieses geschriebene Gesetz der Gerechtigkeit mit allen seinen Einzelheiten zu einer unwandelbaren und unantastbaren Richtschnur für Alle, welche in seinem Reiche lehren und leben wollen. Auf dieser Grundlage nun stehend beschreibt er die Gerechtigkeit, welche er von den Seinen fordert, indem er auf die damalige Gegenwart in Lehre und Leben eingeht und somit zeigt, wie sich die Gerechtigkeit unter den gegebenen Umständen und Verhältnissen offenbaren müsse, durch welches Eingehen auf die Allen vor Augen stehende Gegenwart er es leicht erreichen konnte, daß Alle ihn verstehen mußten und genau wissen konnten, was Jesus im Namen der Gerechtigkeit von ihnen verlange und was er um der Gerechtigkeit, willen von ihnen gemieden wissen wolle. In diesem Eingehen der Rede auf die damalige Gegenwart bildet unser Evangelium den ersten Abschnitt, in welchem, wie wir gesehen haben, recht eigentlich die Gerechtigkeit den Grundton angiebt. Laßt uns nun miteinander, Geliebte, die Hauptpunkte betrachten, aufweiche der Heiland in diesem Abschnitte die Forderung der Gerechtigkeit richtet. Um aber dieses in fruchtbarer Weise thun zu können, müssen wir, was der damaligen Zeit angehört, in unsere Gegenwart zu übertragen suchen. Und dies ist uns, wenn wir anders im Geiste leben und im Geiste wandeln, nicht schwer gemacht. Durch das Wort, unseres Herrn hat nämlich die Zeit seines Lebens eine solche Klarheit und Durchsichtigkeit erhalten, daß sie allen Zeiten und auch unserer Gegenwart zu einem hellen Spiegel dient.

Zuerst haben wir nur auf das Wort zu achten: wenn ihr eine bessere Gerechtigkeit habet, als die Schriftgelehrten und Pharisäer, nur dann werdet ihr eingehen in das Himmelreich. Es gab also schon eine Gerechtigkeit in der Welt, und diese war keineswegs eine geringe und verächtliche. Die Schriftgelehrten waren nicht Männer, welche aus eigenem Geiste und aus der Weisheit anderer Menschen das Wesen der Gerechtigkeit zu erfinden und zusammenzustellen suchten, sondern die Schrift Gottes hatten sie vor Augen und sie kannten jeden Buchstaben und jeden Strich dieser heiligen Schrift gar wohl, auch stand es ihnen völlig fest, daß diese Schrift nicht menschlichen, sondern göttlichen Ursprunges sei. Aus dieser heiligen Schrift stellten sie die Regel der Gerechtigkeit für die Gegenwart zusammen und eben dies und nichts Anderes war ihre Lehre. Die Pharisäer waren aber diejenigen, welche es sich angelegen sein ließen, diese Regel der Schriftgelehrten im Leben zu befolgen und indem sie Alles nach dieser Regel einrichteten, ein lebendiges Muster der Gerechtigkeit aufzustellen. Freilich bezog sich nun diese Gerechtigkeit durchweg auf äußerliche Gebräuche und Werke, aber übersehen wir nicht, daß diese Leistungen durchaus nicht etwas Gewöhnliches oder Gemeines waren, daß wir vielmehr in unserem Leben gar Nichts aufweisen können, was an durchgehender Ordnungsmäßigkeit damit auch nur entfernt verglichen werden kann; auch das dürfen wir dabei nicht, übersehen, daß es bei dieser pharisärischen Regelmäßigkeit des gestimmten äußern Lebens keineswegs immer an tief ernster und aufrichtiger Gesinnung fehlte, wie wir an den Beispielen von Nikodemus; Gamaliel und dem, welcher früher Saulus und nachher Paulus hieß, sowie endlich an denen, welche, wiewohl sie an Jesum gläubig waren, doch Pharisäer blieben (s. Apostgesch. 15, 5) deutlich genug erkennen können. Genug die Regel der Schriftgelehrten und die Gesetzmäßigkeit der Pharisäer war das höchste Vorbild der Gerechtigkeit, welches die Israeliten in der damaligen Zeit kannten, wie sie denn auch sicher wußten, daß es in der ganzen Welt nichts Vollendeteres gebe, noch geben könne. Wir können darnach wohl das Staunen ermessen, welches die Zuhörer Jesu ergreifen mußte, als er eine Gerechtigkeit forderte, welche über das anerkannte Maß der vollkommensten Gerechtigkeit hinausreichen sollte. Aber dieses Staunen ist auch heute noch ganz dasselbe, wenn wir die Forderung unseres Herrn nur aufrichtig in unsere Gegenwart übersetzen. Wir hören zwar nicht mehr die genaue Regel der Schriftgelehrten und sehen zwar nicht die strenge Ausführung dieser Regel in dem Leben der Pharisäer, aber etwas Aehnliches haben wir doch. Das, was für uns als die höchste Regel der Gerechtigkeit gilt, ist die Summe alles dessen, was diejenigen, die es streng und eifrig mit sich und Andern nehmen, zum Christenthum zu rechnen pflegen. Jene jüdische Regel lautete vor Allem auf Fasten, Beten und Almosen, unsere christliche Regel umfaßt vornämlich das Festhalten der Hauptlehren des Christenthums und die Verwerfung der entgegenstehenden Meinungen, die Uebung des Gebetes, die möglichst strenge Heilighaltung des Sonntags, den Besuch des Gottesdienstes, die Teilnahme an dem Tische des Herrn, sowie endlich die Enthaltung von gewissen weltlichen Vergnügungen und die Vertheidigung bei den Werken der christlichen Liebe. Die nach dieser Regel Einhergehenden hält man gemeiniglich für Christen, die von ihr Abweichenden dagegen für Nichtchristen. Und zu leugnen ist es nicht, es giebt in der Zahl der Ersteren viele aufrichtige fromme Seelen, deren Namen im Himmel angeschrieben ist. Aber laßt es Euch nicht wundern, geliebte Zuhörer, im Wesentlichen stellt Jesus sich zu dieser christlichen Regel nicht anders, wie zu jener jüdischen: er sagt zu uns Allen ohne Ausnahme, habt ihr keine bessere Gerechtigkeit als die nach jener Regel, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen. Es kann wirklich recht wohl geschehen und geschieht wirklich sehr viel häufiger, als es die Meisten für möglich halten, daß man alle die genannten Dinge mit redlichem Sinne beobachten und innehalten kann und doch gänzlich ferne bleibt dem Leben in der Gerechtigkeit; außerdem aber giebt es unter den Befolgern dieser Regel Manche, welche es nicht von Grund des Herzens meinen und daher sich und Andere täuschen. Worauf denn, werdet Ihr fragen, soll es denn ankommen? Auf eben dasselbe, was unser Herr jener Regel der Schriftgelehrten und Pharisäer entgegenstellte. Ich aber sage euch, führt Jesus fort. Jene Regel schiebt er bei Seite, die Schriftgelehrten und Pharisäer stößt er fort, und sich selber setzt er zum alleinigen Meister und Lehrer ein; und dieses so ausschließlich, daß die Seinen selbst die heilige Schrift, welche er vorher bestätigt hat, nur aus seinem Munde vernehmen sollen. Hier allein liegt das Verständnis über das Geheimniß der Gerechtigkeit welches Jesus lehrt. Wer Jesum sah und hörte während seines irdischen Lebens, der mußte erkennen, daß in ihm erschienen war, wofür es bis dahin immer nur eine leere Stätte gegeben hatte. Gesetz und Propheten forderten den gerechten Mann und so unerbittlich stellten sie diese Forderung, daß sie alle Rettung und allen Segen schlechthin von der Erscheinung dieses Gerechten abhängig machten. Viele nun waren erschienen, welche nach der einen oder der andern Seite hin diese Forderung erfüllten, aber völlig hatte das Maß der Forderung Niemand erreicht, sondern bei allen den hohen und göttlichen Gestalten der Gerechtigkeit zeigte sich immer in sehr bestimmter Weise ein Mangels an Gerechtigkeit. Jesus war der Erste und der Einzige, der die immer offen gebliebene Forderung vollständig erfüllte, und in seiner Erfüllung zeigte sich erst die ganze Tiefe und Weite der Gerechtigkeit, welche die heilige Schrift gemeint hatte. Er war die lebendige Wahrheit und Wirklichkeit des Gesetzes selber. Darum haben sie ihn auch schlechtweg den Gerechten genannt (s. Apostelgesch. 7, 52. 22, 14. Jacob. 5, 6). Das ist der Grund, warum er sein Wort und seine Person als die lebendige Regel den buchstabenmäßigen Satzungen der Schriftgelehrten und Pharisäer streng und fest entgegenstellt. Und so ist es auch noch am heutigen Tage geblieben. Wollt ihr verstehen die Gerechtigkeit, welche Jesus fordert, so muß er selber und er allein Euch vor Augen stehen und nicht irgend eine christliche Regel, und wäre sie noch so gut und noch so strenge. Er hat nämlich unter uns noch heute seine wirkliche und lebendige Gegenwart. Sein Verheißungswort: ich will bei euch sein alle Tage bis an der Welt Ende (s. Matth. 28, 20) ist zwar bekannt genug, es wird aber selten recht verstanden und noch weniger recht zu Herzen genommen. An sich hat er es nicht fehlen lassen, um uns vollständig aufzuklären über die Weise, wie er bei uns sein und bleiben will, und wie wir seiner alle Tage inne werden sollen. Als er von den Seinen Abschied nahm, hat er sie an den heiligen Geist verwiesen, der darum seine Stelle vertreten könne und solle, weil der heilige Geist nicht ein geringerer ist, als er selber und in dem heiligen Geist seine ganze Wesenheit und Geschichte beschlossen ist. An diese seine unsichtbare Gegenwart in dem heiligen Geiste sind wir also angewiesen bis zu dem Zeitpunkte, wo er sichtbar wiederkommen wird in den Wolken des Himmels. So oft wir also die Geschichte Jesu im Ganzen oder Einzelnen lesen oder hören, so oft wir das Bild Jesu sehen in lebendigen Personen, so oft wir die Gestalt der Gerechtigkeit Christi erkennen in Worten, Sitten, Gebräuchen und Ordnungen der Kirche, will der heilige Geist uns immerdar in diesem Allen die lebendige Gegenwart und das reine ungetrübte Bild Jesu Christi zeigen, so daß wir nicht haften sollen mit unseren Vorstellungen an irgend welchem Aeußerlichen und Unvollkommenen; ja der heilige Geist will uns nicht nur den lebendigen und vollständigen Christum zeigen und darstellen, er will ihn selber in unser Herz einführen und ihn selber uns innerlich gegenwärtig machen. Denn der heilige Geist redet nicht sowohl mit unserm äußern Sinne, sondern mit unserm innersten Lebensgrunde, mit unserm eigenen Gewissen und Geiste redet und handelt er. Also nur weit und frei aufgethan die Pforten Eures Herzens, so tritt Christus selber, wie er ist gestern und heute und in Ewigkeit derselbe, in Euer innerstes Bewußtsein ein und erst dann wisset Ihr, was Gerechtigkeit ist; erst dann zeigt sie sich Euch in einem einzigen Ueberblick, nicht als eine Summe von Einzelheiten und Stückwerken, sondern in lebendiger Einheit, Ganzheit und Fülle. Dann werdet Ihr merken, wie alle Eure Bilder und Gestalten, die Ihr Euch selber gesetzt habet, erblassen vor dem göttlichen Lichte dieser in Christo erscheinenden Gerechtigkeit; dann erst verstehst Du sein Wort, wenn er spricht: ich aber sage Euch. Erst dann wirst du aber auch inne werden, worauf das Wort Jesu von der Gerechtigkeit im Gegensatz zu der Regel der Schriftgelehrten und Pharisäer gerichtet ist. Die Schriftgelehrten und Pharisäer erklärten das göttliche Gebot vom Tödten dahin, daß sie es lediglich auf die handhafte That des Menschen bezogen wissen wollten. Damm sagten sie: wer da tödtet, der ist den Gerichten verfallen. Jesus sagt: Jeder, der seinem Bruder zürnt ohne Grund, der ist den Gerichten verfallen, hat also das Gesetz gebrochen. Er will also so wenig die Ungerechtigkeit auf das äußerliche Lebensgebiet beschränkt wissen, daß er die Ungerechtigkeit vorzugsweise und ursprünglich in das Gebiet des Herzens, wo der Zorn seine Stätte hat, verlegt. Und weil Jesus auf den Ursprung der Ungerechtigkeit in dem Herzen zurückgeht, so ist ihm auch das Wort, welches die nächste Offenbarung der Gesinnung des Herzens ist, von so entscheidender Wichtigkeit. So äußerlich sind wir nun zwar nicht, daß wir meinen sollten, es werde dem göttlichen Gesetze mit bloßen Werken genügt und nur derjenige übertrete das Gesetz der Gerechtigkeit, der es tatsächlich verletze; wir stimmen Alle von vornherein unserm Herrn und Meister darin bei, daß es vornämlich auf die Gesinnung des Herzens ankomme und eben deshalb auch das Wort des Mundes sehr verantwortlich sein könne, und wenn wir wieder um auf jene christliche Regel zurückblicken, so sagt es Jeder ausdrücklich oder setzt es wenigstens stillschweigend voraus, daß es bei allen jenen Dingen, in denen die christliche Gerechtigkeit sich zeige, auf die Theilnahme des Herzens ankomme. Aber, Geliebte, wissen und bedenken wir denn dabei auch, was das Herz ist? Viele denken sich, wenn sie von dem Herzen sprechen, Vorstellungen des Verstandes, Bilder des Anschauungsvermögens, welche sich auf die christlichen Dinge beziehen, oder auch Rührungen und Stimmungen des Gefühles, welche auf das Göttliche gerichtet sind. Aber sobald wir mit diesen Vorstellungen und Bildern an die Wirklichkeit des Lebens herantreten, so haben sie keine Macht und die Stimmungen und Gefühle haben in der Wirklichkeit des Lebens keinen bleibenden Bestand, sondern sind oft schon innerhalb der nächsten Stunde ganz andere und entgegengesetzte. Dies Alles also kann unmöglich das Herz des Menschen sein. Das Herz ruhet in der verborgensten, innersten Tiefe des menschlichen Leibes und ist deshalb die Stätte, von welcher, wie die Schrift sagt (s. Spr. 4, 23), das Leben seine Ausgänge hat. Demnach muß das Herz im geistigen Verstande des Wortes diejenige tief verborgene Lebensmacht sein, welche, wie der Lebensstrom des Blutes vom Herzen aus den ganzen Leib unaufhörlich durchwallt, das ganze Geistesleben ohne Unterbrechung durchdringt, trägt und bewegt. Daher ist das Herz des Menschen ein Geheimniß, welches erst durch die Erscheinung Christi der Welt aufgedeckt worden ist. An dem Leben Christi zeigt sich, welch eine tiefverborgene Gottesfeindschaft in dem Menschenherzen ruht und zu welcher entsetzlichen That diese Gottesfeindschaft die ganze Menschheit bestimmt und treibt; innerhalb des Lebens Jesu offenbart sich gleichzeitig, wie das Herz der Menschheit stetig in Gott ruhen soll und aus Gott ein unterbrochenes Leben der Gerechtigkeit erzeugen soll. In dieses Licht der Offenbarung des menschlichen Herzens an und in dem Leben Jesu Christi mußt du eintreten, lieber Zuhörer, wofern Du erfahren willst, was das Herz sei und was in den Tiefen Deines Herzens verborgen sei. Erkennst Du Dein Herz an dem Sein und Thun derer, die außer Jesu und wider Jesum sind, so ist Dein Herz böse, es wohnt in ihm der grimme Zorn, der auch selbst dann, wenn er sich mit keinem Wort und keiner That regen sollte, in den Augen Gottes den Bruder tödtet und Dich dem göttlichen Gerichte überantwortet. Erkennst Du dagegen Dein Herz in dem Geiste und Leben Jesu Christi, so ist es gerecht und das Gesetz Gottes ist nicht wider Dich, rein und lauter fließt dann die Quelle Deines Lebens und gerecht ist das Werk Deines Lebens. Denn ist das Herz gerecht, so wird Alles gerecht und gut, was Du redest und was Du thust, und sollte es auch nicht immer nach der Regel der Schriftgelehrten und Pharisäer sein, ist aber das Herz ungerecht, so wird all Dein Streben und Thun ungerecht sein, wenn es auch noch so heilig scheinen und für noch so gerecht geachtet werden sollte.

Und damit gehen wir über auf das Zweite, in welchem uns die Strenge der Gerechtigkeit entgegentritt, welche Jesus von den Seinen fordert. Er verlangt nämlich, wenn Jemand eine Gabe zum Altar bringen will, daß derselbe, sobald er sich entsinnt, daß ein Bruder Etwas wider ihn habe, umkehren und seine Gabe liegen lassen solle, um sich mit seinem Bruder auszusöhnen; erst nachdem dieses geschehen, dürfe er seine Gabe auf den Altar bringen. Er bespricht also den Fall, daß ein Israelit entweder aus rein innerlichem Antriebe oder weil er eine besondere Güte Jehovas erfahren hat, zur Bezahlung seines Dankes und Gelübdes seine Opfer bringt. Ein solcher Israelit will nun nichts Geringeres, als aus der Welt bis zu dem Angesicht seines Gottes hindurchdringen und somit die Gemeinschaft mit seinem Gott vollenden. Darum bringt er seine Gabe auf den Altar, hier soll dieselbe durch das heilige Feuer aus dem Diesseits der Welt in das Jenseits Jehovas versetzt werden. Da könnte nun gar leicht Jemand auf den Gedanken kommen, daß wenn er in solchem Werk und auf diesem Wege begriffen sei, er sich durch Nichts dürfe stören und aufhalten lassen, er war ja auf dem geraden gebahnten Gange zu seinem Gott, wie sollte er nicht vergessen dürfen Alles, was hinter ihm lag? Ja wurde nicht Alles, was etwa noch unerledigt und unausgeglichen hinter ihm lag, dadurch völlig gut gewacht und vollständig aufgehoben, daß er sich mit seinem Gotte in tatsächliches, Friedensverhältniß setzte? War es doch sogar Grundsatz der Schriftgelehrten, daß, wenn ein Sohn das, was er den Eltern schuldig war, zu einem Opfer weihte, dies vor Gott wohlgethan heißen müsse (s, Match. 13, 5). Jesus aber tritt diesem Scheine der Heiligkeit und diesem Wahne der Frömmigkeit auf das Allerentschiedenste entgegen. Wenn Jemand, sagt er, auch schon soweit in der Zurüstung seines Opfers gekommen ist, daß er sich an der heiligen Stätte des Altars befindet, so soll er, sobald ihm in diesem Augenblick eine zwischen seinem Bruder und ihm unerledigt gebliebene Sache in den Sinn kommt, Alles abbrechen und erst mit seinem Bruder den Frieden wieder aufrichten, erst dann darf er den Frieden mit Gott schließen. Merkt Ihr nicht, Geliebte, wie strenge er auf die Gerechtigkeit hält; selbst der heiligste Dienst, den Jemand Gott zu leisten vorhat, soll unterbrochen werden, damit zuvor das rechte Verhältniß zwischen Bruder und Bruder wieder hergestellt werde. Laßt uns nun auch dieses in unsere Gegenwart hineinstellen, wir werden bald erkennen, wie hoch nöthig uns die Beherzigung der Forderung unseres Heilandes ist. Auch wir haben einen herrlichen und heiligen Gottesdienst. Ja es ist das Höchste und Schönste, was es auf Erden geben kann, wenn wir zusammenkommen, um unserm Gott unsere Opfer darzubringen, sei es nun ein Dank, ein Lob, ein Preis, oder sei es Gebet und Flehen, Seufzen und Thränen. Auch hier brennt das heilige Feuer, welches uns aus der Welt befreit und erhebt zur heiligen Höhe des göttlichen Angesichtes, dieses Feuer ist der Glaube, von dem Alles zeugt, was wir hier sehen und hören. Aber tief beschämt müssen wir es bekennen, gar wenig ist es was wir in unsern heiligen Zusammenkünsten von solcher Versetzung aus der Welt in die Gemeinschaft unseres Gottes erfahren. Sollten wir denn nicht Alle und jedesmal, wenn wir hinausgehen, als kommend von dem Angesichte Gottes den heiligen Strahl der Freude in unsern Herzen mitnehmen in unsere Häuser und ihn dort leuchten lassen, daß Alle, die um uns sind, es merken müßten, wo wir gewesen sind? Sollten wir nicht die heilige Kraft, die von dem Throne Gottes ausströmt, auf Alle, die empfänglich sind, mitbringen als eine innewohnende und sie in alle unsere Werke und Worte hineinsetzen, daß Alle, die Solches sehen, den Vater im Himmel preisen müßten? Ihr Alle aber wißt es, Geliebte, wie fast Nichts davon unter uns zu spüren ist, dagegen ist es uns sehr wohl bekannt, daß wir sehr oft von dannen gehen, wie wir gekommen sind, so daß es uns begegnen kann, daß wir verwirrter und gestörter hinausgehen, als wir eingegangen sind. Woher kommt nun diese tief betrübende Erfahrung? Sie hat verschiedene Gründe, ein sehr wesentlicher Grund wird uns hier aufgedeckt. Unser Heiligthum ist nicht von Bezaleel, nicht von Salomo und nicht von Serubabel gebauet, sondern das Wort Jesu Christi ist der Eckstein und die Spitze desselben. Darum aber stehet die Mahnung Jesu von der Versöhnung mit dem Bruder, welche vor jeglichem Nahen zu Gott voraufgehen soll, als ein heiliger Cherub mit flammendem Schwert vor jeglicher Thür unseres Heiligthums. Bist Du nun wohl schon einmal umgekehrt vor diesem Schwerte, lieber Zuhörer? Oder Hast Du wohl schon einmal einen Anderen vor der Thür des Heiligthums wegen dieses Wortes umkehren sehen? Nicht wahr, des Etwas ist uns gänzlich unbekannt? Wir merken den heiligen Wächter eben so wenig, wie einst Bileam, darum aber müssen wir auch wie jener an den traurigen Folgen unseren Unverstand und unsere Blindheit, erfahren. Oder ist etwa hinter uns Alles ausgeglichen, was das Leben in der Welt zur Störung brüderlicher Gemeinschaft hervorgebracht hat? Ach, Geliebte, mit dieser Frage werden wir erst recht in unsere Verwirrung hineingeführt. Ich will gar nicht reden von den tiefen Zerklüftungen, welche sich durch die verschiedenen Stände und Schichten derer, die doch alle auf den einen heiligen Namen getauft sind, hindurchziehen und das Band der brüderlichen Einheit in tausend Stücke zerreißen, ja geradezu endlos und unabsehbar ist hier das Gebiet des Hasses, des Hochmuthes, des Neides und der Verbitterung. Nur auf den engsten und zugleich innigsten Kreis unseres Zusammenlebens, auf die eheliche Gemeinschaft will ich Eure Aufmerksamkeit hinwenden. Und auch hier will ich nur sprechen von denjenigen Ehen, welche man die guten und die christlichen zu nennen pflegt. Richten wir auf das Gemeinschaftsleben solcher Ehen einen scharfen und nachhaltigen Blick, so gewahren wir zwar nicht rohe Ausbrüche des Hasses und des Zornes, wohl aber eine ganze Reihe von kleinen, dem unaufmerksamen Auge gänzlich verborgenen Kränkungen und Verletzungen, die weil sie unausgeglichen zwischen Beiden liegen bleiben, den seinen und zarten Sinn der gegenseitigen Liebe immer mehr abstumpfen und sich zuletzt von Hüben und Drüben so verwirren, daß sie selber weder den Anfang noch das Ende wissen und die Herzen immer kälter und gleichgültiger gegen einander werden. Wollte nun auch der Eine oder der Andere, oder wollten sie auch alle Beide einmal Ernst machen mit dem Worte des Herrn und dessen eingedenk sein, daß, wenn sie vor Gott treten wollen, sie heilige Hände und Herzen haben müssen, ohne Zorn und Zweifel (1 Tim. 2, 8), so würden sie kaum sagen können, welches das Letzte gewesen sei, dazwischen sie gekommen, und hätten sie auch dieses gefunden, sie bürden bald gewahr werden, daß dieses Letzte mit allem Vorausgehenden verwickelt ist und so würde ihnen das Ganze doch nur wie ein unentwirrbarer Knäuel erscheinen, welchen zu ordnen sie sich nicht geschickt und fähig fühlen. Und nun blickt hinaus, Geliebte, von diesem kleinsten und übersichtlichsten Punkte aller menschlichen Gemeinschaft auf die unermeßliche Verschlungenheit unserer Zusammenhänge und Verhältnisse, in denen allen wir mit Gliedern des Leibes Jesu Christi eine thatsächliche Berührung haben, dann wird Euch eine Ahndung ergreifen von der Weltlast, die auf jedem Herzen liegt und die erst beseitigt werden muß, wenn wir vor das Angesicht unseres himmlischen Vaters kommen wollen, Wir müssen es offen aussprechen, ein solches Gemeinschaftsleben, wie es unser Herr voraussetzt, wo jede letzte Ungerechtigkeit nur braucht berührt und besprochen zu werden zwischen den Beiden, die sie angeht, um sie abzuthun und aus der Welt zu schaffen, damit die Bahn, die zu Gott führt, offen und frei sei, ein solches heiliges Gebiet giebt es auf der ganzen Erde nicht. Es sind zwar Gemeinden, in denen es in dieser Hinsicht viel besser steht, wie bei uns, geliebte Zuhörer, aber eine Gemeinde, welche der Gestalt entspräche, die unser nicht Heiland hier voraussetzt, ist überall vorhanden. Wäre sie in irgend einem Winkel der Erde, sie müßte scheinen, wie ein Leuchtthurm in finsterer Nacht und an allen Enden würde man von ihr wissen. Die Meisten suchen sich nun einem so schmerzlichen Geständniß zu entziehen: entweder schwächen sie die heilige Kraft der Worte Jesu ab mit ihren unheiligen Erklärungen, oder sie suchen auch mit schlechten Kunstgriffen die Gemeinden unserer Gegenwart besser darzustellen, als sie sind, und vielfach thun sie, da sie weder bei diesem noch bei jenem ein gutes Gewissen haben können, bald das Eine und bald das Andere. Hinweg mit solchen Werken der Lüge aus dem Heiligthum der Wahrheit! Hier muß Alles schlicht und einfältig sein, die krummen Wege menschlicher Künstelei sind ein Greuel vor den Augen unseres Gottes. Andere aber, wenn sie den großen Abstand zwischen den Worten Jesu und der Wirklichkeit in den gegenwärtigen Christengemeinden zugeben müssen, sagen wohl, das, was Jesus fordere, sei überall auf Erden innerhalb der nun einmal vorhandenen Verwirrung nicht ausführbar, ein Ziel sei es, das angestrebt werden könne, aber erreicht werde es nimmer werden. Denen antworten wir: solche kaltherzige, glaubenslose Worte wöget Ihr auf der Gasse und auf dem Markte aussprechen, hier an der Stätte, wo Christi Kreuz aufgerichtet steht, sind sie Schmähungen und Lästerungen des Allerheiligsten. Meint Ihr denn, daß der ewige Sohn Gottes vom Himmel kommt und sein Blut vergießt, um seine Worte als eine Nebelgestalt zwischen Himmel und Erde hinzustellen, und seine Gebote als luftige Ideale zerrinnen zu lassen? Ich sage Euch, dafür hat er gesorgt, daß alle seine Worte und Forderungen That und Wahrheit werden müssen und zwar auf derselben Erde, deren Boden sein Fuß betreten und sein Blut benetzt hat, und eher müssen Himmel und Erde vergehen, ehe irgend eins seiner Worte leer und unerfüllt bleiben kann (s. Matth. 24 35). Und laßt uns doch nicht vergessen, daß unser Herr es der Welt schon einmal bewiesen hat, daß er durch sein Wort mitten in der menschlichen Verwirrung eine Gemeinde zu schaffen vermag, welche genau der Voraussetzung entspricht, welche er hier ausgesprochen hat. Waren denn nicht die Tausende der Gläubigen in Jerusalem mitten unter einem verkehrten und boshaften Geschlecht eine Gemeinde, in welcher der brüderliche Name nicht ein süßlicher Klang war, sondern sich als Geist und Leben erwies? Und waren denn nicht wirklich trotz der weltbewegenden Dinge, die hier geschahen, alle Verhältnisse des Einen zu dem andern so klar und durchsichtig, daß, wo einmal eine Irrung entstand, diese jedesmal durch freies offenes Wort wieder beseitigt werden konnte und wirklich beseitigt wurde! Wehe uns, wie weit sind wir von diesem heiligen Anfange unserer christlichen Gemeinschaft hinweggerathen und abgefallen! Aber denkt nur nicht, der Herr werde seine Gemeinde in dieser Verwirrung und Unklarheit, in der wir uns gegenwärtig finden, stecken und verkommen lassen. Sein Arm ist noch nicht verkürzt und sein Geist ist noch nicht unkräftig geworden, wie der Unglaube unserer Tage wähnt. Wahrlich, ehe der Tag der Welt zu Abend kommt, wird er seine Gemeinde als eine heilige Stätte des Friedens, in welcher jede Kränkung und Ungerechtigkeit zwischen Brüdern sofort getilgt werden wird, wieder herstellen, und gerade dann Wird er dieses am herrlichsten thun, wenn außerhalb in der Welt sich Alles in Haß und Unfrieden auflösen wird. Dies sage ich aber nicht deshalb, Geliebte, damit wir in schmerzlichem Rückblick auf die herrliche Vergangenheit und in sehnsüchtigem Hinblick auf die heilige Zukunft uns sollten aufs Warten legen und so über die kümmerliche Gegenwart nothdürftig hinüberhelfen. Viele Christen halten es freilich so in unsern Tagen, es ist das aber dem Geiste und Worte unseres Herrn durchaus nicht gemäß. Nichts haben wir zu erwarten und zu hoffen, wenn wir nicht jeden Augenblick selber mit ganzer Kraft und Freudigkeit an der Zukunft arbeiten und so mit gewissen und festen Schritten ihrer großen Herrlichkeit entgegen gehen, Denn nicht ohne uns will der Herr seine Gemeinde wiederherstellen. Jeder von uns soll von Stund an in sich gehen und ernstlich bedenken und schmerzlich bereuen Alles, womit er das Reich der Liebe gestört hat, Jeder soll mit demüthigem Herzen und freundlichem Wort wieder gut machen, wenn er einen Bruder betrübt hat und wenn er, wie das bei der allgemein herrschenden Verwirrung wohl leicht vorkommen kann, äußerlich mit Wort und Werk eine Störung der Liebe und Gerechtigkeit zu heben nicht vermag, soll er wenigstens soweit kommen, daß er vor dem Angesichte Gottes darüber ein gutes und reines Gewissen habe. Wer das zu Stande gebracht hat, der mag seine Gabe auf den heiligen Altar legen, er wird dann inne werden, daß über ihm der Himmel offen ist und die Engel Gottes auf und niedersteigen. Dann ist ein Solcher auch fähig, das Reich der Gerechtigkeit auszubreiten. Die Stimme der reinen Liebe wird schon Anklang und Wiederhall finden in einer empfänglichen Seele. Und diese beiden sollen einhergehen unverbrüchlich nach diesem Worte Jesu, von dem wir handeln, sie sollen Nichts unter sich aufkommen lassen, was nicht sofort aus der Mitte gethan würde, dann wird ihr Zusammensein in der Wahrheit und Kraft des Namens Jesu sein und sie werden in ihrer Mitte, wo sonst die störende Ungerechtigkeit alle menschliche Gemeinschaft lähmt und trübt, die beseligende und belebende Gegenwart des Heilandes erfahren. Von solchen kleinen Kreisen der Zwei oder Drei wird ich das Reich der Gerechtigkeit immer weiter ausbreiten und diese seligen Anfänge sind die lebendigen Steine, welche eingefügt werden in den großen gewaltigen Bau der Gemeinde der Zukunft.

Sollten wir uns nicht, Geliebte, durch eine solche ermunternde Aussicht, welche den drückenden Mangel der Gegenwart mit der seligen Fülle der Zukunft in lebendig wirksame Beziehung setzt, ziehen und bewegen lassen, der Forderung des Herrn ein williges und gehorsames Herz entgegen zu bringen? Wer sich aber nicht will locken und ziehen lassen, der muß ein anderes Wort des Herrn vernehmen, in welchem er schließlich mit furchtbarem Ernst die Strenge seiner Forderung aufrecht erhält. Eine ganz andere Aussicht nämlich, als die eben bezeichnete, eröffnet Jesus in dem letzten Theile seiner Rede, deren Betrachtung uns vorliegt, und mit dieser seiner Aussicht drückt er seiner strengen Forderung der Gerechtigkeit so zu sagen das Siegel auf. Der feierliche Ernst, den seine Rede annimmt, ist darum so furchtbar, weil er sofort jedem Gewissen verständlich ist und es zu seiner Erklärung nicht vieler Worte bedarf. Der Herr ermahnt hier einen Jeden, seinem Widersacher willfährig zu sein ohne Zögern so lange er noch mit ihm auf dem Wege sei, der Weg gehe endlich zu Ende und wenn die Sache dann nicht erledigt sei, so trete ein gestrenges Verfahren ein. Wir merken gar leicht, was er mit diesen Worten meint, denn wir wissen, daß dem Menschen gesetzt ist zu sterben, darnach aber das Gericht (s. Hebr. 9, 27). Der Lebensweg, auf dem wir mit einander wandern, geht nicht endlos fort, sondern hat für Jeden ein bestimmtes Ziel und oft ein recht nahes Ziel, so daß Niemand weiß, ob nicht mit dem nächsten Tage sein Weg zu Ende gehe. Darum muß das, was auf dem Wege geschehen soll, bald und unverzüglich gethan werden. Das aber muß nun vornämlich unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, daß es hier ausdrücklich heißt, nur auf dem gemeinsamen Wege können die Streitsachen gütlich ausgeglichen werden, nachher trete die ganze Strenge des Gerichtes dazwischen, und eben in diesem Umstande werden wir den Grund der Ermahnung zur Eile finden müssen. Darum laßt uns, Geliebte, in diesen letzten und höchsten Ernst der Rede unseres Herrn einen unverhaltenen Blick thun. Die heilige Schrift spricht bekanntlich oft von dem letzten Gericht, und jedesmal auf eine ergreifende Weise, die ergreifendsten Schilderungen des Gerichtes aber empfangen wir aus dem Munde des Heilandes. Es ist das wohl auch natürlich, denn er selber ist der Richter der Welt, ihm ist alles Gericht übergeben, redet er also von dem Gericht, so redet er von seinem eigenen Werk, mit welchem er das Alte und Neue auf ewig scheidet. Darum haben alle seine Worte von dem Gericht eine unvergleichliche Lebendigkeit und Anschaulichkeit, und das gilt auch von dem, was er hier sagt. Er spricht hier von dem Verkläger, dem Rechte, dem Diener, der Kerkerhaft und der Schuldbezahlung, und versetzt uns durch alle diese Ausdrücke in die Anschauung des gerichtlichen Verfahrens. Der Ernst des gerichtlichen Verfahrens hat nun auch auf Erden überall, wo er auftritt, etwas Feierliches und Ergreifendes, es ist als ob die unverletzliche Majestät der göttlichen Ordnung plötzlich mit ihrer ehrfurchtgebietenden Gewalt der menschlichen Verwirrung und Verkehrung entgegentritt. Die Worte Jesu führen uns nun darauf, daß wir alles richterliche Wesen und Verfahren auf Erden als ein schwaches Abbild und unvollkommnes Vorspiel von dem anzusehen haben, was dereinst in voller Wirklichkeit und göttlicher Wesenhaftigkeit erscheinen wird. Nichts ist aber hier so erschütternd, so Mark und Bein durchdringend, wie das Wort vom letzten Heller. In diesem Wort enthüllt sich uns die ganze Strenge der Gerechtigkeit, die unser Heiland verkündigt und fordert in einer alle Vorstellung übersteigenden Schärfe und Bestimmtheit. Plötzlich sehen wir, daß alle Ungerechtigkeiten des Menschen, der, ohne mit seinem Widersacher gütliche Abrechnung getroffen zu haben, von seinem Wege abgetreten ist, in seinem mit seinem Tode abgeschlossenen Schuldbuche stehen und zwar jede nach ihrem genau bestimmten Werthe. Allerdings giebt es eine solche Schuldschrift der Menschen und zwar sogar eine zwiefache. Die eine Schuldschrift ist das Gewissen, lieben Zuhörer: hier sind die Ungerechtigkeiten mit ehernem Griffel verzeichnet (s. Jerem. 17, 1). Zwar ist diese Schrift Deinem gewöhnlichen Bewußtsein vielfach verdeckt und verwischt, nur einzelne Thaten Deiner Ungerechtigkeit stehen Dir immerdar und hell vor den Augen; aber es giebt Zeiten und Augenblicke Deines Lebens, in denen Du mit Schrecken gewahr werden mußt, daß in Deinem Gewissen viel mehr angeschrieben steht, als Du während des ruhigen Verlaufes Deines Lebens Dir vorstellst. Ich sage Dir: es ist Alles, was Du verschuldet hast, ohne eine einzige Auslassung in dieser Deiner inneren Schrift verzeichnet und es kommt die Stunde, in welcher Dir diese Schrift in ihrem ganzen Umfange und in vollkommner Deutlichkeit aufgedeckt werden wird. Schlägt Dir diese Stunde nicht, so lange Du auf dem Wege bist, so wird sie schlagen, wenn die Todten in den Gräbern die Stimme des Sohnes Gottes hören und hervorgehen die Einen zur Auferstehung des Lebens, die Andern zur Auferstehung des Gerichtes (s. Joh. 5, 28.29). Dann wirst Du auch sehen, daß jede Deiner Ungerechtigkeiten mit der Ziffer ihrer Werthbestimmung in der Schrift Deines Gewissens eingetragen worden ist. Und weiter wirst Du auch in derselbigen Stunde die andere Schrift sehen. Es giebt nun noch ein Buch Gottes, in welchem geschrieben steht Alles, was in der Welt geschehen ist. Dieses wird in jener Stunde aufgeschlagen werden (s. Dan. 7, 20. Offenb. 10, 12). In diesem Buche steht auch Dein Name mit dem genauen Verzeichniß deiner ganzen Schuldsumme und befinden wirst Du, daß diese Gottesschrift mit Deiner Gewissensschrift in jedem Punkte zusammenstimmt. Dieser strengen Genauigkeit in der zwiefachen Aufzeichnung und Abschätzung aller Ungerechtigkeiten entspricht nun das Verfahren der Vergeltung, welches eintritt, im Fall keine Ausgleichung und Aussöhnung auf dem Wege vorausgegangen ist. Bezahlung bis auf den letzten Heller in der Verhaftung heißt diese Vergeltung. Denke nur Niemand, daß dies eine Redensart ist, es ist dieses Wort eine solche Genauigkeit der Abrechnung, daß sie alle unsere Vorstellungen, die wir in Zahlen auszudrücken pflegen, unendlich übersteigt. Der Sünder kann zwar nicht bezahlen mit diesem oder jenem, aber wir müssen deswegen nicht denken, daß er überhaupt nicht bezahlen kann, daß er mehr verschuldet, als er wieder leisten kann. Da er nicht mit diesem oder jenem bezahlen kann, so muß er mit sich selber bezahlen, wie er denn selber mit Leib und Seele gesündigt hat, er selber wird verhaftet und zwar ewiglich. Diese ewige Verhaftung und Verdammniß ist insofern bei allen Sündern gleich, als sie Alle mit ihrer ewigen Persönlichkeit gegen Gott gesündigt haben. Aber insofern ist sie auch wieder ungleich, als Jeder in einer besonderen Weise sich gegen den Nächsten versündigt hat; in dieser Beziehung entspricht seine Strafe ganz genau bis auf den letzten Heller dem Maße seiner Verschuldung. Die letzte Abrechnung Gottes mit dem Sünder ist also nicht eine ungefähre, sondern sie ist die einzige Rechnung, welche ohne Bruch und Rest aufgeht, sie ist das Urbild aller Genauigkeit, welches der Unvollkommenheit all' unseres Zählens und Rechnens zu Grunde liegt. So scharf, so unbeugsam, so streng und so genau ist das Gesetz der Gerechtigkeit, welches unser Heiland aufstellt und uns zur Nachahmung vorhält.

Was bleibt mir darnach nun noch hinzuzufügen übrig, als den brennenden heiligen Wunsch vor Euch auszusprechen, es möge doch ein Jeder von uns vor diesem Worte unseres gegenwärtigen Heilandes und dereinstigen Richters stille stehen, bis ihm alle Hüllen und Decken, welche unser Inneres umnachten, von den Augen seines Geistes fallen und er hell und unverwandt hineinblickt in das himmlische Licht der Gerechtigkeit Jesu Christi und sodann entweder angezogen von der Aussicht auf das Reich der Liebe, welches er hier darstellt, oder erschreckt durch den Ernst der ewigen Vergeltung aller unerledigt gebliebenen Ungerechtigkeiten in sich eingeht, und sein Erstes sein läßt, mit allen Kräften zu trachten nach der Gerechtigkeit des Reiches Gottes (s. Matth. 6, 33). Du lieber Vater im Himmel, vor dessen Auge klar und offen liegen unsrer Aller Wege, und eines Jeden Stand, zeige uns deine ewige Gerechtigkeit in dem Angesichte deines Eingebornen und senke uns diese deine Gerechtigkeit durch den Geist deines Sohnes in unser Herz als die lebendig wirksame Richtschnur all' unserer Wege. Amen.

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