Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 32. Predigt.

Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 32. Predigt.

Text: Matth. VII., V. 28.29.

Und es begab sich, da Jesus diese Rede vollendet hatte, entsetzte sich das Volk über Seine Lehre. Denn Er predigte gewaltig, und nicht wie die Schriftgelehrten.

Zweierlei sagt uns Matthäus in diesen Worten, mit denen er die Mittheilung der Bergpredigt schließt, und mit deren Erklärung auch wir unsere Betrachtungen über dieselbe schließen wollen. Zuerst erzählt er uns den Eindruck, welchen die Bergpredigt auf die versammelten Zuhörer machte. „Es begab sich, da Jesus diese Rede vollendet hatte, entsetzte sich das Volk über Seine Lehre;“ dann fügt er den Grund hinzu, warum dieser Eindruck entstehen mußte: „denn Er predigte gewaltig, und nicht wie die Schriftgelehrten.“ Laßt uns das Eine, wie das Andere, zu unserem Heil betrachten. Die Gewalt der Rede Jesu Christi sei unser Thema, wie sie sich zeigt 1) in der Beschaffenheit der Rede selbst, und 2) in der Wirkung derselben auf die Zuhörer.

I.

Er predigte gewaltig, und nicht wie die Schriftgelehrten. Gewaltig, das heißt, wie Einer, der Gewalt hat, der mit höherer Vollmacht, von Gottes wegen redet, im Bewußtsein einer innern göttlichen Kraft, die ihn und sein Wort durchdringt. Diese göttliche Gewalt der Rede Jesu Christi offenbarte sich sowohl in ihrem Lehrinhalt, als in der Lehrart und dem Lehrgeiste, mit welchem Er redete.

Zunächst im Lehrinhalt. Offenbar, meine Lieben, wenn wir noch einmal die Bergpredigt überschauen, müssen wir gestehen: Jesus wollte in derselben keine todte, dürre Moral lehren, die, auf Erden geboren, auch nicht über die Erde sich erhebt, und mit ihrem äußeren Glanze und ihrer innern Dürftigkeit niemals Jemandem geholfen hat, weil sie keine höhere Kraft und Gnade als Mitgabe bringt. Er wollte vielmehr ein Evangelium verkündigen, das Geist und Leben geben sollte, wie Er selber Geist und Leben war, und das in Beweisung des Geistes und der Kraft die Menschheit neu gebären, ihre Gebrechen von Grund aus heilen und Himmelsodem in ihre Seele hauchen sollte. Alles war in Seiner Verkündigung auf das wesentliche, innere Heil der Menschen gerichtet, und bezweckte die Schöpfung einer neuen, himmlischen Weltordnung auf dieser Erde. Während die Schriftgelehrten es mit äußeren Gebräuchen, Ueberlieferungen und Formeln zu thun hatten, berücksichtigte Er das Aeußere nur als ein Mittel für etwas Inneres, und ging Sein Hauptstreben darauf hinaus, dieses Innere zu schaffen und zu veredeln. Daher wollte Er auch in der Bergpredigt keine neue Religion lehren und kein neues Gesetz geben, sondern dem alten Gesetze die Vollendung ertheilen und eine Gerechtigkeit höherer Ordnung begründen, als die Schriftgelehrten und Pharisäer aus dem Alttestamentlichen Gesetze entwickelt hatten. Ihm war es nicht, wie diesen, um äußern Schein, um fromme Gefühle und Worte zu thun, - Ihm lag Alles an der reinen Gesinnung, an der edeln Absicht, an der Wiederverklärung der Menschennatur zum Ebenbilde Gottes. Darum fing Er die Bergpredigt so lockend und einladend wie möglich an, um Jedermann Muth zu machen, in’s Reich Gottes einzutreten, und vor den erhabenen Forderungen desselben nicht zurückzuschrecken: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr. Selig sind, die da Leide tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmüthigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und durstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr.“ Wer könnte diese Seligpreisungen hören, wer kann sie heute noch lesen, ohne zu sich selbst zu sagen: Ja, Seligkeit, das ist es, was ich bedarf, und wofür ich geschaffen und bestimmt bin: ich will gern thun, was Jesus mir sagt, um nur diese Fülle von geistigen Gütern, um nur diesen seligen Gemüthszustand der vollendeten Erlösung mir zuzuwenden? Darum bezeichnete Er dann als die große Lebensaufgabe Seiner Jünger: das Salzt der Erde und das Licht der Welt zu sein, mit neuer Lebenskraft der sittlichen Fäulniß zu steuern, und die Tageshelle des Evangeliums überall hinzutragen, wo die Nacht des Unglaubens und der Sünde noch die Geister gefangen hält. Wer könnte hören von dieser Lebensaufgabe, ohne über den Staub des alltäglichen Treibens sich emporgehoben zu fühlen, und ein Ziel zu ahnen, an welches alle Kraft und Zeit in seliger Begeisterung zu setzen des Christen hochheiliges Werk ist? Diesem erhabenen Ziele gemäß führte dann der Herr Seine Zuhörer über die buchstäbliche und pharisäische Auffassung hinaus zur Erkenntniß des Gesetzes in seinem vollen Lichte, und zeigte ihnen an einzelnen hervorstechenden Beispielen, wie alle einzelnen Gebote des sittlichen, des bürgerlichen und des Ceremonialgesetzes nicht auf die äußere That allein es abgesehen hätten, sondern vornämlich auf die innere Herzensstellung: wer könnte wieder diese Wort hören oder lesen, ohne von dem Ernste des Lebens, von dem großen Umfange und der tiefen Bedeutung seiner Forderungen mächtig erschüttert und getroffen zu werden? Und wenn der Herr darauf die Freiheit Seiner Gläubigen darstellte von aller leidenschaftlichen Weltliebe und aller ängstlichen Weltsorge; wenn Er zuletzt sie warnte vor den gefährlichen Täuschungen und Abirrungen vom Wege des Lebens, wie sie nur zu oft und leicht im Richten Anderer, in der Bekehrungssucht, in der geistlichen Erschlaffung und in der Verführbarkeit zur Heuchelei sich ausprägen; und wenn Er endlich nach allen diesen herzerhebenden Lehren und großartigen Darstellungen das Ganze schloß mit dem doppelten Gleichniß vom Hören und vom Thun des göttlichen Wortes, - wer muß nicht gestehen: Fürwahr, das sind Wahrheiten, die kein Mensch von Natur sich sagen und aus sich heraus erzeugen kann; das sind Geist- und Lebensworte, die ihren Ursprung dem Himmel verdanken; das sind Blicke in Gottestiefen hinein, die, wo sie gethan werden, eine neue Zeit heraufführen und begründen!? Lieblicher kann man nicht anfangen, erhabener nicht fortfahren, ernster nicht schließen, als es der Herr gethan in der Bergpredigt; und hätten wir weiter kein Wort aus Seinem Munde erhalten und überkommen, als diese Predigt allein: sie wäre die Predigt aller Predigten, die Normalpredigt der Menschheit, die feierlichste Gesetzgebung oder vielmehr Gesetzerläuterung der Welt. Tiefere Wahrheiten hat nie ein Mensch gesprochen. Wer so reden kann, dem fühlt man es ab, daß Er das menschliche Herz und das Leben kennt, in seinen Höhen und Tiefen, in seinen Fähigkeiten und Hindernissen; dem fühlt man es ab, daß Er allezeit in der Wahrheit leibt, ja daß Er über sie und alles Menschliche unendlich erhaben ist.

Doch der Inhalt ist nur die eine Seite, nach welcher die Gewalt der Rede Jesu Christi sich offenbart, - nicht minder gewaltig und anziehend ist die Lehrart, in der Er den Inhalt mittheilt, die Form und Ausdrucksweise, in welche er die himmlische Wahrheit kleidet. Ein wesentliches Erforderniß jeder gewaltigen Rede ist die Deutlichkeit. Was helfen alle schönen Worte, wenn sie Niemand versteht und vor ihren Geheimnissen und Dunkelheiten wir vor einem verschlossenen Thore stille steht und friert? Nun, schaut die Bergpredigt an: ist sie nicht bei all' ihrer Tiefe doch so klar und hell wie das Blau des lieblichen Alpenhimmels, das über dem Berge sich wölbte, von welchem Jesus sie sprach? Sie fordert nur Eins: das Thun dessen, was sie vorschreibt: dann ist ihr ganzer, herrlicher Sinn aufgeschlossen, dann weiß Jeder, woran er mit ihren Erklärungen und Verheißungen ist, und darf keinen Augenblick länger umhertappen in ungewisser Finsterniß. Wie nahe liegt dem christlichen Gemüthe jedes Wort, das Er hier sagt! Wie einfach und natürlich, wie frei von allem geborgten Schmuck und aller gesuchten Kunst der Rede ergießt sich eine Behauptung nach der andern in das empfängliche Herz! - Ein anderes wesentliches Erforderniß jeder gewaltigen Rede ist die Anschaulichkeit und Lebendigkeit der Darstellung. Was hilft alle Deutlichkeit des Vortrags, wenn er ermüdet und durch seine Frische nicht fesselt von Anfang bis zu Ende? Nur eine anschauliche Rede ist behaltbar und wurzelt sich unauslöschlich fest in den Grund unseres Geistes. Nun, schauet die Bergpredigt an: ist sie nicht in dem Reichthum ihrer Bilder und Vergleichungen ein großartiges Leben in allen ihren Theilen? Wer, der sie gehört oder einmal gelesen, denkt nun nicht, so oft er die Vögel fliegen siehet über seinem Haupte, oder die Lilien erblickt zu seinen Füßen, sogleich an das köstliche Wort: „Sehet die Vögel unter dem Himmel an, sie säen nicht, sie erndten nicht, sie sammeln nicht in die Scheuern, und euer himmlischer Vater ernähret sie doch: seid ihr denn nicht viel mehr denn sie? Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schauet an die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen; sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist, als derselben eins.“? Wer kann Dornen und Disteln, Feigen und Weintrauben, Wölfe und Schafe nun noch anschauen, ohne von Neuem zu vernehmen die ernste Ermahnung: „Sehet euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man auch Trauben lesen von den Dornen, oder Feigen von den Disteln?“ Wer kann einen schmalen, schwierigen Pfad betreten, wo er Noth hat, weiter zu kommen, ohne sich selbst zu erinnern an die Schwierigkeit des Christenberufs und an den Ausspruch: „Gehet ein durch die enge Pforte; denn die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und Wenige sind ihrer, die ihn finden“? Wer kann von Steinen und Schlangen hören, ohne sofort in seinem Gebete glühender zu beten, da ja der Herr gesagt: „Welcher ist unter euch Menschen, so ihn sein Sohn bittet um's Brodt, der ihm einen Stein biete? So denn ihr, die ihr doch arg seid, könnet dennoch euern Kindern gute Gaben geben: wie viel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die Ihn bitten“? Und was Er sonst sagt vom Salz und Licht, vom Splitter und Balken, vom Heiligthum und der Perle, vom Altar und vom Felsenhause: o sind wir nicht fast überall im Leben umgeben von Bildern, die uns an die Bergpredigt erinnern? Wahrlich, das heißt anschaulich reden; das heißt, die verkündigte Wahrheit fest eingraben in die Gemüther, wenn das Alltägliche, das Nächstliegende Unterpfand und Abbild dessen wird, was geleistet werden soll im Himmelreich. - Ein drittes wesentliches Erforderniß jeder gewaltigen Rede ist die Offenheit, Geradheit und Freimüthigkeit. Eine eindringliche Rede darf nichts verhehlen; sie muß jede Sache geben, wie sie ist; fliehen muß sie Schmeichelei und falsche Anbequemung an die Wünsche, Vorurtheile und Neigungen der Menschen; was zu rügen ist, muß sie rügen; was unhaltbar ist, muß sie aufdecken; unterhandeln darf sie durchaus nicht, weder mit dem Leichtsinn, noch mit der Schlaffheit. Nun, schauet die Bergpredigt an: kann man offener die Gebrechen der menschlichen Natur, die Schlupfwinkel der Sünde, die feinern Verführungen zum Abfall und zur Heuchelei, die Allgemeinheit und die Tiefe des Bösen darstellen, als es der Herr gethan? kann man strenger und unerbittlicher fordern Bekämpfung der Sünde, Buße und glaube, Reinigung des Herzens, Aufrichtigkeit und Treue der Liebe, Verläugnung jeder Selbstsucht, und gänzliche Hingebung an den Herrn, als es der Herr gethan? kann man dringender warnen, heiligere Beweggründe herbeischaffen, schärfer jegliche Ausnahme und Entschuldigung abschneiden, und kräftiger an das für jeden Menschen Ernsteste, an Sünde, Tod, Gericht erinnern, als Er es gethan? Wahrlich, wenn es je einem Menschen nur um die Verkündigung der offenen Wahrheit zu thun gewesen ist, so war Er es. - Doch die Offenheit allein kann verletzen und erbittern; soll sie segnen und wohlthun, so ist schlechterdings nothwendig, daß mit dem Nachdruck und Ernst der Rede sich zugleich vereinige Anmuth, Herzlichkeit, Gemüthlichkeit und gewinnendes Wesen im Vortrage. Was hilft die beste Rede, wenn sie ihren Zweck verfehlt, und, statt die Herzen zu überzeugen und zu gewinnen für ihre Absicht, sie zurückstößt? Nun schauet einmal aber auch darauf die Bergpredigt an: wie geht der Herr doch so ein auf Alles, was den Menschen drückt und quält? Wie lieblich weiß Er zu locken und zu fesseln mit Seinem achtmaligen, immer steigerndem: „Selig sind“! Wie anschmiegend an jedes Gemüth ermahnt Er zur Feindesliebe, indem Er spricht: „Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; thut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen: auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn Er läßt Seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten, und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte!“ Wie herzlich tröstet Er die Sorgenvollen mit Seinen sechs Gründen, nicht sorgen! Wie unwiderstehlich zwingt Er gleichsam zum Beten, indem Er das engste Verhältniß der Erde, das Vater- und Kindesverhältniß berührt und durchgeht! Ja, Er weiß das Herz zu treffen; Er weiß die zartesten Saiten anzuschlagen; Er weiß Himmel und Erde in Bewegung zu setzen, um Menschenherzen zu zermalmen, zu entscheiden, zu begeistern, zu verklären in der Wahrheit. So menschlich und so göttlich zugleich hat noch nie ein Weiser und Gottesgelehrter auf Erden gesprochen, wie Er. Wir dürfen fest und kühn alle Gelehrten und Ungelehrten auffordern, uns etwas Aehnliches zu zeigen: sie müssen verstummen.

Nun aber die Hauptsache, Geliebte. Das ist nicht der Lehrinhalt und die Lehrart; das ist der Lehrgeist, der aus dem Herrn redete. Da erst gilt es im ganzen, vollen Umfange, das Wort: „Er predigte gewaltig, und nicht wie die Schriftgelehrten.“ Da erst tritt Jesu Erhabenheit über alle Lehrer und Propheten der Vorzeit und der Nachwelt wahrhaft blendend und majestätisch heraus. Welch eine Würde setzt es voraus, um sagen zu können: „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn ich sage euch: wahrlich, bis daß Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Titel vom Gesetze, bis daß es Alles geschehe!“ Welch eine Hoheit entfaltete sich, wenn Er im eigenen Namen und Ansehen anhob: „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist – Ich aber sage euch!“ Welch ein Selbstbewußtsein, mit dem Er, fortwährend sich von allen Menschen unterscheidend, spricht: “euer Vater im Himmel; ihr sollt beten: Unser Vater“! Welch eine Majestät enthüllt sich in den Forderungen, wie in den Verheißungen! wahrlich, so kann nur Der reden, der über Zeit und Ewigkeit klar ist und über Himmel und Hölle zu verfügen hat! Welch eine Herrlichkeit, als des eingeborenen Sohnes vom Vater, lag in der wahrhaft göttlichen Schlußerklärung, mit der Er sich das jüngste Gericht zuschrieb und das Urtheil den Heuchlern fällte: „Es werden Viele zu mir sagen an jenem Tage: „Herr, Herr! haben wir nicht in Deinem Namen geweissagt? haben wir nicht in Deinem Namen Teufel ausgetrieben? haben wir nicht in Deinem Namen viele Thaten gethan? Dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch noch nie erkannt, weichet Alle von mir, ihr Uebelthäter!“ Kurz, mit der Zuversicht, mit welcher Christus hier redet, hat die ewige, himmlische Wahrheit aus keines Menschen Munde gesprochen. Alles, was Er sagt, verkündigt einen Gesetzgeber, der seine Gewalt vom Himmel und nicht von Menschen hat; offenbart ein Wesen, das, unabhängig von jedem irdischen Einfluß, aus sich selbst hat, was es hat, aus dem Bewußtsein und dem unmittelbaren Anschauen der ewigen Wahrheit redet, und der Berufung auf das Zeugniß der Alten, wie die Schriftgelehrten, nicht bedarf, um Ansehen und Eingang zu gewinnen; stellt Ihn heraus als die ewige Weisheit, gegenüber den Weisen dieser Welt, und als den Erlöser, der nicht sowohl eine göttlicher Lehre offenbarte, als vielmehr selber die Offenbarung Gottes war, und aus dessen unerschöpflicher Geistesfülle die ganze Menschheit berufen war, Gnade um Gnade zu nehmen. - Bei menschlichen Reden, wenn sie gewaltig sein sollen, müssen wir als Bedingung ihrer Wirksamkeit fordern, daß sie aus dem Herzen kommen; denn nur was aus dem Herzen kommt, kann wieder in die Herzen dringen: sehet, bei Jesu Christo kam Alles aus dem Herzen, und aus welchem Herzen! aus dem Herzen Gottes, aus dem Herzen des Himmels, aus dem Herzen der Ewigkeit, und tief andeutend sagt Johannes: „Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, hat es uns verkündigt.“ (Joh. 1,18.) Darum führten Seine Worte den Beweis ihrer Wahrheit in sich selbst und waren keine Bilder in die Luft gemalt, sondern wesentliche Kraft- und Lebensausflüsse. - Bei menschlichen Reden, wenn sie gewaltig sein sollen, müssen wir als Bedingung ihrer Wirksamkeit fordern, daß sie nicht für Menschen, sondern für Gott predigen, die Predigt ist die beste, die Gott am besten gefällt; sehet, das Einzige, was Jesus Christus bei allen Seinen Reden beabsichtigt, ist, daß Gottes Name geheiligt werde; und Er kann das Alles auf die rechte Weise sagen und setzen, denn „Niemand fährt gen Himmel, als der vom Himmel hernieder gekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der allezeit im Himmel ist.“ (Joh. 3,13.) Darum griffen Seine Worte so tief in die Herzen, und wo nur ein Anklang für die Wahrheit im Innern schlummerte, mußte er durch solche Anregung geweckt und belebt werden.

Wohin wir also sehen, meine Geliebten, auf Lehrstoff, Lehrform, Lehrgeist: überall steht Jesus da als der große, unvergleichliche Meister zu lehren, als der gewaltige Redner Gottes für die Zeit und für die Ewigkeiten. so wie wir durch Ihn uns kennen lernen in unserer Bestimmung und Sündhaftigkeit; so wie wir durch Ihn das Leben schauen in seiner Bedeutung und in seinen Bedürfnissen; so wie wir durch Ihn das Gesetz ausgelegt hören und als Lebenswahrheit an Ihm selbst ausgeprägt sehen: so kann Niemand uns Anweisung geben und berühren, wie Er. Hier ist Alles neu und unerhört. Hier öffnet sich uns eine durchaus neue Welt, ein neuer Himmel und eine neue Erde; hier athmet jedes Wort Gottesgeist und ewiges Leben – und es ist keine Thalrede, die wir hören, es ist eine Bergpredigt, voll Saft und Kraft, voll Lust und Leben, voll Licht und Freiheit, voll Fernblicken und Aussichten ohne Gleichen.

II.

Dürfen wir uns nun wundern, wenn der Eindruck Seiner Worte auf die Zuhörer so gewaltig ist? Es begab sich, heißt es im Texte, da Jesus diese Rede vollendet hatte, entsetzte sich das Volk über Seine Lehre, d.h. es verwunderte sich nicht bloß, es war innerlich ergriffen und erfaßt von dem, was Er gesagt und verkündigt hatte. Nicht minder großartig war die Bewegung, welche Jesus an andern Orten und zu andern Zeiten durch Seine Reden in den Gemüthern zurückließ. So in Nazareth, als sie Alle Zeugniß von Ihm gaben, und sich wunderten der holdseligen Worte, die aus Seinem Munde gingen, und sprachen: Ist das nicht Josephs Sohn? (Luc. 4,22.) So in Sichar, als die Einwohner zum Weibe sagten: „Wir glauben nun fort nicht um deiner Rede willen, wir haben selber gehört und erkannt, daß dieser ist wahrlich Christus, der Welt Heiland.“ (Joh. 4,41.42.) So in Kapernaum, als Petrus im Namen aller Apostel ausrief: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du allein hast Worte des ewigen Lebens!“ (Joh. 6,68.) So in Jerusalem am Feste der Laubrüst, als die zu Seiner Gefangennehmung ausgesandten Knechte unverrichtetersache zurückkehrten und sich entschuldigten mit der Erklärung: „Es hat nie ein Mensch also geredet, wie dieser Mensch!“ (Joh. 7,46.) So in der letzten heiligen Woche im Tempel, als Er die Pharisäer abgefertigt hatte, und sie sich verwunderten und Ihn ließen und davon gingen. (Matth. 22,22.) So am Tage der Auferstehung, als die beiden Emmausjünger den Eindruck Seiner Worte auf ihr Herz so darstellten, daß sie sagten: „Brannte nicht unser Herz in uns, da Er mit uns redete auf dem Wege, als Er uns die Schrift öffnete?“ (Luc. 24,32.) Wie dem Menschen zu Muthe ist, wenn er zum ersten Male von einer bis dahin unbekannten Anhöhe einen Anblick genießt in die Weite und in die Ferne, wie er ihn früher noch nie gehabt; wie den Wilden zu Muthe war, welche nie einen Spiegel gesehen hatte, und die nun in dem ersten ihnen vorgehaltenen Spiegel ihr eigenes Antlitz sahen in wunderbarer Ueberraschung: so, und nicht anders, ergriff tiefe Bewegung und Befremden Alle, die zum ersten Male den Sohn Gottes reden hörten in ihrem Leben. Es lag in dem ganzen Ausdruck Seines Wesens, vielleicht sogar in Seiner Stimme, in Seiner Betonung, etwas wahrhaft Eigenthümliches und Ueberirdisches. Wie hätte sonst Sein einfaches Wort: „Ich bin's!“ bewaffnete Schaaren niederschmettern können? Wie hätte sonst das einfache Aussprechen ihres Namens Maria Magdalena am Auferstehungsmorgen niederziehen können zu Seinen Füßen? Aber Wort und Kraft war auch bei Ihm Eins; jedes Wörtlein gleichsam glühendes Feuer, das in die Seele hineingesprochen wurde; jedes Wörtlein gleichsam ein Eliaswagen, auf dem die Seele gläubig und selig sich emporschwingt, ihren Mantel fallen läßt und himmelan durch die Wolken hinaufsteigt.

Doch der Eindruck, welchen Jesus mit Seinen Worten beabsichtigte, soll nicht bloß Entsetzen und Bewunderung sein, er soll Hingebung des ganzen Herzens an Ihn werden. Das ist er geworden im Laufe der Jahrhunderte bei Millionen Seelen, die, nachdem sie Jesus gehört, keinen Menschen mehr hören mochten, und nun zeitlebens bei Ihm in die Schule gingen, und in jeder Verlegenheit bei Ihm Rath, in jeder Noth bei Ihm Trost, in jeder Bekümmerniß bei Ihm Zuspruch, in jeder Ungewißheit bei Ihm Licht, in jeder Schwachheit bei Ihm Kraft und Stärke suchten. Und er kann es werden und wird es heut zu Tage noch bei Allen, die irgend nur einen Anklang für die Wahrheit haben und dem Zuge ihres Herzens folgen, oder, wie Jesus sagt, die aus der Wahrheit sind: „denn wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.“ (Joh. 18,37.)

Angeboren sind jedem Menschen tiefe, unverläugbare Bedürfnisse, die der Herr allein befriedigt durch Sein Wort und durch Seinen Geist. Wie mächtig er auch sich sehne nach Freiheit und Selbstständigkeit, und wie groß auch von Natur sein Stolz, sein Selbstvertrauen und sein Eigenwille ist: dennoch hat jeder Mensch ein tiefes Herzensverlangen, Jemanden sich anzuschließen und sich hinzugeben, der Gewalt über ihn gewinnen kann. Jeder fühlt mehr oder weniger, wie unsicher und unzuverlässig, wie rathlos und kraftlos er ist, wenn er sich selbst überlassen bleibt. Jeder flieht gern diejenigen, welche neue Zweifel und Bedenklichkeiten in ihm erregen könnten, oder ihn wankend machen in seinen Ueberzeugungen. Er will Gewißheit haben, feste Ueberzeugung, Grund und Boden unter den Füßen, einen Fels für seinen Glauben, einen Anker für seine Hoffnung, ein Panier für seine Liebe, einen Hafen des Friedens für seine Sehnsucht nach Ruhe. Wer kann das Alles aber geben, als Christus allein? Er ist der untrügliche Lehrer, von Gott gekommen, der nie irren, nie täuschen kann, und dessen Worte allewege Worte voll Wahrheit und Gnade sind. Noch nie ist ein Mensch über die wichtigsten Angelegenheiten seines Lebens unschlüssig und verlassen gewesen, der sich Ihm in seinem Glauben und in seinen Entschließungen hingegeben hat; er hat immer bei Ihm gefunden, was er bei Ihm suchte, und immer gewußt, woran er mit Ihm war.

Wie tief gewurzelt auch in der menschlichen Seele die Eitelkeit und die Gefallsucht liegt, und wie schwer es jedem Menschen fällt von Natur, Tadel zu ertragen, wie gern er Lob und Beifall, Schmeichelei und Anerkennung sucht und liebt: dennoch hat Jeder ein ebenso unverläugbares Herzensverlangen nach einem Freunde, der es gut und ehrlich mit ihm meint, der ihn in Liebe aufmerksam macht auf seine Fehler, der allewege nicht sich sucht, sondern den Freund und sein zeitliches und ewiges Heil. Wie fürchterlich zuwider ist Jedem Falschheit und Treulosigkeit! und wie schmachtet das menschliche Herz nach unwandelbaren, zuverlässigen und gesegneten Verbindungen! Wer kann solche Freundschaft uns aber beweisen, als Christus allein? Er meint es wirklich gut mit uns, wie es kein Mensch auf Erden mit uns meinen kann; Er hat uns wahrhaft lieb, denn Er hat uns geliebt bis in den Tod hinein; Er ist allezeit offen und gerade gegen uns, und verhehlt uns niemals, wie es um uns steht; Er sucht nie sich selbst, sondern immer nur uns und unser Bestes; Er ist derjenige, der nie schmeichelt und mit uns spricht wie wir es wünschen, Er sagt uns allezeit das, was uns frommt. Sündigen wir: Er straft uns; irren wir: Er weist uns zurecht; sind wir auf falschem und betrüglichem Wege: Er leitet uns auf richtige und ewige Wege. Wenn wir unser Herz beschweren wollen durch leidenschaftliches Jagen nach den Schätzen und Reichthümern der Erde. dann spricht Er zu uns von den Schätzen, die weder Motten noch Rost fressen, und nach denen die Diebe nicht graben, noch stehlen, und ruft uns mit Seinem ganzen Ansehen zu: „Trachtet am Ersten nach dem Reiche Gottes und nach Seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches Alles zufallen.“ Wenn unser Herz uns bethören will, den Beleidiger zurückzuweisen und ihm die Verzeihung zu versagen, die er uns anbietet und um die er uns anfleht: dann warnt Er uns mit der ganzen Vollmacht Seiner Stellung: „Sei willfertig deinem Widersacher bald, dieweil du noch bei ihm auf dem Wege bist; auf daß dich der Widersacher nicht dermaleinst überantworte dem Richter, und der Richter überantworte dich dem Diener, und werdest in den Kerker geworfen.“ Wenn wir es für eine Ehrensache halten, Böses mit Bösem zu vergelten und Gewalt mit Gewalt zu vertreiben: dann drängt Er uns mit starker Stimme zur Feindesliebe und spricht: „Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen; thut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen.“ Wenn wir unsere Freude darin finden, Andere zu richten und zu verdammen, uns selbst aber mit aller Schonung zu behandeln und uns nachzusehen und zu erlauben, was wir niemals verantworten können: dann erinnert er uns aber- und abermal: „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!“ Wenn wir lediglich der Stimme der Selbstsucht folgen und von Andern das fordern, was wir selbst ihnen nimmermehr leisten mögen: dann ermahnt Er uns fest und bestimmt: „Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen, das thut ihr ihnen; das ist das Gesetz und die Propheten.“ Wenn wir endlich in Kummer und Noth keine Hülfe und keinen Trost finden, weder in uns, noch in der Welt, und das Herz uns vor Angst und Sorge brechen möchte, und die Wellen des Unglücks uns bis an die Seele gehen: dann tröstet Er uns mit dem zuversichtsvollen Worte, das alle Bedenken niederschlägt: „Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, noch für eure Kleidung, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr, denn die Speise? und der Lei mehr, denn die Kleidung?“ Und wir müssen zu allen Seinen Ermahnungen und Warnungen, Lehren und Tröstungen, von Herzensgrunde bezeugen: So ist es, Er hat Recht, das fühle ich, und jedes Seiner Worte ist vollkommene Wahrheit; müssen bekennen: „Die Menschen sind wie eine Wiege, mein Jesus stehet felsenfest, und ob ich gleich darniederliege, mich Seine Treue nicht verläßt. Drum hab' ich's immer so gemeint: mein Jesus ist der beste Freund.“

O gepriesen sei der Herr, der da hat immer und überall Worte des ewigen Lebens, und der darum ist die Zuflucht der Menschenkinder für und für. Laßt uns Ihm uns hingeben mit Leib und Seele; was Er uns sagt, thun; wohin Er uns führt, folgen; was Er uns giebt, dankbar annehmen; was Er uns entzieht, geduldig ertragen; wenn Er uns heimsucht, Ihn stille halten; und wenn Er uns segnen will, Ihm das Herz öffnen für Seinen Himmelssegen. Er ist der erste, Er ist der letzte, Er ist der größte aller Propheten; das A und das O der heiligen Schrift; der Anfang, die Mitte und das Ende all' unseres Strebens und Lebens. Menschenworte sind Irrlichter, entstanden aus den Sümpfen menschlicher Begier und unordentlicher Neigung, und daher schnell genug wieder verschwindend: Seine Worte sind das Licht, das die Welt erleuchtet. Menschenworte gelten, so lange die Menschen gelten, die sie gesprochen haben: Seine Worte sind Worte des Ewigen, der unser Schöpfer war, der unser Erlöser ist, und unser Richter sein wird am jüngsten Tage. Herr, gedenke unserer nach Deinem Worte, auf welches Du uns lässest hoffen; laß unsere Seele in Deinem Worte leben, daß sie dich lobe immer und ewiglich. Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/a/arndt_f/arnd-zweiunddreissigste_predigt.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain