Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 20. Predigt

Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 20. Predigt

Text: Matth. VI., V. 9,13.

Darum sollt ihr also beten: Unser Vater in dem Himmel. Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel. Unser täglich Brodt gieb uns heute. Und vergieb uns unsere Schuld, wie wir unsern Schuldigern vergeben. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel. Denn Dein ist das Reich, und die Kraft, und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Nachdem Jesus in der Ermahnung zum Gebet Seine wahren Jünger vor zwei Abwegen gewarnt hatte, vor der Heuchelei der Pharisäer und vor dem Geplapper der Heiden, ertheilte Er ihnen nun selbst eine Anleitung zum Gebet, um ihnen zu zeigen, was sie von Gott zu erflehen hätten und wie sie würdig und erhörlich beten könnten. Nach der Erzählung des Evangelisten Lucas (11,1.) hatten Seine Jünger Ihn aufgefordert, sie beten zu lehren. Denn so oft sie Ihn beten hörten, fühlten sie ihren Abstand und ihr Unvermögen, recht zu beten, und es entstand in ihrem Herzen der flammende Wunsch: Könnten wir doch auch so beten, wie Er! Ist ja doch überhaupt das Wort eines großen heidnischen Weisen (Plato) jedem ernstgesinnten Menschen aus der Seele herausgeschrieben: daß der Mensch, auf sich beschränkt, nicht zu beten wisse, sondern eines Gesandten vom Himmel bedürfe, der das Gebet ihn lehre. Wie preiswürdig und herrlich daher, daß Jesus Seinen Jüngern eine Unterweisung zu beten gegeben hat in dem sogenannten Vater Unser oder dem Gebete des Herrn! Und welch’ eine einzige, unvergleichliche Unterweisung ist darin enthalten! (Vergleiche das Ausführlichere in des Verfassers Predigten über das Vater Unser. Halle, 1846. 3te Auflage) Laßt uns von drei Seiten diesmal dieses Gebet aller Gebete anschauen: 1) was es voraussetzt, 2) welche Wahrheiten es uns lehrt, und 3) zu welchen Folgerungen es veranlaßt.

I.

Was das Gebet des Herrn im Texte voraussetzt? fragten wir zuerst. Nun, schauen wir es näher an, so ist unläugbar, es setzt eine durchaus christliche Gemüthsrichtung, eine Seelenstellung, wie sie in den acht Seligpreisungen enthalten ist, voraus. Wie die ganze Bergpredigt auf der Grundlage jener acht Seligpreisungen erbaut ist: so kann insbesondere auch das Vater Unser nur wahr und ganz gebetet werden da, wo der Mensch geistlich arm geworden ist, wo er Leide trägt über seine Sünden, wo er aufhört, dem Geiste Gottes zu widerstreben, wo er hungert und durstet nach der Gerechtigkeit, wo er barmherzig, rein, friedfertig lebt und um Christi willen sich gern schmähen und verfolgen läßt. oder, ich bitte euch, Geliebte, kann ein natürlicher Mensch mit seiner angeborenen Selbstsucht wahrhaft, ohne Lüge und Heuchelei, ohne Widerspruch seiner innersten Gesinnung und ohne Anklage seines Gewissens, beten: “Dein Name werde geheiligt, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden?” Kann ein natürlicher Mensch mit seiner angeborenen Genußsucht, Unzufriedenheit und Unmäßigkeit, mit seinem Unglauben, seinem Weltsinn, seiner ängstlichen Sorge beten: “Unser täglich Brodt gieb uns heute?” Kann ein natürlicher Mensch mit seiner Verletzbarkeit und Rachsucht beten: “Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern?” Kann ein natürlicher Mensch mit seiner Liebe zur Sünde und zur Abgötterei im Ernst flehen: “Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel?” Mit jedem solchen Gebetsseufzer würde er sich selbst belügen, und Dinge von Gott erflehen, die er im Ernste gar nicht wirklich verlangt!

Das Gebet des Herrn ist, seinem Buchstaben und seinem Geiste nach, nur möglich in einem wiedergeborenen, durch die Gnade Gottes erneuerten und ungeschaffenen Gemüthe, und setzt in jeder einzelnen seiner sieben Bitten, in seinem erhabenen Eingange und in seinem majestätischen Schlußwort die neue Geburt des Geistes Gottes voraus und alle die Eigenschaften, welche der Herr in den acht Seligpreisungen Seiner Bergpredigt vorausgeschickt hat. Selig sind, die da geistlich arm sind! begann Er, die in sich kein Gutes, keine Kraft zum Guten finden, und die es erkennen mit voller Ueberzeugung, daß sie die Fülle der geistlichen Güter entbehren, daß sie Sünder sind vor Gott und verlangend die Hände nach Ihm ausstrecken, daß Er ihnen verleiht, was ihnen fehlt und sie sich zu geben unvermögend sind: ihrer ist das Himmelreich, und nur sie verlangen in Wahrheit, daß Gottes Gnade und macht von Allen anerkannt und verherrlicht werde, sie beten: “Dein Name werde geheiligt!” Selig sind, die da Leide tragen! fuhr Jesus fort, die also nicht bloß ihr Verderben erkennen, sondern es auch schmerzlich fühlen, wie tief sie gefallen, wie groß ihr Elend, wie entsetzlich die Folgen der Sünde, die Sünde selbst, und die Quelle der Sünde, die Selbstsucht ihres Herzens, ist: sie sollen getröstet werden, und weil sie diesen Trost mächtig erfahren, wünschen sie auch in Wahrheit, daß Gottes Reich komme, das Reich, in welchem Gerechtigkeit wohnt und Friede und Freude im heiligen Geiste, in welchem Vergebung der Sünden im vollsten Umfange dargeboten und mitgetheilt wird und jede Thräne versiegt, weil ihr Grund und Gegenstand hinweggenommen ist. Selig sind die Sanftmüthigen! die, weil sie in sich nur Kraft zum Bösen und Unlust zum Guten wahrnehmen, nun aufhören, zu widerstreben, willenlos sich allen Vorschriften und Wegen der Heilsordnung unterwerfen und ihr Herz dem Herrn übergeben: nur diese verlangen in Wahrheit, daß Gottes Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden; denn nur in der Uebereinstimmung unseres Willens mit dem göttlichen, nur in dem Einssein der Seele mit dem Herrn ist Heil und ewiges Leben, und selig sind darum eben die heiligen Geister vor Gottes Angesicht, weil Gottes Wille ihr Wille geworden ist. Selig sind, die da hungert und durstet nach Gerechtigkeit! die, nachdem sie sich erkannt haben in ihrer Sündhaftigkeit und sich von sich weggewendet haben mit Erkenntniß, Gefühl und Wille, nun das ganze, tiefste Sehnen ihres Innern auf die himmlischen Güter der Gnade hinrichten und im Glauben das Herz öffnen ihren beseligenden Einflüssen. Je ernstlicher sie gesättigt werden von den himmlischen Ernährungsquellen, je mehr Christus, der Sohn Gottes, der Heiland der Welt, das Brodt ihres Lebens wird: desto gewisser werden sie in irdischen Dingen mit dem Nothdürftigen sich begnügen, und desto natürlicher wird ihre Bitte sein: “Unser täglich Brodt gieb uns heute!” Selig sind die Barmherzigen! die, weil sie in Buße und Glauben des Himmelreichs theilhaftig geworden sind, nun auch die Früchte ihres Glaubens offenbaren, vor Allem und zuerst die barmherzige Liebe, die gern sich der Noth Anderer annimmt, gern schont und verzeiht, gern Alles trägt, glaubt, hofft, duldet: sie werden Barmherzigkeit erlangen, denn sie können wahrhaft und ohne Herzensanklage beten: “Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern.” Selig sind, die reines Herzens sind! die nach Reinheit streben in ihren Gedanken, Neigungen und Bestrebungen, die es sich angelegen sein lassen, ihren Glauben nun auch zu zieren durch Heiligung ihres ganzen Wesens: sie werden Gott schauen und in Seiner Erkenntniß von Stufe zu Stufe wachsen; aber je mehr sie Gott schauen, desto mehr auch die Schatten erkennen, welche den Anblick des ewigen Lichts verhüllen; je höher sie den Berg ihrer Vervollkommnung emporklimmen, desto mehr auch die Untiefen und Abgründe wahrnehmen, die unter ihnen sich öffnen; je reiner sie werden, desto mehr auch die kleinern Flecken ihres Herzens und die Gefahren der Welt würdigen, desto öfter auch seufzen: “Führe uns nicht in Versuchung!” Selig sind die Friedfertigen! die gern Frieden halten und Frieden stiften, sie wissen es, wie der Verlust dieses Friedens das größte Uebel ist, wie er von der Kindschaft Gottes ausschließt, wie er alle Uebel des Lebens erst zu Uebeln macht. Sie wünschen, daß allgemeiner Friede durch die Erkenntniß Jesu Christi herrschen möchte unter den Menschen, daß allen Uebeln Leibes und der Seele für immer möchte gesteuert werden; sie flehen aus Herzensgrunde: “Erlöse uns von dem Uebel!” Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden! ihnen wird es gewiß klar, wie wir hienieden keine bleibende Stätte haben, sondern die zukünftige suchen müssen, wie die Kirche Jesu Christi auf Erden jederzeit eine streitende bleibt und im Himmel erst eine triumphirende wird, und wie Beharrlichkeit und Muth, Treue und Unverdrossenheit zum Kampfe nur von Oben herab gegeben wird. Darum besiegeln sie alle ihre Bitten mit der zuversichtsvollen und sehnsuchtsreichen Gewißheit: “Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit!” Sehet, so ziehet sich durch alle Bitten der Ausdruck eines der Sünde abgestorbenen und dem Herrn ganz hingegebenen Gemüths hindurch; und das Vater Unser setzt alle acht Seligpreisungen voraus, um vollständig und wahr gesprochen werden zu können. Wie der Herr im hohenpriesterlichen Gebete nicht für die Welt betete, sondern für die, die Ihm der Vater gegeben hatte (Joh. 17,3.): so ist auch dies Gebet ein Gebet für Solche, welche Jesus erkoren, daß sie das Licht der Welt und das Salz der Erde sein sollen.

Aber hat die Kirche, diese äußere, gemischte Gemeinschaft Gläubiger und Ungläubiger, nicht das Vater Unser bei allen kirchlichen Handlungen, am Taufstein, bei der Confirmation, am Traualtar, beim heiligen Abendmahl, am Grabe, zu beten vorgeschrieben? Hat sie sich nicht in allen Jahrhunderten zufrieden erklärt, wenn ihre erwachsenen Täuflinge und Katechumenen aus den Juden und Heiden nur die zehn Gebote, das apostolische Glaubensbekenntniß und das Vater Unser auswendig wußten, und sie darauf sofort in den Schooß ihrer Gemeinschaft aufgenommen? Wie konnte sie ein Gebet denen zumuthen, welche noch gar nicht reif und fähig waren, es zu verstehen und würdig zu beten? Gerade auf dieselbe Weise, meine Lieben, wie Jesus die Bergpredigt, die ihrem ganzen Inhalte nach ein wiedergeborenes, durch die acht Seligpreisungen hindurchgegangenes Gemüth voraussetzt, vor den Jüngern und vor dem Volke hielt zu einer Zeit, wo Keiner unter Allen reif und fähig war, sie zu verstehen und zu befolgen. Das Vater Unser sollte das Ideal, das Muster sein für ihr Beten und Bitten; an demselben sollten sie lernen, ihre Gebete einzurichten nach Inhalt und Form, nach Umfang und Zusammenhang. Auffordern sollte es sie, sich die Gesinnungen zu eigen zu machen, durch welche sie eingehen könnten mit ihrem innersten Wesen in den Reichthum und die Herrlichkeit der Stimmung, in welcher der Mensch beten darf: Unser Vater, der Du bist im Himmel!

II.

Darum laßt uns nun aber auch zweitens sehen, welche Lehren und Wahrheiten über ein Gott wohlgefälliges und erhörliches Gebet das Herrngebet im Texte uns aufschließt.

Zunächst spricht es die große Lehre aus: daß wir Gott Alles vortragen dürfen, was uns Bedürfniß ist im Herzensgrunde: Geistliches und Leibliches, Allgemeines und Besonderes, Großes und Kleines, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges, Frohes und Trauriges, Leben und Tod. Es giebt Menschen, die beten zum lieben Gott nur um irdische Güter, um Gesundheit, Nahrung, Bewahrung vor Gefahren, Hülfe aus entstandener Noth; aber die Güter der Seele: Unschuld, Gerechtigkeit, Weisheit und Gnade bei Gott glauben sie sich selbst verschaffen zu können und zu sollen, oder betrachten gar die Bekümmerniß für das Heil ihrer Seele als eine Nebensache, die der Hauptsache, dem äußern Lebensglücke, weichen müsse. Es giebt Andere, die kehren es gerade um; um himmlische Güter meinen sie Gott anflehen zu müssen und zu dürfen, denn die könne einmal der Mensch sich nicht geben; aber das irdische Brodt, sein Fortkommen, sein Wohl und Wehe liege in seinen eigenen Händen, das müsse er sich selbst erwerben und sicher stellen; sie schämen sich gleichsam solcher geringen Bitten vor Gott, und finden eine Herabwürdigung und Erniedrigung des großen Gottes darin, wenn man Ihm auch noch mit solchen kleinen Angelegenheiten beschwerlich fallen wollte. Offenbar sind Beide im Irrthum. Jesus lehrt Seine wahren Jünger im Vater Unser um Beides bitten, um Leibliches, wie um Geistliches, um das Kommen des Reiches Gottes sowohl, wie um das tägliche Brodt; wie Er denn auch an andern Stellen geradezu und bestimmt sagt: “Alles, was ihr bittet in eurem Gebet, glaubet nur, daß ihr’s empfahen werdet, so wird’s euch werden.” (Marc. 11,24. Matth. 21,22.) Der Christ darf seinem himmlischen Vater vortragen, was sein glaube ihn nur irgend verlangen und erstreben lehrt; jedes Bedürfniß des Herzens und Lebens gestaltet sich bei ihm zum Gebete! – Aber von der andern Seite, indem uns Jesus das große Vorrecht ertheilt, um Alles zu bitten, lehrt Er uns zugleich die rechte Stellung, welche die irdischen Angelegenheiten den geistlichen gegenüber einzunehmen haben, indem Er unter den sieben Bitten nur eine nennt für leibliche Bedürfnisse, und diese eine sogar noch eingeschränkt auf das schlechthin Unentbehrliche, auf das tägliche Brodt. Auch hierin wieder im Einklange mit Seiner sonstigen Lehre. “Trachtet am Ersten nach dem Reiche Gottes und nach Seiner Gerechtigkeit; so wird euch das Andere zufallen.” (Matth. 6,33.) Wem der Himmel Hauptsache ist, dem muß die vergängliche Erde von selbst Nebensache werden; und wer Gott zum alleinigen Ziele seines Strebens macht, der wird sich selbst nur so weit suchen, als es mit dem Herrn im Himmel zu vereinigen ist. Und er wird dabei nie zu kurz kommen; denn die Gottseligkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens.

Eine zweite Lehre, die uns Jesus im Texte über das Gebet ertheilt, betrifft nicht sowohl den Inhalt, als den Gegenstand, für den wir beten sollen. Zunächst nämlich betet der Christ für sich vor seinem Herrn. Er steht im Gebete Gott gegenüber. Er hält ein Zwiegespräch mit Ihm. Es ist ihm bei diesem Zwiegespräch zu Muthe, als wäre Niemand weiter in der Welt da, als Gott und er allein. Er vergißt, was um ihn her ist; er faßt Gott ganz und fleht für sein Heil allein. Den Herrn anschauend in Seiner Majestät, Unendlichkeit, Größe und Herrlichkeit, ruft er: “Dein Name werde geheiligt!” – sich anschauend in seiner Gebrechlichkeit, und wie die innere Welt böser Versuchungen ihn hindern will, Gottes Namen zu heiligen, schreit er wieder: “Führe uns nicht in Versuchung!” Gott anschauend in Seiner Heiligkeit und Gnade, und die Seligkeit, die in der Einwirkung dieser Heiligkeit und Gnade für alle geschaffenen Geister liegt, ruft er: Dein heiliger und gnädiger Gotteswille, wie er unter den Engeln vor Deinem Throne geschieht und ihre Seligkeit ausmacht, so geschehe er auf Erden in meinem Herzen und Leben! – sich aber anschauend, fühlt er’s, und sein Gewissen sagt es ihm: so wie du betest, handelst du nicht, dein Wille ist nicht Gottes Wille; und zermalmt fällt er auf seine Kniee und schreit: “Vergieb mir meine Schuld!” Gott anschauend in Seinen Offenbarungen an die Menschheit und in den Heilsanstalten, die Er getroffen hat zur Rettung der Verlorenen, ruft er: “Dein Reich komme!” – sich aber prüfend, wird er inne mit jedem neuen Tage und Jahre seines Lebens: es kommt nicht und will nicht kommen! Da strahlt ihm das Licht der Ewigkeit entgegen; er wird gewahr, daß das vollkommene Gottesreich erst jenseits kommt; er faltet seine Hände wieder und betet: “Erlöse mich von dem Uebel!” So betet der wahre Christ für sich und sein Heil. – Und doch soll er das nicht allein; die Bruderliebe treibt ihn, auch an Andere zu denken und für Andere zu beten. Darum lehrt Jesus uns beten, als im engsten Zusammenhange stehend mit der ganzen Christenheit, mit der ganzen Menschheit: “Unser täglich Brodt gieb uns heute, und vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern, und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel!” Nicht, als wenn Er damit die Gebete für uns allein ausschließen wollte; - Er hat ja auch Stunden gehabt, wo Er Seines Herzens Anliegen allein vor Gott äußerte, Stunden großer, namenloser Angst, in denen Er flehete: “Vater, nicht wie ich will, sondern wie Du willst!” und für uns Alle kommen solche großen Stunden, wo es gilt, die besonderen, ungewöhnlichen Freuden oder Schmerzen, die wir zu tragen haben, auszuschütten. Doch das sind nur Ausnahmen, die Regel soll es nicht sein; die Regel ist die: daß wir nicht nur für uns, sondern auch für unsere Brüder beten. Vielleicht beten sie nicht für sich: so wollen wir um so dringender über sie Heil erflehen; und wollen damit nicht bloß unsere nächsten Angehörigen meinen, sondern die ganze Kirche, die ganze Menschheit; wollen dabei nicht bloß ihr irdisches Wohl und Wehe in’s Auge fassen, sondern vorzugsweise ihre geistige Noth und ihre geistige Hülfe. Je mehr wir für Andere beten, desto mehr werden wir auch die Andern lieb haben und unsere Liebesworte für sie durch Liebesthaten an ihnen bewähren und beweisen.

Endlich die dritte Lehre, welche im Herrngebete liegt, ist nicht minder wichtig, als die beiden eben genannten; sie betrifft des Gebetes Beschaffenheit. Der Christ betet: “Dein Name werde geheiligt, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe!” er erfleht also lauter Güter von Gott, welche Gott von ihm gefordert hat; denn es ist Gottes Gebot an ihn: “Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, heiligen! Du sollst schaffen mit Furcht und Zittern, daß du selig werdest, und dem Himmelreich Gewalt anthun! das ist der Wille Gottes, deine Heiligung.” Die Gebote des Herrn wandeln sich also in seinem Herzen in Gebete um. Er fühlt, indem er vor Gott steht, wie Alles im Christenthum nur Gnade ist, wie Gott selbst in uns schaffen muß Wollen und Vollbringen des Guten nach Seinem Wohlgefallen, wie der Mensch sich nicht heiligen kann, wenn Gott ihn nicht heiligt, wie es nicht an Jemandes Wollen und Laufen, an seiner Klugheit und Treue liegt, sondern an Gottes Erbarmen, das ihn beständig bewahren und leiten, stärken und halten muß, damit er nicht strauchle und falle. Darum erbittet er sich Alles, was er in seinem Christenthum bedarf, von Gott. Aber von der andern Seite fühlt er auch, daß darum, daß im Christenthum Alles unverdiente Gnade ist, der Mensch nicht seine Hände darf in den Schooß legen; daß, wenn er auch nicht durch seinen eigenen freien Willen sich selig machen kann, er doch auch nicht ohne seinen freien Willen von Gott beseligt wird; daß zu Gott beten zugleich so viel heißt, als sprechen: “Siehe, hier bin ich; gieb mir, was Du befiehlst, und dann befiehl, was Du willst!” daß beten und arbeiten zusammenfällt, der ehrliche Beter auch seine Kräfte, seine Zeit in den Dienst des Herrn stellt, und bereit ist, für Ihn zu wirken, wo, wie und wann Er will. Diesen willigen Entschluß der Mitwirkung, dieses Gelübde des Eingehens in Gottes Willen spricht einmal der Herr bestimmt aus: “Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!” d.h. daran wollen wir erkennen, daß Du uns gnädig bist, und uns vergiebst, wenn wir uns von Deiner vergebenden Liebe nun auch so durchdringen lassen, daß wir sanftmüthig sind gegen unsere Nebenmenschen. Bei den übrigen sechs Bitten sind diese Gelübde nicht jedesmal wörtlich ausgedrückt; aber wer könnte, wer wird sie im Geiste vermissen? Wer könnte beten: “Dein Reich komme!” und wollte nicht Hand anlegen, daß es komme? Wer könnte beten: “Dein Name werde geheiligt!” und wollte ihn weder an sich heiligen, noch der Entheiligung entgegenwirken bei Andern? Nach solchen Gebeten schlaff, unthätig, lässig bleiben wollen, hieße das Gebet aller Gebete geradezu verspotten!

III.

Das sind, Geliebte, die großen Lehren, welche uns Jesus im Vater Unser giebt. Wie steht es nun mit uns? Haben wir sie erkannt? Haben wir sie geübt? Gebetet haben wir unzählige male in unserm Leben das Gebet des Herrn: wie haben wir es gebetet? Haben wir es gebetet gewohnheitsmäßig, gedankenlos, ohne seinen tiefen Sinn zu verstehen und uns zuzueignen, ohne in die Tiefe des aus ihm sprechenden Geistes immer mehr einzudringen? Ach, wenn Gedankenlosigkeit immer des Menschen unwürdig ist, so ist sie es namentlich hier bei dem Gebete des Herrn, das Jesus gerade darum Seine Jünger gelehrt hat, um der Gedankenlosigkeit zu steuern. Wir hätten daran geglaubt zu beten, und hätten wahrhaft doch nicht gebetet. – Oder haben wir es gesprochen aus Heuchelei, äußerlich fromm die Lippen bewegend, innerlich mit ganz andern Gedanken beschäftigt; gesprochen mit dem innersten Widerspruche unseres Herzens? Wenn wir beteten: “Dein Name werde geheiligt, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe!” – war es uns da auch wirklich ein Ernst mit diesem Gebete, oder wünschten wir dennoch viel mehr, daß unser Name genannt werde mit Beifall, daß unser Reich, unser Ort, unser Haus über die vorliegenden Hindernisse siege, daß unser Wille durchgesetzt und erfüllt werde? Wenn wir beteten: “Unser täglich Brodt gieb uns heute!” – wollten wir da auch wirklich nichts mehr, als nur unser täglich Brodt? keinen Ueberfluß an Reichthum, Ehre und Genüssen, keine Ueppigkeit und Herrlichkeit dieser Welt? Beseelte uns da Genügsamkeit, Gottvertrauen und Bescheidenheit? Wenn wir beteten: “Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!” – waren wir auch wirklich zum Vergeben geneigt, und vergaben nicht nur mit dem Munde, sondern auch mit dem Herzen? Wenn wir beteten: “Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel!” – war es uns ernstlich zu thun um unsere Besserung und Heiligung, suchten wir nicht selbst absichtlich die Versuchung auf, und hatten lieb die Sünde nach wie vor in unserm Herzen? Thaten wir, was wir im Gebet gelobten? ja, wollten wir auch wirklich das, was wir im Gebet gelobten? Und unsere sonstigen Gebete, die wir Gott vortrugen, wie waren sie beschaffen? Athmeten sie den Geist des Vater Unsers? Waren sie wahrhaft redlich und ehrlich gemeint? Ach, ihr müßt gestehen, das Vater Unser ist der größte Märtyrer auf Erden; kein Gebet wird mehr gemißbraucht und entweiht, als dasselbe; ja, nichts wird auf Erden so gemißbraucht und entweiht, als das Gebet. Das Erste, was uns daher bei einer aufrichtigen Selbstprüfung unserer Gebete Noth thut, ist der Seufzer: Herr, vergieb uns unsere Gebete, vergieb uns jede Sünde, die wir betend begangen haben! Buße, Reue, daß wir trotz des Mustergebets doch noch nicht ordentlich beten gelernt, und daß wir das Herrngebet nicht allezeit besser gebetet haben, ist es, was wir fühlen müssen.

Aber dann auch regt sich um so mehr ein Zweites in uns: “Herr, lehre uns beten!” wie die Jünger einst flehten: “Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seines Jünger lehrete;” – und da Du es uns gelehrt hast in deinem herrlichen Gebete, lehre es uns allezeit würdig beten, mit Sammlung, mit Geist und Leben, mit Hingebung und Vertrauen, mit Segen für unser Herz und Leben. Laß uns nie aufstehen vom Gebet, ohne von den Gesinnungen durchdrungen zu sein, die wir erfleht oder gelobt haben; ohne inniger unsere Brüder zu lieben, die ja alle Kinder eines und desselben himmlischen Vaters sind; ohne tiefere Ehrfurcht vor Deinem hochheiligen Wesen, ohne größern Ernst, Dein Reich zu fördern, ohne völligere Hingebung unseres Willens in den Deinigen, damit wir uns genügen lassen an dem Nothdürftigen in Beziehung auf das Zeitliche und unser ganzes Streben vielmehr auf das Himmlische richten, auf Vergebung unserer Sünden, auf Nachsicht gegen unsere Beleidiger, auf Ueberwindung und Vermeidung jeglicher Versuchung und jeglichen Uebels. Bringen wir es erst dahin, daß wir nicht mehr gedankenlos, nicht mehr uns selbsttäuschend das Gebet des Herrn beten: so wird es uns auch fördern im Christenthum und das alte Wort an uns wahr werden: Je mehr Vater Unser, je mehr Segen! Wir werden allgemach all’ unser besonderes Wünschen und Verlangen in den weiten Umfang dieser Worte hineinlegen oder darin aushauchen, und zuletzt nichts mehr beten mögen, als die geheiligten Worte des Vater Unsers im Geiste und in der Wahrheit. Das Gebet des Herrn wird uns eine Himmelsleiter werden, auf der wir täglich von der Erde gen Himmel emporsteigen; ein Gnadenmeer, in dessen Tiefen wir uns versenken und aus seiner Fülle schöpfen Gnade um Gnade. Wir werden auch finden, was wir suchen; Gottes Reich wird zu uns kommen, Sein Name an uns geheiligt werden, Sein Wille durch uns geschehen, unser täglich Brodt, Vergebung der Sünden, Bewahrung vor Versuchung, und Erlösung von dem Uebel, uns nimmermehr mangeln. Und so wird der tägliche Gebrauch dieses göttlichen Gebetes für uns gleichsam sacramentlich werden, in Stunden der höchsten Ergebung, wie der tiefsten Schwachheit, in der Jugend, wie im Alter, in der Fülle der Kraft, wie auf dem Kranken- und Sterbelager unser größtes Labsal ausmachen. Amen: so töne es in allen Herzen! Amen, d.h. es soll also geschehen. Amen.

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