Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 16. Predigt

Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 16. Predigt

Text: Matth. V., V. 38-42.

Ihr habt gehöret, daß da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstehen sollt dem Uebel; sondern so dir Jemand einen Streich giebt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar. Und so Jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. Und so dich Jemand nöthiget Eine Meile, so gehe mit ihm zwei. Gieb dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der dir abborgen will.

Es ist doch ein wunderbares Wort, das Wort Gottes in der heiligen Schrift. Bald spricht es so mild, so sanft, als fühlte man den Athem des Friedens wehen um sich her; bald fordert es so streng, so gebieterisch, als hörte man Donner und Erdbeben. Bald redet es so einfach und klar, daß auch ein Kind es verstehen kann; dann thut es wieder so geheimnißvoll und tief, daß selbst die größten Geister aller Zeiten es nicht enträthseln können. Das eine Mal ist seine Darstellung so bestimmt und genau, daß Jeder gleich weiß, woran er ist; das andere Mal entwickelt es eine Unbestimmtheit und Allgemeinheit des Ausdrucks, daß man auf der Stelle fühlt: Dies läßt sich nicht überall halten und anwenden. Wenn Jesus sagt: “So Jemand zu mir kommt, und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kind, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein” (Luc. 14,26.): wer sollte da nicht erschrecken? nicht fragen: Was will Jesus sagen mit dem Wort “hassen”? wem klänge das nicht beim ersten Vernehmen überspannt, über alles Maß hinausgehend und in der Ausführung unmöglich? Wenn Jesus sagt: “Aergert dich dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf es von dir; es ist dir besser, daß eins deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde” (Matth. 5,39.): wem sagte da nicht sein unmittelbares Bewußtsein: das kann Jesus nicht buchstäblich gemeint haben, das muß bildlich gedolmetscht werden? Wenn Jesus sagt: “Wenn du ein Mittags- oder Abendmahl machst, so lade nicht deine Freunde, noch deine Brüder, noch deine Gefreundte, noch deine Nachbarn, die da reich sind, auf daß sie dich nicht etwa wieder laden und dir vergolten werde; sondern wenn du ein Mahl machst, so lade die Armen, die Krüppel, die Lahmen, die Blinden” (Luc. 14,12.): wer, der nur irgend Geist und Nachdenken besitzt, wäre im Stande, diese Worte so zu deuten, als dürfte er nun nie seine Freunde einladen? oder wenn Jesus sagt: “Geben ist seliger denn Nehmen” (Ap.Gesch. 20,35.), als dürfte man nun nie ein Geschenk annehmen? oder wenn Jesus sagt: “Ihr sollt nicht vergeben siebenmal, sondern siebenzigmal sieben Mal” (Matth. 18,22.), als dürfte man das ein uns siebzig mal siebente Mal nicht vergeben? Wahrlich, wenn irgend wo und wann das apostolische Wort seine Anwendung findet: “Der Buchstabe tödtet, aber der Geist macht lebendig” (2. Cor. 3,6.), so ist es bei der Erklärung solcher allgemeinen, unbestimmten und bildlichen Behauptungen aus dem Munde unseres Herrn. Da lehrt der Geist die Regel und die Ausnahme kennen und unterscheiden; da erläutert der Geist die eine Stelle durch die andere und durch den ganzen Zusammenhang der heiligen Schrift. – Dies gilt nun auch von den Worten unseres Textes, die, wir können es nicht läugnen, auf den ersten Anblick etwas Ueberraschendes, ja sogar Befremdendes, an sich tragen. Sie handeln von dem Verhalten des Christen bei den unangenehme Berührungen, in welche er mit seinen Nebenmenschen geräth; denn auch diesen kann er einmal in einer Welt, die im Argen liegt, und unter Menschen, die Alle Sünder sind, nicht entgehen. Und zwar sind diese Berührungen entweder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Vermögens, oder sie sind zudringliche Zumuthungen an seine Freiheit und Liebe. Für beide Fälle schreibt der Herr im Texte ein besonderes Verfahren vor, welches wir nun näher kennen zu lernen haben.

I.

Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dieser Grundsatz stand allerdings in dem mosaischen Gesetze, aber er war nur eine Vorschrift für den Rechtsverkehr und die Gerichtspflege; der jüdischen Obrigkeit, als solcher, war das Recht der Wiedervergeltung eingeräumt, um dem Ausbruch der Leidenschaften Einhalt zu thun und den Einzelnen gegen widerrechtliche Angriffe Anderer sicher zu stellen. Was aber nur als Recht und Pflicht der Obrigkeit gelten sollte, das trugen die Pharisäer ohne Bedenken auch in die Sittenlehre über, wandten es auf die Selbst- und Privatrache der Einzelnen gegen die Einzelnen an, und verdrehten also auch hier wieder die Worte des Alten Testaments. Wie entfernt das Alte Testament war von einer Erlaubniß zur Selbstrache, erhellte deutlich genug aus dem ausdrücklichen Gebot: “Du sollst nicht rachgierig sein gegen die Kinder deines Volks” (3. Moses 19,18. Spr. 24,29. Klagl. 3,27-31.); nichtsdestoweniger wagten sie, jene bürgerliche und gerichtliche Rechtsregel zu mißdeuten, und bei ihrem großen Einfluß auf das Volk ihre Auslegung zur herrschenden zu machen. Die Folge davon war, daß wer irgend konnte, sich selbst half, seinem Nächsten Gleiches mit Gleichem vergalt und Gewalt durch Gewalt vertrieb. Dieser verkehrten Auslegung widerspricht nun Jesus im Texte auf’s Allerbestimmteste, - nicht dem alttestamentlichen Gesetze selbst, als wäre es unstatthaft und ungültig für die bürgerliche Gerechtigkeitspflege, die ja in Allem ein Abbild der göttlichen Gerechtigkeit sein soll; und fährt fort: Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Uebel, welches euch ungerechterweise angethan wird, so daß ihr der angreifende Theil werdet und eurem Nächsten ebenso feindselig begegnet, wie er gegen euch gehandelt hat; sondern ihr sollt es dulden, und, wenn er euch an eurer Ehre wehe gethan, fern von aller Rachsucht bleiben, wenn er an eurem Vermögen euch verkürzt hat, fern von aller Streitsucht euch verhalten. Diese allgemeine Regel erläutert nun Jesus durch zwei Beispiele aus dem gewöhnlichen Leben.

Ich sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Uebel, sondern so dir Jemand einen Streich giebt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar; d.h. du sollst so sanftmüthig das Unrecht dulden, daß du lieber eine Wiederholung desselben leidest, als dich rächst. Damit berührt Er wieder einen tiefen, schreienden Fehler unseres bürgerlichen und geselligen Umgangs. Wenn wir von irgend Jemanden beleidigt, verläumdet, an unserm guten Namen gekränkt werden: was ist da in der Regel unser erstes Gefühl und Verhalten? Wir sind entrüstet, es kocht der Zorn in unserm Busen, es glüht der vielleicht noch verhaltene Haß immer heißer und heißer, es steigen Gedanken von Ehrenerklärungen, von Rache, von Sühne und Genugthuung durch Wiedervergeltung, vielleicht gar durch Blut und Tod, in uns auf; wir stellen diese Selbstrache als Zeichen der Selbstachtung, der Kraft und Gerechtigkeit, dar; wir sagen wohl gar: “Wie du mir, so ich dir! wer nicht von Herzen hassen kann, der kann auch nicht von Herzen lieben;” wir fürchten, uns nur noch größerem Unwillen auszusetzen, wenn wir unsere gekränkte Ehre nicht wieder gut zu machen suchen; der Beleidiger müsse daher bestraft werden, oder er erstarke nur noch mehr in seiner Bosheit. Sehet, so suchen wir wohl gar noch unser Thun zu rechtfertigen und unsere Vernunft zu mißbrauchen, um desto ungestörter unseren ungezähmten Leidenschaften dienen zu können. Solch Benehmen ist aber durchaus unchristlich und selbstsüchtig. Jesus vielmehr sagt: “Räche dich nicht, leide lieber doppelt Unrecht, als daß du einmal Unrecht thust und durch Rache dich dem Beleidiger gleichstellest.” Und Sein Apostel ermahnt: “Rächet euch selbst nicht, meine Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorne Gottes; denn es stehet geschrieben: Mein ist die Rache, ich will vergelten, spricht der Herr. Vergeltet nicht Böses mit Bösem, oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern dagegen segnet, und wisset, daß ihr berufen seid, daß ihr den Segen beerbet” (Röm. 12,19. 1. Petri 3,9.) Seine Vorschrift bestätigt der Herr zugleich durch Sein heiliges Vorbild, indem Er nicht wieder schalt, wenn Er gescholten ward, nicht drohete, wenn Er litt, sondern Alles Dem anheimstellte, der da recht richtet; indem Er, ob Er gleich alle Macht hatte, zu verderben, Seinen Feinden doch kein Uebels that, und als die Jünger von Ihm begehrten, daß Feuer vom Himmel fiele und den Ort der Samariter, der Ihm die Aufnahme verweigert hatte, verzehrte, zu ihnen sprach: “Wißt ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten”; (Luc. 9,55.56.) indem Er Petro, welcher Gewalt mit Gewalt vertreiben wollte, gebot: “Stecke dein Schwerdt in die Scheide; denn wer das Schwerdt zieht, soll durch das Schwerdt umkommen.” (Matth. 26,52.) Giebt es doch auch nichts Fürchterlicheres und Zerstörenderes, als Rachsucht; denn der Mensch erniedrigt sich damit unter das Thier, das auch von sinnlichen und äußeren Eindrücken sich fortreißen und bestimmen läßt! Und giebt es von der andern Seite nichts Lieblicheres und Wohlthuenderes, als Sanftmuth und Vergebung; denn der Mensch erscheint da in seiner Seelenstärke und Hoheit, in dem Adel seiner Besonnenheit und in der Kraft freier Selbstbeherrschung!

Darauf nennt Jesus noch ein zweites Beispiel: Und so Jemand mit dir rechten, Proceß anfangen will wegen einer Schuldforderung und deinen Rock als Pfand nehmen, dem laß auch den Mantel, gieb ihm selbst das Werthvollere und Unentbehrlichste gutwillig, um den Streit zu vermeiden. Das Oberkleid oder der Mantel nämlich durfte, da es den Armen zugleich als Nachtdecke diente, vom Gläubiger nie als Pfand über Nacht behalten werden, und steht daher hier für das Unentbehrlichste. Kann man stärker die Pflicht, Streit- und Proceßsucht zu vermeiden, ausdrücken, als durch diese Vergleichung? Lieber noch mehr, lieber das Theuerste dem Gegner opfern und die ewige Gerechtigkeit anrufen, als sich irgend ein Unrecht erlauben; lieber die geringeren Güter preisgeben, eine Hand voll Erde verlieren, als den Frieden des Gewissens und die Ruhe der Seele. Was kommt denn auch heraus bei allen Streitigkeiten, Klagen und Processen vor Gericht? Höchstens ein äußerer, irdischer Gewinn; jedenfalls aber innere Unruhe des Gemüths, Sturm der Leidenschaften, Bitterkeit im Herzen, dauernde Verstimmung, zuletzt vielleicht innere Vorwürfe und Gewissensbisse! Behält nicht immer das alte Wort sein Recht: Friede ernährt, Unfriede verzehrt? Als in der apostolischen Zeit zu Korinth um zeitlicher Güter willen Processe vor den heidnischen Gerichten geführt wurden und Paulus davon Kenntniß erhielt, schrieb er sofort an die Gemeinde: “Wie darf Jemand unter euch, so er einen Handel hat mit einem Andern, hadern vor den Ungerechten (den heidnischen Behörden), und nicht vor den Heiligen? (den Christen?)? Wisset ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden? So denn nun die Welt soll von euch gerichtet werden, seid ihr denn nicht gut genug, geringere Sachen zu richten? Wisset ihr nicht, daß wir über Engel richten werden? Wie vielmehr über die zeitlichen Güter? Ihr aber, wenn ihr über zeitlichen Gütern Sachen (Uneinigkeiten) habt, so nehmet ihr die, so bei der Gemeinde verachtet sind (die Heiden), und setzet sie zu Richtern – euch zur Schande muß ich das sagen. Ist so gar kein Weiser unter euch? Oder doch nicht Einer, der da könnte richten zwischen Bruder und Bruder? sondern ein Bruder mit dem andern hadert, dazu vor den Ungläubigen. Es ist schon ein Fehler unter euch, daß ihr miteinander rechtet. Warum laßt ihr euch nicht viel lieber Unrecht thun? Warum laßt ihr euch nicht viel lieber vervortheilen? Sondern ihr thut Unrecht und vervortheilet, und solches an den Brüdern. Wisset ihr nicht, daß die Ungerechten werden das Reich Gottes nicht ererben?” (1. Cor. 6,1-9.) So sprach er schon damals in der Urzeit der Kirche: wie würde er erst zürnen, wenn er jetzt aufträte und inne würde, daß nach achtzehnhundertjährigem Wirken des Evangeliums heutiges Tages es noch um kein Haar besser steht? daß keine Freundesstimme gehört, keine Seelsorgerstimme in Anspruch genommen, keine milde Ausgleichung auf dem Wege der Güte versucht wird, sondern Alles immer gleich vor den weltlichen Behörden geklagt und ausgestritten werden muß?

“Aber wie?” möchten vielleicht Viele unter euch im Stillen bei sich selbst denken, “sollen wir uns denn Alles von jedem Beleidiger und Betrüger gefallen lassen? sollen wir denn selbst da Unrecht leiden, wo das Recht ganz auf unserer Seite ist? öffnet solche Lehre nicht allen Mißbräuchen des niedrigsten Muthwillens Thür und Thor? willst du denn im Ernste die Grundsätze der Mennoniten und Quäker zu den deinigen machen, die nicht nur alles Streiten um das Mein und Dein für sündlich erklären, sondern auch sich bestimmt gegen jede Nothwehr, jeden Krieg, jede Uebernahme obrigkeitlicher Aemter aussprechen?” Nein, meine Lieben, das hieße den Herrn vollkommen mißverstehen! So wenig Er durch das Gebet: “Wenn du ein Mittags- oder Abendmahl machst, so lade nicht deine Freunde,” die Einladung unserer Freunde aufhob, so wenig schloß Er durch das Textverbot: “So Jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel” diejenigen Fälle aus, wo dem Beleidiger und Betrüger Widerstand geleistet werden muß. Er war ja nicht gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; so konnte Er denn auch für die Welt und für den Christen, sofern er in der Welt lebte, das der Obrigkeit vorgeschriebene Gesetz der Wiedervergeltung und Bestrafung: Auge um Auge, Zahn um Zahn! nicht umstoßen und vernichten; vielmehr behält dieses an seiner Stelle seine Kraft, wie in den vorhergehenden Fällen das Gesetz über den Eid, die Ehescheidung, den Ehebruch und den Mord an seiner Stelle vollgültige Rechtskraft behielt. Er, der es überhaupt nie mit äußerlichen bürgerlichen Gesetzen zu thun hatte, der jenem Manne aus dem Volke auf seine Bitte: “Herr, sage meinem Bruder, daß er mit mir das Erbe theile!” antwortete: “Mensch, wer hat mich zum Richter und Erbschichter über euch gesetzt? Sehet zu und hütet euch vor dem Geiz; denn Niemand lebt davon, daß er viel Güter hat” (Luc. 12,13-15.); der immer nur die Gesinnung in’s Auge faßte und auf die innere Wiedergeburt der Herzen hinwirken wollte, hatte auch im Texte zunächst nur die Gesinnung Seiner Jünger im Auge (Luther sagt in seiner Erklärung der Bergpredigt: “Jesus läßt’s wohl geschehen, daß du ordentlicher Weise das Recht forderst und nehmest: allein, daß du zusehest, und nicht ein rachgierig Herz habest. Gleichwie ein Richter wohl mag strafen und tödten, und doch daneben verboten ist, daß er keinen Haß und Rachgier im Herzen habe: - also ist nicht verboten, vor Gericht zu gehen, und klagen über Unrecht, Gewalt etc., wo nur das Herz nicht falsch ist, sondern gleich geduldig, wie Er, und allein darum thut, daß es über dem Rechten halte.”) Er sagte daher auch nicht: daß ihr nicht widersprechen, sondern nicht widerstreben sollt. Er geht uns sogar in dem Stücke selbst mit Seinem heiligen Beispiele voran. Als Er vor dem hohen Rathe von einem frechen Diener in’s Angesicht geschlagen wurde, sprach Er: “Habe ich übel geredet, so beweise es, daß es böse sei; habe ich aber recht geredet, was schlägst du mich?” (Joh. 18,23.) Er wich mitunter dem Uebel geradezu aus, welches Seine boshaften Feinde Ihm angedroht hatten, und verbarg sich, oder ging mitten durch sie hindurch, wenn sie zu Jerusalem Steine aufhoben, Ihn zu steinigen. (Joh. 8,59. 10,39.40 Luc. 4,30.) Er sprach zu den Aposteln: “Seid klug wie die Schlangen, und ohne Falsch wie die Tauben.” (Matth. 10,16.) In Seine Fußtapfen trat daher auch Sein großer Apostel Paulus. Als er zu Jerusalem sollte gestäupt werden und schon mit Riemen angebunden wurde, sprach er zu dem dabei stehenden Unterhauptmann: “Ist’s auch recht bei euch, einen römischen Bürger ohne Urtheil und Recht geißeln?” (Ap.Gesch. 22,23-29.) Er verlangte zu Philippi um der Sache Christi willen öffentliche Ehrenrettung und Ehrenerklärung. (16,35-40.) Er berief sich vor Festus auf den Kaiser, damit seine Sache am rechten Orte gerichtlich möchte entschieden werden. (25,9-11.) Es kann also Fälle geben, in denen es nicht nur erlaubt, sondern sogar recht ist, dem Uebel auf eine rechtmäßige Art zu entgehen, sein Recht geltend zu machen, seine Unschuld zu retten; Fälle, in denen Nachgiebigkeit und Duldung ein Auffordern zur fortgesetzten Sünde, folglich selber sündlich und wider die Liebe des Nächsten wäre; aber dann soll die Handhabung unseres Rechtes geschehen ohne innern Haß und Groll. Böse ist dann nicht, was man nach Pflicht und Gewissen thut; böse ist dann nur, wenn man thut, was man thut, um den Andern zu beleidigen. Im Herzen soll nichts wohnen, als Liebe und Sanftmuth, wenn äußerlich auch der Streitpunkt seinen rechtlichen Gang geht. Darum bleibt es bei der Ermahnung Christi: Treten Beeinträchtigungen eurer Ehre ein: hütet euch vor Rachsucht; treten Beeinträchtigungen eurer Habe und eures Guts ein: hütet euch vor Streit- und Proceßsucht. Die nachgiebige Liebe ist oft die höchste Gerechtigkeit, und beschämt, gewinnt, bessert und überführt von seinem Unrecht den Gegner mehr, als Rechtsstreit und Widersetzlichkeit.

II.

Indeß wir sind in Verkehr mit Andern nicht bloß unangenehmen Berührungen insofern ausgesetzt, als Beeinträchtigungen und Verkürzungen irgend eines theuern Gutes bei uns stattfinden können; wir sind es auch, insofern Zumuthungen und Anforderungen an uns gemacht werden, die alles Maß überschreiten. Diese Zumuthungen können sich nun wenden an unsere Freiheit und Selbstständigkeit, oder an unsere Hingebung und Liebe; dort sollen wir uns dann hüten vor Eigensinn, hier vor Eigennutz. Für beide Fälle hat der Herr im Texte in treuer Vorsicht gleichfalls gesorgt.

Er sagt zuerst: So dich Jemand nöthigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei. Das Wort, dessen sich Jesus im Grundtexte bedient, kommt zunächst von den königlich persischen Postboten vor, welche die Macht hatten, Menschen, Pferde, und was ihnen sonst auf der Landstraße begegnete, festzuhalten und zu brauchen, wenn sie dadurch schneller fortkommen konnten. Jesus sagt also: Wenn dich Jemand zwingt, von Obrigkeits wegen, eine Meile mit ihm zu laufen oder etwas zu tragen, so gehe mit ihm zwei, übernimm lieber das Doppelte, auch wenn du nicht dazu verbunden wärest, sobald es nur nicht wider das Gewissen ist; mit andern Worten: wenn unbillige Anforderungen an dich geschehen, so erfülle sie lieber mit Nachgiebigkeit und Selbstverläugnung, wenn dadurch genützt werden kann; gewähre Andern, was sie rechtlich nicht fordern können, leiste lieber Ungewöhnliches, ehr, als deine Kräfte dir eigentlich gestatten, ehe du aus Rücksicht auf deine Freiheit und Selbstständigkeit irgend einem guten Werke dich entziehen solltest. Unermüdliche Dienstfertigkeit, allezeit bereitwillige Gefälligkeit sei der Geist des Lebens, oder wie der Apostel sagt: “Ein Jeglicher sehe nicht auf das, was sein ist, sondern auf das, was des Ander ist.” (Phil. 2,4.) Es giebt wirklich Menschen im Leben, die so unerschöpflich und unmäßig sind in ihren Anforderungen, daß sie den Andern, deren Gutmüthigkeit und Kraft sie einmal kennen, nicht genug aufbürden können, die von ihren Arbeitern mehr, als billig ist, verlangen, ihnen das Schwerste zumuthen und ihre Dienste auf alle Weise in Anspruch nehmen. Billigerweise könnten Letztere die übertriebenen Zumuthungen der Ersteren zurückweisen, und Niemand würde es ihnen übel deuten. Aber nein, Jesus sagt: Thut es nicht; könnt ihr durch solche Gefälligkeit und Zuvorkommenheit dem Reiche Gottes dienen, Gutes befördern, Glück verbreiten: dann leistet willig und unverdrossen so viel, als gefordert wird; ja, lieber zu viel, als zu wenig, lieber zwei Meilen, als eine Meile; dann beweiset eure Freiheit und Selbstständigkeit gerade darin, daß ihr euch selbst verläugnen und überwinden könnt, dann erhebt euch über das Ungewöhnliche und Alltägliche; dann schauet auf Jesum, dem nie ein Weg zu weit, nie eine Zeit zu kurz, nie eine Beschwerde zu groß, nie eine Forderung zu ungelegen war; wohin Er gerufen wurde, um zu heilen und zu segnen, da ging Er hin, zog umher im jüdischen Lande und that wohl Allen, die Seiner Hülfe und Kraft bedurften zur Rettung des Leibes und der Seele. Wichtiger noch, als die Behauptung eurer Freiheit, ist das Heil eurer Brüder; und jedes Opfer, das ihr um Jesu willen in dieser Welt bringet, jede Entsagung und Verläugnung eurer Rechte, die ihr ausübt, jeder Dienst, den ihr im Auftrage des Herrn übernehmet, wird zuletzt euch selbst seine Früchte tragen; denn im Reiche Gottes bleibt kein gutes Werk unbelohnt.

Doch es giebt noch eine andere Zumuthung im gewöhnlichen Leben; die wendet sich nicht sowohl an eure Freiheit und Kraft, als vielmehr an eure Hingebung und Liebe. Jesus schließt nämlich Seine Ermahnung mit den Worten: ”Gieb dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will.” Weise also keinen Bittenden mit unfreundlichen Worten ab, sondern siehe in jedem Hülfsbedürftigen den Herrn, der ihn dir zugeschickt, und handle an ihm, wie du handeln würdest, wenn nicht der Nothleidende, sondern Jesus Christus, dein Erlöser und Heiland, bittend vor dir stände: könntest, dürftest, würdest du Ihm etwas abschlagen? - Gieb dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will; frage also nicht: Was wird mir dafür? wird Jener deine Gabe auch würdigen und anerkennen? wird sie bei ihm auch nicht weggeworfen sein? Geben ist an sich schon seliger, denn Nehmen, und das Bewußtsein, Thränen getrocknet, Seufzer gestillt, der Noth abgeholfen, Freuden bereitet zu haben, ist ja mit das süßeste Bewußtsein der Erde; was fragst du also nach Lohn und Dank? Wahrlich, die selbstsüchtigen Geber haben ihren Lohn dahin! - Gieb dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will; frage also auch nicht: Werden meine übrigen Bedürfnisse das zulassen? kann ich diese Ausgabe auch bestreiten, ohne mich einzuschränken und in der Befriedigung meiner Eitelkeit und Vergnügungssucht etwas zu entbehren? reicht mein Ueberfluß auch dahin, den an mich ergehenden Aufforderungen Genüge zu leisten? Nein, so frage nicht; frage vielmehr dein Herz, was das beim Anblick der fremden Noth fühlt; frage dein Mitleid, deine Christenliebe; frage: Was würde Jesus, dein Herr, in dieser Lage gethan haben? denke an die arme Wittwe im Tempel, die zwei Scherflein in den Gotteskasten hineingelegt und von der Jesus sagte: “Wahrlich, ich sage euch, diese arme Wittwe hat mehr denn sie Alle eingelegt; denn sie Alle haben aus ihrem Ueberfluß eingelegt zu dem Opfer Gottes, sie aber hat von ihrer Armuth alle ihre Nahrung, die sie hatte, eingelegt.” (Luc. 21,4.) - Gieb dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will. “Also auch dem Kinde, wenn es darum bittet, das Messer? also auch dem Selbstmörder das Gift, das er verlangt? und dem Verschwender das Geld, das er durchbringen will? und dem Betrüger, der vom Borgen lebt, ohne je auf die Bezahlung bedacht zu sein?” Natürlich, nein! solche Ausnahmen und Einschränkungen des allgemeinen Gebots verstehen sich von selbst, und lehrt der Geist Gottes leicht unterscheiden. Es wäre Raserei und Wahnsinn, wenn wir dergleichen Zumuthungen die Hand bieten wollten! Dadurch würden wir ja nichts Gutes, sondern nur Böses thun, und an Leib und Seele dem Nächsten schaden. Jedem geben wollen, was er verlangt, hieße bettelnde Bösewichte bilden und erziehen; hieße Mißbrauch treiben mit den Mitteln und Gaben, die uns der Herr anvertraut hat. Auch die heilige Schrift schränkt an andern Stellen das Gebot der Wohlthätigkeit ein. So, wenn der Apostel Paulus bei Gelegenheit der Einsammlung einer Collekte für die armen Christen zu Jerusalem an die Gemeinde zu Corinth schreibt. “So Einer willig ist, so ist er angenehm, nach dem er hat, nicht nach dem er nicht hat.” (2. Cor. 8,12-14.) So, wenn er den Thessalonichern vorschreibt: “Wir gebieten euch in dem Namen unseres Herrn Jesu Christi, daß ihr euch entziehet von allem Bruder, der da unordentlich wandelt, und nicht nach der Satzung, die er von uns empfangen hat; denn so Jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen.” (2. Thess. 3,6. 10.12.) So, wenn er den Galatern an’s Herz legt: “Als wir denn nun Zeit haben, so laßt uns Gutes thun an Jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.” (Gal. 6,10.) So, wenn er seinem Timotheus für die ihm übergebene Gemeinde zu bedenken giebt: “So Jemand die Seinen, sonderlich seine Hausgenossen, nicht versorget, der hat den Glauben verläugnet und ist ärger, denn ein Heide.” (1. Tim. 5,8.) Sehet, das sind Alles Ausnahmen, die Jesus im Texte nicht erwähnt, weil sie sich beim rechten Einklang der Weisheit und der Liebe von selbst verstehen, und weil Er hier nur den Geist im Allgemeinen angeben will, der Seine Jünger, sofern sie das Salz der Erde und das Licht der Welt sein wollen, allezeit erfüllen soll. Die Anwendung auf den jedesmal vorliegenden Fall bleibt dem Einzelnen überlassen; die Regel aber lautet: Gieb dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will, oder wie es schon im Alten Testamente hieß: Brich dem Hungrigen dein Brodt, und die, so im Elend sind, führe in dein Haus; so du Einen nackend siehst, so kleide ihn, und entziehe dich nicht von deinem Fleisch.” (Jes. 58,7.) – Fassen wir die Anordnungen des Herrn zusammen, so lauten sie: Wenn an euch Zumuthungen unbilliger und zudringlicher Art geschehen, so offenbart eure Freiheit in der dienstwilligen Gefälligkeit und hütet euch dabei vor jedem Eigensinn, so offenbart eure Liebe in der freundlich-herzlichen Mittheilung, und hütet euch dabei vor Eigennutz. Lieber ein wenig Ehre und Geld einbüßen, als Böses thun; lieber seiner Freiheit und Liebe ein Opfer zumuthen, als Gutes unterlassen, um des Reiches Gottes willen.

Wir sind zu Ende, meine Lieben. Wir haben versucht, in Gemäßheit der apostolischen Ermahnung, (2. Tim. 2,15.) das Wort der Wahrheit recht zu theilen; und siehe, die Dunkelheit ist verschwunden, die Nebel, die auf den Worten unseres Textes lagen, sind gewichen, des Herrn Erklärungen, sie strahlen uns jetzt an in demselben himmlischen Glanze, wie alle andern Worte Jesu Christi. Der Christ trägt an sich eine zwiefache Person, deren eine der unsichtbaren Kirche oder dem Himmel angehört, die andere aber noch in der sichtbaren Kirche in der Welt lebt. Als Mitglied der äußern, weltlichen und bürgerlichen Gesellschaft gilt für ihn das bürgerliche Gesetz in seiner vollen Kraft: “Auge um Auge, Zahn um Zahn!” und er darf sich wehren, darf sein volles Recht geltend machen, darf sich und die Seinigen gegen die Gewaltthat schützen auf rechtliche Art; als Christ aber bleibt er im Herzen rein, begehrt Niemandem etwas Böses zu thun, und duldet lieber Unrecht, als daß er Unrecht thut (Luther in seiner Erklärung der Bergpredigt: “Welche zum irdischen Regiment gehören, die sollen uns müssen Recht und Strafe haben und halten, Unterschied der Stände, Personen, Güter ordnen und theilen, daß es Alles gefaßt sei, und Jeglicher wisse, was er thun und haben soll, und Niemand sich in eines Andern Amt menge, noch zu nahe greife, noch das Ihre nehme. Dazu gehören Juristen, die solches lehren und darüber halten sollen. Das Evangelium aber hat sich nichts damit zu bekümmern, sondern lehret wie das Herz vor Gott stehen und in dem Allen soll geschickt sein, daß es rein bleibe, und nicht auf falsche Gerechtigkeit gerathe.”) Es mag bisweilen schwer sein, Beides zu vereinigen; aber die Salbung von Dem, der heilig ist, (1. Joh. 2,20.27.) wird uns jederzeit lehren das Rechte zu treffen und erwählen. Sie hilft hindurch durch alle schwierigen Fälle und macht unsträflich vor Gott und Menschen. Sie stellt die Liebe dar als des Gesetzes Erfüllung, und weiß auch da, wo die Gerechtigkeit gehandhabt werden muß, die Liebe mit der Gerechtigkeit zu verbinden. Sie fördert in der ächten christlichen Liebe, die Alles verträgt, Alles glaubt, Alles hoffet, Alles duldet, sich nie erbittern läßt, und nie nach Schaden trachtet. Darum sei es denn vorzugsweise der Geist der Liebe, der uns je länger, je mehr durchdringe, und um dessen Ausgießung wir bitten wollen; denn hier schon bessert die Liebe und thut dem Nächsten nichts Böses, und droben rühmt sich die Barmherzigkeit wider das Gericht. (Röm. 13,10. Jac. 2,13.) Amen.

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