Arndt, Johann Friedrich Wilhelm - 15. Predigt

Arndt, Johann Friedrich Wilhelm - 15. Predigt

Text: Matth. V., V. 33-37.

Ihr habt weiter gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst keinen falschen Eid thun, und sollst Gott deinen Eid halten. Ich aber sage euch, daß ihr allerdings nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Stuhl, noch bei der Erde, denn sie ist Seiner Füße Schemel, noch bei Jerusalem, denn sie ist eines großen Königs Stadt. Auch sollst du nicht bei deinem Haupte schwören, denn du vermagst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen. Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein; was darüber ist, das ist vom Uebel.

Auch mit diesen Worten greift unser Herr, wie fast mit allen Worten der Bergpredigt, eine der herrschendsten bösen Gewohnheiten seiner Zeit und aller Zeiten an, und deckt wieder einen faulen Fleck auf, der dem Christenthum ebenso eigen ist, wie dem Judenthum. Nachdem Er die Unversöhnlichkeit, den Ehebruch und die Ehescheidung gehörig in ihrer Sündhaftigkeit gerügt und Anleitung zur Abhülfe des schreienden Verfalls gegeben hat, wendet Er sich nunmehr zu dem Schwören. Merkt ihr genauer auf die einzelnen sechs Fälle, welche Jesus zur Erläuterung Seines Grund- und Hauptsatzes, daß Er nicht gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen, durchgeht: so kann euch nicht entgehen, daß es lauter Fälle aus dem bürgerlichen Leben sind, daß demnach Jesus besonders in denselben das Verhältniß des Christen zum bürgerlichen Gesetze und zu den bürgerlichen Obliegenheiten, oder das Verhältniß der Kirche zum Staate darstellen will, und daß Er dies Verhältniß des Neuen Testaments zum Alten Testamente. Der Staat und unsere ganze bürgerliche Verfassung steht noch durchaus auf dem Standpunkte des Alten Testaments, soll aber immer mehr vom Geiste der Kirche durchdrungen, verklärt und geheiligt werden. Wir sehen uns daher heute wieder mit den Jüngern und dem Volke zu Jesu Füßen, und hören Seine Gotteserklärung an über das Schwören. Auch hierbei haben wir 1) die Erklärung unseres Textes, und 2) die Anwendung desselben zu beherzigen.

I.

Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst keinen falschen Eid thun, und sollst Gott deinen Eid halten! Ich aber sage euch, daß ihr allerdinge, d.h. überhaupt, nicht schwören sollt, weder falsch, noch wahr; also gar nicht. Dieß ist offenbar der Grundgedanke und der Hauptsatz, wie er sich unmittelbar aus dem Gegensatze gegen das alttestamentliche Gebot ergiebt, und wie er Jedem natürlich und unbefangen bei der ersten unmittelbaren Anschauung dieser Worte sich aufdrängt. Diesen allgemeinen Grundgedanken erläutert Jesus näher durch vier unter Juden jener Zeit gebräuchliche Schwurformeln, in welchen sich der Mißbrauch des durch das Gesetz gestatteten Eides recht augenscheinlich an den Tag legte. Die Juden meinten nämlich dem Eide ausweichen zu können, wenn sie nicht bei Gott unmittelbar schwuren, sondern bei den Geschöpfen und Werken Gottes, als wenn nur der Eid bei Gott heilig zu halten sei, geringere Eide aber zur Wahrheit nicht verpflichteten. Jesus weist ihnen daher die Nichtigkeit und Grundlosigkeit ihrer Meinung nach, und verbietet nicht nur die Eide bei Gottes Namen überhaupt, sondern auch alle Eide, die bei irgend einem andern Gegenstande der Ehrfurcht abgeleistet wurden, da mittelbarerweise auch diese Eide die Ehrfurcht gegen Gott verletzten, und im Grund und Wesen Eide bei Gott wären. Er steigt dabei in Seiner Rede von den höheren Eiden zu den niedrigern herab. Ich sage euch: daß ihr allerdinge nicht schwören sollt, denn ihr könnt nichts für eure Aussage einsetzen, da Alles Gott zugehört, weder, oder besser: auch nicht bei dem Himmel; denn er ist Gottes Stuhl, der Hauptoffenbarungsort der göttlichen Majestät und Unendlichkeit, wo Er sich den Bewohnern desselben in Seiner ganzen Größe enthüllt; - noch bei der Erde, denn sie ist Seiner Füße Schemel; sie ist im Vergleich mit dem Himmel allerdings nur ein Fußschemel gegen den Thron, aber doch immer ein Fußschemel Gottes, weil auf ihr überall die Fußtapfen der Macht und Gnade des Allerhöchsten, die Spuren und Denkmäler Seiner Weisheit und Liebe in der Natur sowohl, wie in den Führungen der Menschen sich offenbaren, und sie daher, wenn auch in geringerem Grade, gleichfalls der Schauplatz Seiner Gottesherrlichkeit ist; - noch bei Jerusalem, denn sie ist eines großen Königs, nämlich Gottes, Stadt, der Herr hat Zion erwählet und hat Lust, daselbst zu wohnen (Ps. 48,2; 132,13.); - auch sollst du nicht bei deinem Haupte schwüren; denn du vermagst nicht ein einiges Haar weiß oder schwarz zu machen, du bist in jeder Beziehung so sehr von Gott abhängig, daß du gar nichts an dir und um dich besitzest, was nicht Sein Eigenthum und Besitzthum wäre; du bist in jeder Beziehung so schwach und ohnmächtig, daß du auch nicht die geringste Veränderung in deinem Wesen hervorzubringen vermagst. – Damit jedoch gar kein Bedenken und Mißverstand obwalte, wie Jesus es wolle verstanden wissen, fügt Er zu der abweisenden Erklärung die auslegende hinzu, und erläutert die innere, wahre Beschaffenheit unserer Schwüre: Eure Rede aber sei ja, ja; nein, nein, d.h. die einfache Versicherung der Wahrheit muß bei euch ausreichen, euer Ja muß Eideskraft haben, jedes Wort eures Mundes muß eure unbedingte Wahrhaftigkeit ausprägen und enthalten; wie Wahrheit das Grundgesetz eures Wesens sein soll, so muß sie auch in der Einfachheit eurer Worte sich äußern. Ja, um gar keine andere Auslegung aufkommen zu lassen, schließt Jesus das Ganze mit den bestimmten, unmißverstehbaren Worten: Was darüber ist, das ist vom Uebel, d.h. doch wohl ganz klar: ihr dürft nicht mehr reden, als Ja, wenn die Sache Ja, und Nein, wenn die Sache Nein ist; es ist Alles darin enthalten, und zur Ueberzeugung Anderer, zur Erweckung ihres Glaubens an eure Aussagen vollkommen genug. Fassen wir die Erklärung Christi auf, wie sie vorliegt, so können wir nicht anders, wir müssen sagen: Jesus hat in diesen Worten ausdrücklich jeden Eid als unstatthaft für Seine Jünger, als verwerflich im Reiche Gottes verboten.

Gegen diese Erklärung hat man sich nun oft gesträubt, und eingewandt: Jesus habe nur den Eid bei den Creaturen, nicht aber den Eid bei Gott verboten; Er nenne nicht einmal den Eid bei Gott, sondern als verwerflich nur den Eid beim Himmel, bei der Erde, bei Jerusalem und dem Haare. Allein dieser Einwand wird auf’s Entschiedenste widerlegt durch den doppelten bestimmten Gegensatz im Texte. Jesus sagt nicht: “Ich sage euch, daß ihr nicht schwören sollt beim Himmel, bei der Erde, bei Jerusalem; bei Gott aber dürft ihr schwören;” – nein, Sein Gegensatz lautet: “Eure Rede aber sei Ja, ja; nein, nein; was darüber ist, das ist vom Uebel.” Jesus sagt nicht: “Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst keinen falschen Eid thun; ich aber sage euch: Wahr dürft ihr schwören bei Gottes Namen;” – sondern Er sagt: Ihr sollt überhaupt nicht schwören; denn auch eure Ausflüchte mit dem Schwören bei den Creaturen helfen euch nichts, sie sind wahrhaft und wesentlich auch Schwüre bei Gott; eure Rede soll überall nur Ja sein. – Man hat ferner dagegen eingewandt: es sei die Absicht des Herrn in der Bergpredigt, zu zeigen, wie Er nicht gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen; mit dem Verbote des Eides aber würde Er dann gerade das ausdrückliche Gesetz Gottes im Alten Bunde aufgelöst haben. Aber auch dieser Einwand ist, näher beleuchtet, nur Schein. Wie es sich verhält mit dem Verbot der Ehescheidung gegenüber dem alttestamentlichen Gesetz: “Wer sich von seinem Weibe scheidet, der soll ihr geben einen Scheidebrief;” wie es sich verhält mit dem Gebote, nicht zu widerstreben dem Uebel, gegenüber dem alttestamentlichen Gesetze: Auge um Auge, Zahn um Zahn; so verhält es auch sich mit dem Gebote, nur Ja und Nein zu sagen, gegenüber dem alttestamentlichen Gesetze vom Eide. Jesus hebt nur das Mangelhafte und Unvollkommene auf, welches bei der Unmündigkeit Israels in der alttestamentlichen Erziehung mußte gestattet bleiben, weil Gott den Knechten in Seinem Hause noch nicht zumuthen konnte, was Vorrecht Seiner Kinder war; befestigt, bestätigt, verklärt, erweitert dagegen das jenem Mangelhaften zu Grunde liegende Gute, und erhebt den unvollkommenen Durchgangspunkt zu seinem vollkommenen Ziele. Das alttestamentliche Gesetz vom Eide konnte gar nicht besser erfüllt werden, als wenn jedes Wort des Christen ein Eid wurde, jedes Wort so wahr, so in der Gegenwart Gottes gesprochen, daß es unbedingt Glauben verdiente; die Form des Eides war dann allerdings abgeschafft, aber das Wesen und der Zweck des Eides war auf’s Glänzendste erreicht. Wie herrlich müßte eine Gemeinde sein, in der jede Aeußerung zuverlässig wäre, daß es der besondern Betheurung bei Gott vor der Obrigkeit nicht erst bedürfte, um hinter die Wahrheit zu kommen! Wie herrlich, wenn jedem einzelnen ihrer Mitglieder die Ehrlichkeit aus dem Gesichte strahlte, und man von vorn herein wüßte: was Jener mir sagt, das ist mir so gewiß, daß ich darauf Häuser bauen kann, so gewiß, als wenn es Gott selbst zu mir vom Himmel herab gesprochen hätte!

Auf diese Weise faßten auch die Apostel des Herrn Worte auf, denn also schreibt Jacobus in seinem Briefe: “Vor allen Dingen aber, meine Brüder, schwöret nicht, weder bei dem Himmel, noch bei der Erde, noch mit keinem andern Eide. Es sei aber euer Wort ja, das ja ist, und nein, das nein ist, auf daß ihr nicht in Heuchelei fallet.” (5,12.) Bestimmter und deutlicher konnte man wohl nicht reden. – Auch die ganze alte Kirche sprach sich überwiegend gegen den Eid aus, und erlaubte ihn nur mit Rücksicht auf die Schwächere und den Schwächeren. – Selbst edle Heiden im Alterthume (So z.B. zahlte Clinias, ein Pythagoräer, als er durch einen Eid dem Verluste einer großen Summe Geldes hätte entgehen können, lieber das Geld, als daß er schwur, obgleich er nichts als die Wahrheit würde beschworen haben.) haben sich gegen denselben gesträubt, und es liegt in jedem Menschen ein Schauer und eine Abneigung gegen diese Art, die Wahrheit zu versichern. Ich bitte euch, was setzt denn ein Eid beim gegenwärtigen und allwissenden Gott voraus? Er setzt nichts Geringeres voraus, als die Unwahrhaftigkeit und Lügenhaftigkeit des Schwörenden, als den Unglauben und das Mißtrauen Anderer gegen seine Worte; ein Mißtrauen, welches so groß ist, daß es nur glaubt, wenn der Andere nicht mehr allein steht bei seinen Aussagen, sondern Gott, den gerechten Richter, als Zeugen seiner Worte herbeiruft. Sind das aber nicht fürchterliche Voraussetzungen? Würdigen sie nicht, wir wollen nicht sagen, die menschliche Natur, - denn die ist eine gefallene, und die Schrift sagt, daß alle Menschen von Natur Lügner sind (Jer. 9,4. 7,17.), - aber die wiedergeborene, christliche Natur furchtbar herab? und widerstreben sie nicht der wahren christlichen Liebe, die von ihrem Nächsten Alles glaubt und hofft, die ihn immer für besser hält, als sich selbst? widerstreben sie nicht dem Gefühl des Glaubens und des Zutrauens gegen Andere, welches Gott uns Allen anerschaffen hat, und welches durch das Christenthum nur noch mehr gesteigert und geheiligt wird? – Ja, was gelobt solch’ ein Eid beim heiligen und gerechten Gott? Er gelobt, daß seine Aussage wahr sei, so wahr ihm Gott helfe durch sein heiliges Evangelium; daß er mithin, wenn er falsch schwöre, aller göttlichen Hülfe im Leben und im Sterben entsage; daß dann Gott ihn nicht hören solle, wenn er zu Ihm rufe, ihn schlagen, wenn er seufze, sein spotten, wenn er weine, ihm Steine geben, wenn er um Brodt bitte, ihm Fluch schicken, wenn er Segen erflehe; daß jeder Tropfen des Blutes Jesu Christi, das er mit Füßen getreten, zur Rache kommen möge über ihn und seine Kinder; daß das Evangelium nur Spieße und Nägel, nur Blitz und Donner für ihn haben, das Gebet sich ihm im Munde in Verwünschung verwandeln, und das heilige Abendmahl ihm nichts als Gericht und Verdammniß verkündigen möge; er gelobt, daß er der Seligkeit für immer und ewig entsage, wenn er falsch schwöre: und kann das ein Christ? kann, darf er je der Seligkeit entsagen, je Gottes Gnade sich wegsprechen, ohne zu freveln und sich selbst zu hassen? – Endlich: was wird erreicht und was ist erreicht worden durch die vielen Eide? Lehrt nicht die Erfahrung, daß alle Eide nichts helfen, wo die Treue fehlt, daß es meist zeitliche Nachtheile allein sind, die vom Meineide abhalten? Lehrt nicht die Geschichte der letzten Jahrzehnte, daß mit dem Eide der Treue von Seiten der Unterthanen gegen ihre Obrigkeit wahrhaft ist gespielt und geschworen und wiedergeschworen worden demjenigen, der die Macht in Händen hatte, mochte er das Recht besitzen oder nicht? Es ist wahr, daß selbst beim Ungläubigen und Gottlosen ein gewisser Glaube an Gott immer noch zurückbleibt, daß er diesen Glauben nicht wegspotten und wegvernünfteln kann, und daß darum auch dem rohesten Menschen eine Furcht vor Gott, vor Strafe, vor Ewigkeit unauslöschlich eingegraben ist; aber setzt sich der Gewissenlose nicht selbst über diese Furcht hinweg, und weiß sich auch abzufinden mit seinen Gefühlen und Regungen? Der Eid ist nur ein nothwendiges Uebel, wie es die Ehescheidung ist in der Welt; er ist nicht etwas Böses, Sündhaftes, Gottloses und Lästerliches, aber er ist an der Sünde, er ist um der Sünde willen da, er ist eine Handlung, die nur durch die Unvollkommenheit und Unwahrhaftigkeit der Menschen nothwendig gemacht wird. Ließe sich ein Staat denken, der aus lauter wahren Christen bestände, so würde er des Eides gar nicht mehr bedürfen. Im Himmel wird kein Eid mehr geschworen. So viel das Reich Gottes in der Welt siegt, so viel wird der Eid in seiner Bedeutung und Nothwendigkeit verlieren; so viel das Reich des Satans herrscht, so viel wird er sich geltend machen und erhalten. Da, wo und sobald das Neue Testament wahrhaft Neues Testament geworden ist, hören die Eide auf. Darum sagt auch der Brief an die Hebräer bedeutungsvoll: Der Eid macht ein Ende alles Haders; da aber der Hader nur der Welt, nicht dem Christenthume und dem Reiche Gottes angehört, so ist klar, daß er in demselben völlig unzulässig ist; und noch feiner und weiser setzt derselbe Brief hinzu: die Menschen schwören, - nicht wir (Christen) schwören (Vergl. v. Meyer, Blätter für höhere Wahrheit, X. 391.).

Es fragt sich nur: Wie haben wir nun die Stellen der Schrift zu deuten, in denen doch geschworen wird, nicht nur von den heiligen Menschen, sondern von Gott und Christus selber? Die Antwort ist die: Wenn Gott schwört, so geschieht es nur aus Herablassung zu der Schwachheit der Menschen; Er, der Allwissende, kannte den bei aller angeborenen Glaubensfähigkeit doch immer herauftauchenden Unglauben unserer Natur; Er wußte, wie wir sogar Seinen bestimmtesten Zusagen und Verheißungen unsern Beifall versagen, wie der veränderliche Mensch selbst den Unveränderlichen für veränderlich zu halten geneigt ist. Darum fügte Er, in unendlicher Erbarmung und Herablassung zu unserer Schwäche, im Alten Testamente den Schwur bei Sich selbst, dem Unveränderlichen, und im Neuen Testamente die That der Liebe, die Sendung und den Tod Seines Sohnes, hinzu, um uns ein Herz und einen Muth zu machen, Ihm Alles auf’s Wort zu glauben. Wenn Christus schwört vor dem Hohenpriester, als dieser Ihn fragte: “Ich beschwöre Dich bei dem lebendigen Gott, daß Du uns sagest, ob Du seiest Christus?” so antwortete Er, Seiner Texterklärung gemäß, nur: “Ja, Du sagst es, ich bin’s!” – nichtsdestoweniger gelten Seine Worte für einen Eid, und sollten dafür gelten, zum Zeichen, daß Er nichts verabsäumt, daß Er sich bis zu den Unvollkommenheiten aller menschlichen Verhältnisse herabgelassen habe, um die Menschen von Seiner Gottheit und Herrlichkeit vollkommen zu überzeugen. Wenn Paulus endlich öfter in seinen Briefen Betheuerungen anführt, wie: “Ich sage die Wahrheit und lüge nicht,” (Gal. 1,20. 2. Cor. 11,31. Röm. 9,1.) oder: “Gott ist mein Zeuge,” (Röm. 1,9. Phil. 1,8. 1. Thess. 2,5.10.) “bei unserm Ruhm, den ich habe in Christo Jesu,” (1. Cor. 15,31.) “ich rufe Gott zum Zeugen an,” (2. Cor. 1,23.) “ich beschwöre euch beim Herrn,” (1. Thess. 5,27.): so sind offenbar alle diese Stellen nicht eidliche Schwüre vor der Obrigkeit, nicht Verpfändungen seiner Seele und Seligkeit, nicht Verzichtleistungen auf die Gnade Gottes, sondern nur starke Darlegungen seines Eifers, seiner Liebe, seiner Hingebung im Dienste, aus dem Bewußtsein der innern Wahrheit und dem Drange des in Gottes Gemeinschaft lebenden Herzens hervorgegangen, und dieses Bewußtsein konnte der Apostel einsetzen, über dasselbe hatte er Macht. Seine Worte sagen nicht mehr aus, als wenn er in seiner glühenden Liebe zu Israel wünscht, verbannt zu sein von Christo für seine Brüder (Röm. 9,3.), oder als wenn der Herr zur Hervorhebung der Wichtigkeit einer von ihm verkündigten Wahrheit hinzufügt: “Wahrlich, wahrlich, ich sage euch.”

II.

Was wollen wir nun aber hieraus folgern, meine Lieben? Wollen wir daraus folgern, daß fortan alle Eide aufgehoben werden müssen? Mit nichten, so wenig wie wir das letzte Mal die Aufhebung aller Ehescheidungen haben fordern können. Wie die Ehescheidungen in der Welt, die im Argen liegt, so lange fortdauern müssen, als ihre Gründe und Veranlassungen anhalten: so müssen auch die Eide erhalten werden, so lange als die Ursachen derselben, als Processe, Vergehen und Verbrechen ihren Gang gehen; für den gegenwärtigen, unvollkommenen Zustand der sichtbaren Kirche Christi auf Erden ist und bleibt der Eid eine Noth- und Hülfsanstalt, um der Herzenshärtigkeit der Menschen willen und um ein größeres, wirkliches Uebel zu verhüten, um zu irgend einer Sicherheit des Verkehrs in dieser Welt der Lüge, der List, der Falschheit und Treulosigkeit zu gelangen. So lange noch nicht das Reich Gottes gekommen ist, in welchem Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen, so lange muß der Wahrhaftige schwören, um den Unglauben Anderer zu überwinden, und der Unwahrhaftige schwören, um dadurch Glaubwürdigkeit zu erhalten. Auch der gläubige Christ hat, weil er allezeit noch der Welt angehört, keinen Grund, wie die Welt jetzt beschaffen ist, die Eidesleistung abzulehnen. Wie sein Herr vor der Obrigkeit den Schwur ablegte, so legt auch er ihn ab vor der Obrigkeit, wenn er gefordert wird; freilich mit schüchternem Herzen, mit gebrochener, betender Seele, mit dem Wunsche und Seufzer, daß es besser wäre, wenn er zu solchem Mittel nicht zu greifen brauchte. Er legt ihn ab, wenn, wie Luther sagt, es die Liebe, die Noth, der Nutzen des Nächsten oder Gottes Ehre geschieht. So wird er, nach dem apostolischen Ausdrucke, in dieser Welt der bürgerlichen Verfassungen, die, um der Menschen Sünde willen, noch auf dem alttestamentlichen Fuße stehen, den Juden ein Jude, um nirgends durch ein absonderliches Wesen Anstoß und Aergerniß zu geben.

Aber von der andern Seite, wie wir das letzte Mal auf’s Allerernstlichste größere Heilighaltung der Ehe und Verminderung der Ehescheidungen wünschen mußten, so müssen wir auch beim Eide wünschen, daß die Ableistung desselben immer seltener und immer feierlicher werden möge. Auch in diesem Stücke ist unsere Zeit tief, tief verfallen. In wahrhaft schaudervollem Grade hat die Geringschätzung des Eides zugenommen, und man weiß kaum noch, ob man mehr schaudern soll über den Leichtsinn, mit welchem in unseren öffentlichen Gerichtsstuben der Eid abgenommen, oder über die Gedankenlosigkeit, mit welcher er geleistet wird. Nicht nur, daß die unbedeutendsten Klagepunkte, ohne erst genauern Untersuchungen und Zeugenvernehmungen zu unterliegen, sofort zur Eidesleistung gemißbraucht werden: die Eidesleistung selbst geschieht so schnell und leichtfertig, so ganz ohne Sammlung und Besinnung, wie das alltäglichste weltliche Geschäft. Statt dem Schwörenden vorher die Wichtigkeit und Verantwortlichkeit seiner Aussage klar zu machen und seinem Gewissen einzuschärfen; statt den Inhalt der Eidesformel ihm vorher nochmals mitzutheilen und zu erläutern, wird nur geeilt, daß die Sache in wenigen Minuten beendigt und abgemacht sei. Von einem eigenen Eideszimmer, von einer Bibel, von einem Gebet, von einer Erinnerung überhaupt ist gar nicht die Rede. Geht es noch länger so fort, wie es gegenwärtig im schlechtesten Zuge ist, so wird bald Menschenleben, Eigenthum und guter Name jeden rechtlichen Schutz und jede Sicherheit verloren haben. Erscheinen doch Vielen jetzt schon die geschworenen Eide wie ein werthloses Spielwerk. Daß Gott sich unserer erbarme, meine Brüder! Da die Eide in der Welt leider unentbehrlich sind, um Recht und Gerechtigkeit zu handhaben, Ehre und Eigenthum zu schützen, die Ruhe der Völker und der Einzelnen sicher zu stellen und die treue Verwaltung der Aemter zu fördern, daß sie doch wenigstens seltener und feierlicher abgehalten würden, damit Richter und Schwörende wüßten, was sie thäten, vor wem sie ständen, welche Folgen sie über sich herabriefen, wenn sie die Unwahrheit betheuerten! – In guter Meinung hat man manchmal die Allgemeinheit und Vervielfältigung der Eide gefordert und gemeint, der Eid sei gleichsam ein Gebet, ein Gottesdienst vor dem Herrn. O daß er nur Gebet, daß er Gottesdienst wäre! Aber leider, er ist es nicht. Fragt nur in unsern Gerichtsstuben, ob den Schwörenden auch nur ein Gedanke an Gebet, ein Gedanke an Gottesdienst beikommt? Aber der Eid ist auch in seiner heiligsten Gestalt nicht mit dem Gebete zu vergleichen. Das Gebet ist ein Gnadenmittel, das Gebet ist der tägliche, rechte Verkehr mit dem Herrn, das Gebet wird auch unabhängig von der Sünde bleiben, noch im Himmel und in alle Ewigkeit unsere seligste Beschäftigung sein, das Gebet ist der Himmel auf Erden und der Himmel im Himmel: das Alles aber ist der Eid nicht; er ist Gegenstand der Furcht und Zeichen der Furcht, Beben vor Gott und Seinem Gerichte; darum ist er ein unnatürlicher Zustand; ein Zustand, der nur eintritt, wenn die Sünde der Menschen ihn hervorruft; ein Zustand des Alten Testaments, der in der Zeit des Neuen Testaments so selten wie möglich und so feierlich wie möglich herbeizurufen ist; nur dann herbeizurufen ist, wenn die alte Zeit des Zorns und Gerichts in der neuen Zeit der Gnade wiederkehrt.

Wenn aber der Herr schon den Eid vor der Obrigkeit nur zuläßt um der Herzenshärtigkeit willen: wie wird Er dann erst zürnen müssen über die leichtfertigen, gedankenlosen Betheuerungen im gewöhnlichen Leben, über die schamlosen Entweihungen und Anwendungen des göttlichen Namens bei jeder Kleinigkeit! Auch da gilt es: ”Eure Rede sei ja, ja; nein, nein; was darüber ist, das ist vom Uebel.” Wahrlich, wer allezeit in der Gegenwart Gottes wandelt, wer Ihn immer vor Augen und im Herzen hat, wird allerdings oft an Ihn denken, oft von Ihm reden, aber niemals ohne tiefes, heiliges Gefühl der Anbetung und der Ehrfurcht Seinen heiligen Namen über die Lippen nehmen. – Noch mehr. Wenn Jesus schon den Eid vor der Obrigkeit nur zuläßt um der Sünde willen, wie wird Er dann erst zürnen müssen über jede Unwahrhaftigkeit und Lüge, Falschheit und Verstellung, wo sie sich offenbart! Auch da gilt es: ”Eure Rede sei ja, ja; nein, nein; was darüber ist, das ist vom Uebel.” Dem innern Ja eures Herzens entspreche immer ein äußeres Ja eures Mundes, damit ihr Zutrauen verdienet bei Jedermann, und bei euch ein Wort ein Wort und ein Mann ein Mann sei und bleibe immerdar. Ihr wißt, wie auch an andern Stellen Jesus und die Apostel auf innere Wahrhaftigkeit dringen, wie sie sagen: “Die Menschen müssen Rechenschaft geben am jüngsten Gericht von einem jeglichen unnützen Worte, das sie geredet haben. Darum leget die Lügen ab und redet die Wahrheit; ein Jeglicher mit seinem Nächsten, sintemal wir untereinander Glieder sind. Die Frucht des Geistes ist allerlei Gütigkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit. Wer auch in keinem Worte fehlet, der ist ein vollkommner Mann. Laßt uns wandeln nicht im Sauerteige der Bosheit und Schalkheit, sondern im Süßteige der Lauterkeit und Wahrheit.” (Matth. 12,36. Eph. 4,25. 5,9. 6,14. Jac. 3,2. 1. Cor. 5,8.) O darum seid allezeit wahr; wahr gegen Andere, daß sie euch immer in’s Herz sehen und auf eure Redlichkeit und Treue sich felsenfest verlassen können; denn ach, wie viel Maskenspiel herrscht, bewußt und unbewußt, in unserm gesellschaftlichen Verkehr mit Andern, als ob wir auf der Bühne spielten! Wie viele Betheuerungen gegenseitiger Liebe und Achtung, von denen das Herz nichts weiß! Wie viele Entschuldigungen vor Menschen, die Beschuldigungen sind vor Gott! Wie viel Lüge und Unwahrheit aus Menschenfurcht und Menschengefälligkeit! Seid wahr gegen euch selbst, und hütet euch vor jeder Selbsttäuschung; denn wer sich selbst belügt, steht in der größten Versuchung, bald auch Andere zu belügen; und ach, wie geflissentlich fliehen wir in der Regel jede Selbstprüfung und Selbsterkenntniß; wie verkehrte Maßstäbe legen wir an, Menschenurtheile statt Gottes Wort, um nur nicht mit uns auf das Reine zu kommen! wie wahr steht noch immer das alte Wort da: “Gott schuf den Menschen aufrichtig; aber sie suchen viele Künste.” (Pred. 7,30.) Seid vor Allem wahr gegen Gott in eurem Gebete: o wie oft heuchelt der Mensch Gefühle und Gesinnungen vor dem Herrn, die er nicht hat; wie oft betet er das Unser Vater, und bittet darin gerade das Gegentheil von dem, was er will und was er thut! Hütet euch vor dem Sauerteige der Pharisäer und Schriftgelehrten, vor ihrer Falschheit und Heuchelei, und wisset: in’s Reich Gottes geht nichts hinein, das da Gräuel thut und Lügen, sondern nur die da geschrieben sind in dem lebendigen Buche des Lammes. (Offbg. 21,23.)

O Herr, hilf uns, daß alle unsere Worte wahr seien, alle unsere Worte Eide, vor Dir und im Bewußtsein Deiner Gegenwart gesprochen. Mache unsere Herzen wahr; dann werden auch unsere Worte wahr sein. Amen.

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