Anselm von Canterbury - Des heiligen Anselmus Selbstgespräch.

Inhaltsverzeichnis

Anselm von Canterbury - Des heiligen Anselmus Selbstgespräch.

Vorwort.

Nachdem ich, dazu gezwungen durch die Bitten einiger Brüder, ein kleines Werk, als ein Beispiel, wie über den Grund des Glaubens zu betrachten sei, herausgegeben hatte, in welchem einer schweigend und in sich mit der Vernunft nach Dingen forscht, die ihm unbekannt sind, und als ich dann gewahrte, wie dieses Werk durch die Zusammenfügung vieler Beweise aufgebaut sei: da fing ich an, bei mir selbst nachzudenken, ob sich nicht ein einziger Beweis finden ließe, der keines andern, als sich selbst nötig hätte, um sich zu bewähren, und der allein hinreichte, um darzutun: dass Gott in Wahrheit sei, und dass Er das höchste Gut sei, Das keines andern bedarf, und Dessen alle Dinge, auf dass sie seien und recht seien, bedürfen, so wie alles Übrige, was wir von dem Wesen Gottes glauben. Wie ich nun oft und fleißig darüber nachdachte, kam es mir bisweilen vor, als hielt ich schon was ich suchte, bald aber wieder, als sei es dem Kreise des Denkens völlig entschwunden. Ich gab endlich alle Hoffnung auf, und wollte davon, als von dem Forschen nach einer Sache, die zu finden unmöglich ist, abstehen. Indem ich aber diesen Gedanken gänzlich aus mir verbannen wollte, damit er meinen Geist nicht vergebens abmüde, und an anderen Gedanken, die meinem Heile zuträglich wären, verhindere: eben da begann er dem Unwilligen und seiner sich Erwehrenden immer mehr und mehr, mit Ungestüm sogar sich aufzudringen. Eines Tages nun, wo ich eben von dem Widerstreben gegen dies Andringen äußerst abgemattet war, bot sich mir das, was ich zu finden keine Hoffnung mehr hatte, mitten in dem Streite der Gedanken also dar, dass ich freudig ergriff, was ich kurz vorher sorgfältig abgewehrt hatte. Ich freute mich also, und in der Meinung ich hätte, wenn diese Schrift etwa einem Leser gefallen sollte gefunden, was ich suchte, schrieb ich über den oben erwähnten Gegenstand und über einiges Andere folgendes Werkchen, in welchem einer es unternimmt, sein Gemüt zur Betrachtung Gottes zu erheben, und das, was er glaubt, zu verstehen trachtet. Und weil ich weder dieses noch das andere Werk, wovon ich oben sagte, der Benennung eines Buches wert hielt, noch dass ihnen der Name des Autors vorgesetzt werde; doch aber meinte, dass ich sie nicht ohne allen Titel, der den, welchem sie in die Hände fallen, vielleicht sie zu lesen bestimmen könnte, in die Welt schicken sollte: so gab ich einem jeden einen eigenen Titel. Das erste ward genannt: Beispiel der Betrachtung über den Grund des Glaubens; das andere: Der Glaube, welcher zu verstehen strebt. Da sie aber beide schon von Vielen mit diesen Titeln abgeschrieben waren, nötigten mich Mehrere, und vorzüglich der ehrwürdige Erzbischof von Lyon mit Namen Hugo, welcher das Amt eines apostolischen Legaten in Frankreich versieht, und mir es Kraft seiner apostolischen Gewalt auftrug, dass ich ihnen meinen Namen vorsetze. Und damit dies füglicher geschehen könnte, nannte ich jenes: Monologion, das ist: Alleingespräch, dieses aber: Prosologion, das ist: Selbstgespräch.

Erstes Kapitel. Aufforderung an den Geist Gott zu betrachten.

Auf nun armseliger Mensch! entziehe dich eine kleine Weile deinen Beschäftigungen; verbirg dich ein wenig vor deinen lärmenden Gedanken! Wirf nun ab deine lastenden Sorgen, und setze deine mühevollen Arbeiten bei Seite. Nimm dir etwas Muße für deinen Gott, und ruhe ein wenig in Ihm. Gehe in das Kämmerlein deines Herzens; schließe alles hinaus außer Gott, und was dir helfen kann, Ihn zu suchen, und nach verschlossener Türe suche ihn. Sage alsdann: Auf! o mein ganzes Herz! sprich dann zu Gott: Ich suche dein Angesicht! Dein Angesicht, HErr! verlange ich! Eja! Du mein HErr und mein Gott! so unterweise nun mein Herz, wo und wie es Dich suchen, wo und wie es Dich finden soll. Wenn du hier nicht bist, HErr! wo soll ich Dich Abwesenden suchen? Wenn du aber überall bist, warum sehe ich Dich Anwesenden nicht? Freilich wohnst du im unzugänglichen Lichte. Und wo ist das unzugängliche Licht? Oder wie gehe ich zu dem Lichte, das unzugänglich ist? Oder wer wird mich leiten und einführen in dasselbe, dass ich darin Dich sehe? Und dann welches sind die Zeichen, welche ist die Gestalt, nach der ich Dich suchen soll? Ich sah Dich nie mein HErr und Gott! ich kenne dein Antlitz nicht. Was soll er beginnen, der fern von Dir Verwiesene? Was soll er beginnen, o höchster HErr! Was soll er tun Dein Diener, geängstigt von Liebe zu Dir und weit hinweg geschleudert von Deinem Angesichte? Er sehnt sich Dich zu sehen; doch fernab ist Dein Antlitz. Er verlangt zu Dir zu gehen; doch unzugänglich ist Deine Wohnung. Er begehrt Dich zu finden, und weiß nicht, wo Du bist. Er wünscht Dich zu suchen, und kennt Dein Angesicht nicht. HErr! Du bist mein Gott, und Du bist mein HErr! und nie habe ich Dich gesehen. Du hast mich gemacht und erneuert, und was ich habe, hast Du mir gegeben, und noch kenne ich Dich nicht. Ich bin ja doch geschaffen, um Dich zu sehen, und noch ward mir nicht, weswegen ich erschaffen wurde! O elendes Los des Menschen! da er das verlor, weswegen er erschaffen ward. O ein schweres, ein großes Unglück ist dieses! Ach! was hat er verloren, und was gefunden? Was hat er weggeworfen, und was ist ihm geblieben? Er hat verloren die Seligkeit, für die er geschaffen ist, und hat das Elend gefunden, für das er nicht geschaffen ward. Weggeworfen hat er das, ohne welches kein Glück besteht, und geblieben ist ihm, was in sich lauteres Elend ist. Damals aß der Mensch das Brot der Engel, nach welchem er nun hungert: nunmehr isst er das Brot der Schmerzen, das damals ihm unbekannt war. O allgemeine Trauer der Menschen! O gemeinsame Klage der Söhne Adams! Dieser gähnte vor Sattheit; wir stöhnen vor Hunger. Er hatte Überfluss; wir betteln. Er war im glücklichen Besitze, und elendiglich verließ er ihn; wir sind in unglücklicher Not und flehen erbärmlich, und - ach! bleiben leer. Warum hat er uns nicht, was er so leicht gekonnt hätte, vor so hartem Mangel bewahrt? warum uns also das Licht entzogen, und uns in die Finsternisse geführt? Warum hat er uns das Leben geraubt, und den Tod über uns gebracht? O wir Schmerzbeladenen! Von wo wurden wir vertrieben, und wohin wurden wir verwiesen? Und wohinab wurden wir gestürzt? Wohin vergraben? Aus dem Vaterlande ins Elend; von der Anschauung Gottes in unsere Blindheit; von dem Genusse der Unsterblichkeit in die Bitterkeit und den Schauder des Todes! O jämmerlicher Rausch eines so großen Gutes für so großes Übel! Beweinenswert ist der Verlust! beweinenswert der Schmerz! - alles ist beweinenswert! Aber ach, ich Armseliger! der auch ich einer bin aus diesen von Gott entfernten, elenden Kindern Evas, was habe ich selbst begonnen? was habe ich selbst getan? wonach habe ich gestrebt? wohin bin ich geraten? wonach habe ich verlangt? wo ist's, dass ich seufze? - Das Gute habe ich gesucht, und sieh, hier ist Trübsal; nach Gott habe ich gestrebt, und an mir selbst bin ich gescheitert; Ruhe suchte ich in meinem Innern, und Verstörung und Schmerz fand ich in mir; lachen wollte ich aus meines Herzens Freude, und ich werde gezwungen in der Angst meiner Seele zu brüllen; ich habe Freudigkeit gehofft von dem, was nun mein Seufzen mehrt. Und Du, o HErr! wie lange noch? HErr! wie lange noch wirst Du unserer vergessen? wie lange noch wendest Du dein Antlitz von uns ab? Wann wirst Du uns gnädig ansehen und uns erhören? Wann wirst Du erleuchten unsere Augen, und uns Dein Angesicht zeigen? Wann wirst Du Dich uns zurückgeben? Schau auf uns, HErr! erhöre, erleuchte uns! und zeige uns Dich Selbst! Gib Dich uns wieder, auf dass uns wohl werde, die wir ohne Dich höchst elend sind. Erbarme Dich unseres Ringens und Strebens nach Dir, die wir ohne Dich nichts vermögen. Du forderst uns auf, also hilf uns! Gib, o Herr! dass ich nicht in Leid verzweifle, sondern in Freude wieder hoffe. Sich HErr! verbittert ist mein Herz durch seine Trostesleere; versüße es mit Deiner Trostesfülle. Verleihe mir, HErr! der ich hungernd Dich zu suchen begann, dass ich nicht nüchtern davon abstehe, dass ich nicht ungespeist umkehre, der ich ausgehungert mich genaht. Ein Armer, kam ich zu dem Reichen, ein Leidender zu dem Mitleidigen; lass mich nicht zurückgehen von Dir leer und verschmäht. Und soll ich leiden, ehe Du mir Speise gibst; so gib doch nach den Leiden, dass ich esse. HErr! gebeugt kann ich nur nach unten sehen; richte mich auf, dass ich in die Höhe zu schauen vermöge. Meine Missetaten, die über mein Haupt gestiegen, umwölken mich, und lasten auf mir, wie eine schwere Last. Reiß mich heraus! entbürde mich! dass ihr Gewölke sich nicht über mir entlade. Vergönne, dass dein Licht ich ahne, wenn auch nur in weiter Ferne, oder tief aus der Tiefe, Unterweise mich, wie ich Dich suchen soll, und zeige Dich dem Suchenden; denn weder suchen kann ich Dich, wenn Du es nicht lehrst, noch Dich finden, wenn Du Dich nicht zeigst. Ich will Dich suchen, indem ich nach Dir verlange. O dass ich nach Dem verlange, Den ich suche! Ich werde Dich finden, da ich Dich liebe. O dass ich Ihn liebte, den ich finden will! Ich bekenne es, HErr! und preise Dich, dankend dass Du in mir Dein Ebenbild erschaffen hast, auf dass ich Deiner eingedenk sei, den Gedanken zu Dir wende, Dich liebe! Aber so sehr ist dies Bild durch das Gift der Laster verderbt, durch den Rauch der Sünde so sehr entstellt, dass, wofern Du nicht es erneuerst und wiederherstellst, es nicht erfüllen kann, zu was es bestimmt ist. Ich wage es nicht, o HErr! Deine Liebe zu ergründen; denn wie reichte mein Verstand dazu hin? - sondern in etwas nur verlange ich Deine Wahrheit zu verstehen, die mein Herz glaubt und liebt, und nicht um zu glauben suche ich, sondern ich glaube, auf dass ich verstehe, und auch dies glaube ich, dass wofern ich nicht glaube, ich auch nicht verstehen werde.

Zweites Kapitel. Dass Gott wirklich sei, obschon der Tor in seinem Herzen sagt: Es ist kein Gott.

Du also, HErr! Der Du zu dem Glauben das Verstehen verleihst, Du, welcher weiß, was mir frommt, gib, dass ich verstehe, dass Du bist, wie wir es glauben, und dass Du bist, was wir glauben.

Wir glauben nämlich: dass Du etwas seiest über das nichts Höheres gedacht werden kann. Gibt es nun etwa nichts Solches, weil der Tor in seinem Herzen sagt: es ist kein Gott? Aber derselbe Tor, er versteht ja, was er hört, wenn ich nämlich sage: Etwas, über das nichts Höheres gedacht werden kann; er versteht was er hört, und was er versteht, das denkt er auch, wenn er auch nicht anerkennt, dass es wirklich vorhanden sei. Denn etwas anderes ist, dass man ein Ding denkt, und etwas anderes, dass man denkt, dies Ding sei wirklich vorhanden. So ein Maler, wenn er das, was er machen will, ausgesonnen hat, so hat er es zwar in seinen Gedanken; aber er weiß auch, dass noch nicht da ist, was er noch nicht gemacht hat: wenn er aber das Bild gemalt hat, so hat er es nun nicht nur bloß im Gedanken, sondern er weiß auch, es sei das, was er bereits gemacht hat, auch wirklich vorhanden. Eben so muss der Tor doch gestehen, dass er wenigstens den Gedanken von etwas, über das nichts Höheres gedacht werden kann, zu denken im Stande sei; denn er versteht es ja, so er es hört, und was man versteht, kann man auch denken. Nun aber kann das, über welches nichts Höheres gedacht werden kann, keineswegs als Gedanke allein bestehen; denn bestände es bloß als ein Gedanke, so könnte man es auch als etwas wirklich Bestehendes denken, und dann stände dieses schon höher als das erste. Wäre nun dieses, über welches nichts Höheres gedacht werden kann, bloß ein Gedankending; so wäre eben dasselbe: über welches nichts Höheres gedacht werden kann, auch das: über welches etwas höheres gedacht, werden kann; - doch gewiss! solches ist unmöglich. Es ist also ohne Zweifel etwas vorhanden, im Gedanken sowohl als in der Wirklichkeit, über Welches nichts Höheres gedacht werden kann.

Drittes Kapitel. Dass nicht gedacht werden könne: Gott sei nicht.

Und dies ist wahrlich so gewiss, dass Gott, nicht seiend, auch nicht einmal gedacht werden kann. Denn es kann etwas als bestehend gedacht werden, welches nicht gedacht werden kann, als nicht bestehend, und dieses ist dann größer, als das, was als nicht bestehend gedacht werden kann. Wenn daher das, über welches nichts Höheres gedacht werden kann, als nicht bestehend sich denken ließe; so wäre ja das, über welches nichts Höheres gedacht werden kann, das nicht, über welches nichts Höheres gedacht werden kann; ein Widerspruch wäre dieses. So gewiss ist es also, dass etwas sei, über welches nichts Höheres sich denken lässt, dass dieses, als nicht seiend nicht einmal gedacht werden kann, und dieses, - O Du unser HErr und unser Gott! dieses bist Du. So gewiss also bist Du, Du mein HErr und mein Gott! dass es nicht einmal sich denken lässt, Du seiest nicht. Und dies mit Recht, denn stände es in der Macht irgend eines Verstandes, etwas zu ersinnen, das besser wäre als Du, so würde ja über den Schöpfer das Geschöpf sich erheben, ja sein Richter sein, welch ein Unsinn! Wahrlich! alles andere, nur Du allein nicht, kann als nicht bestehend gedacht werden: am gewissesten also aus allen andern, und daher auch aus allen anderen am meisten, hast allein Du das Sein; denn was immer sonst noch ist, nicht also gewiss ist es, und weniger hat es daher das Sein. Was tun also sagt der Tor in seinem Herzen: es ist kein Gott, da es einem vernünftigen Gemüte so klar ist, dass Du gewisser vorhanden seiest, als alles andere? Warum anders, als eben weil er ein Tor ist und ein Narr.

Viertes Kapitel. Auf welche Weise der Tor in seinem Herzen sagte, was nicht gesagt werden kann.

Aber auf welche Weise sagte der Tor in seinem Herzen, was er nicht denken konnte, oder wie konnte er nicht denken, was er in seinem Herzen sagte, da es Eines ist: im Herzen sagen, und: denken. Und wenn dieses wahr ist, ja vielmehr, weil es wahr ist, so hat er es ja gedacht, denn er hat es im Herzen gesagt; und doch hat er es wieder nicht im Herzen gesagt, weil er es nicht denken konnte. Aber nicht auf eine einzige Weise wird etwas im Herzen gesagt oder gedacht; denn auf die eine Weise wird ein Ding gedacht, so das Wort, welches das Ding bedeutet, gedacht wird, und auf die andere Weise, so das Ding selbst gemeint wird. Auf jene Weise nun kann Gott wohl als nicht seiend gedacht werden; durchaus aber nicht auf diese. Denn gleichwie Keiner, so er das wirkliche Feuer und das wirkliche Wasser meint, denken kann, das Feuer sei dem Wesen nach Wasser; obschon er es wohl der Benennung nach könnte: also kann auch Niemand, so er Gott wirklich meint, denken: Gott ist nicht; wenn er auch diese Worte in seinem Herzen ohne oder durch ein äußerliches Zeichen sagt. Gott nämlich ist das, über was nichts Höheres gedacht werden kann, und wer dies nun so versteht, der versteht auch: Gott sei auf solche Weise, dass Er auch nicht einmal im Gedanken nicht sein könne. Es kann also der, welcher meint, dass Gott auf diese Art sei, Ihn nicht denken, als etwas das nicht ist. - Dank sei Dir, gütiger HErr! Dank sei Dir! denn was ich ehedem durch deine Gnadengabe glaubte, das verstehe ich nun durch Deine Erleuchtung also, dass, wenn ich auch nicht glauben wollte, dass Du seiest, ich es doch einsehen müsste.

Fünftes Kapitel. Dass Gott alles das sei, was irgend besser ist, dass es sei, als dass es nicht sei, und dass Er das Wesen einzig aus Sich habend, alles aus Nichts erschaffe.

Was also bist Du, mein HErr und mein Gott! über Den nichts Höheres gedacht zu werden vermag? Was bist Du anderes, als das höchste von allen, das Einzige, das aus Sich Selber das Sein hat, und alles andere aus Nichts erschuf? Denn alles, was dieses nicht ist, das könnte größer gedacht werden; - Du aber nicht. Wo ist also ein Gut, das da mangelt dem höchsten Gut, durch Welches alles Gute das Sein hat? Du also bist gerecht, wahrhaft, selig, und was immer besser ist, dass es sei, als dass es nicht sei, denn es ist besser gerecht, als ungerecht, besser selig, als unselig sein.

Sechstes Kapitel. Auf welche Weise Gott Gefühl habe, da Er doch kein Körper ist.

Da es nun besser ist, dass Du mit Gefühl begabt, allmächtig, mitleidig und keinem Leiden unterworfen seiest, als dass Du es nicht seiest; auf welche Weise bist Du fühlend, wenn Du kein Körper bist, oder allmächtig, wenn du nicht alles vermagst, oder mitleidig und zugleich keinem Leiden unterworfen?

Denn, wenn nur was Körper hat, fühlend ist, weil das Gefühl sich an und in dem Körper befindet; wie bist Du fühlend, der Du kein Körper bist, sondern der höchste Geist, vorzuziehen dem Körper. - Wenn aber fühlen nichts anderes ist, als erkennen, oder zum Erkennen führend; (denn wer fühlt, erkennt nach der Eigenheit des Gefühls der Sinne, als, durch das Gesicht die Farbe, durch den Gaumen den Geschmack), so sagt man einigermaßen nicht unfüglich, von dem, der da wie immer erkenne, dass er fühle. Also, mein HErr! obwohl Du kein Körper bist, so bist Du doch wahrlich auf jene Weise, mit der Du alles vollkommen erkennest, nicht auf solche Art, wie der tierische Leib durch die Sinne erkennt, höchst fühlend.

Siebentes Kapitel. Wie Gott allmächtig sei, da Er vieles nicht kann.

Wie aber bist Du allmächtig, da Du nicht alles vermagst? So Du nicht betrügen, nicht lügen, das Wahre nicht falsch, das Geschehene nicht ungeschehen machen kannst, und mehr dergleichen; wie vermagst Du denn alles? Aber solches vermögen ist nicht Macht, sondern Ohnmacht; denn wer dieses kann, der kann was ihm nichts nützt, und was er nicht darf, und je mehr er es vermag, desto mehr vermag die Feindlichkeit und die Bosheit gegen ihn, und er vermag um so weniger gegen sie. Wer also auf diese Weise vermag, der vermag nicht durch Macht, sondern durch Ohnmacht: denn nicht in dem Sinne heißt es: vermögen, als sei er es, welcher vermag; sondern sein Unvermögen macht, dass etwas anderes in ihm vermag; es ist gleichsam nur eine Art zu reden, und wird, wie vieles andere, bloß uneigentlich gesagt. Wie wir zum Beispiele: sein, für: nicht sein, und: tun, für das sehen, was: nicht tun, oder, nichts tun heißen sollte; denn oft sagen wir zu einem, der von irgend etwas behauptet, dass es nicht sei: so ist es, wie du sagst, dass es sei; da viel eigentlicher gesagt schiene: so ist es nicht, wie du sagst, dass es nicht sei. Eben so sagen wir: dieser sitzt, wie es jener zu tun pflegt; oder: dieser ruhet, wie es jener zu tun pflegt: da doch sitzen, nicht etwas tun, und ruhen gar nichts tun ist. Also auch, da es von einem heißt, er habe die Macht zu tun, oder zu leiden, was ihm nicht frommt, oder was er nicht darf; da wird unter Macht: Ohnmacht verstanden; denn je mehr einer diese Macht hat, um so mächtiger sind in ihm die Feindlichkeit und die Bosheit, und um so ohnmächtiger ist er gegen sie. - Darum also, o mein HErr und mein Gott! darum bist Du um so wahrhafter allmächtig, weil Du nichts durch Ohnmacht vermagst, und nichts etwas gegen Dich vermag.

Achtes Kapitel. Auf welche Weise Gott mitleidig und doch keinem Leiden unterworfen sei.

Wie aber bist Du mitleidig, und doch keinem Leiden unterworfen? Denn wenn Du nicht leiden kannst, so kannst Du auch nicht mitleiden, und kannst Du nicht Mitleid tragen, wie kannst Du ein erbarmendes Herz haben, das sich annimmt des Erbarmungsbedürftigen? und dieses ist ja mitleidig sein. Wenn Du aber nicht mitleidig bist, woher kommt denen, welche Erbarmung bedürfen, so großer Trost? Auf welche andere Weise also, o HErr! bist Du mitleidig und bist Du es nicht, als auf diese, dass Du mitleidig bist in Beziehung auf uns, nicht aber leidend bist in Beziehung auf Dich. Du bist es als nach unserem Gefühle, nicht nach dem Deinigen. Denn wenn Du uns Elende gnädiglich ansiehst, so fühlen wir die Wirkung des Mitleids; Du aber fühlst sie nicht. Du nimmst Teil an unseren Leiden, weil Du die Elenden rettest, und derer verschonst, die gegen Dich sündigen; doch nicht nimmst Du Teil an unseren Leiden, als ob irgend ein Leid Dich getroffen hätte.

Neuntes Kapitel. Auf welche Weise der vollkommen und höchst Gerechte der Bösen schone, und dass Er mit Recht Sich ihrer erbarme.

Aber wie schonst Du der Bösen, wenn Du vollkommen und höchst gerecht bist? und wie kann ein vollkommen und höchst Gerechter etwas ungerechtes tun? Denn ist wohl dies gerecht, dem, der den Tod verdient hat, das ewige, immerwährende Leben zu geben? Wie geschieht es also, guter Gott! gut den Guten und den Bösen! wie geschieht es, dass Du die Bösen rettest, wenn dies nicht gerecht ist, Du aber nichts Ungerechtes tust? Ist dies vielleicht - denn unbegreiflich ist Deine Güte! - in dem unzugänglichen Lichte, in dem Du wohnst, verborgen? Wahrlich an dem höchsten und geheimsten Orte Deiner Güte ist verborgen der Born, aus welchem sich der Strom Deiner Barmherzigkeit ergießt! Denn indem Du vollkommen und höchst gerecht bist, so bist Du doch auch gütig gegen die Bösen, weil Du ja auch vollkommen und höchst gütig bist. Denn weniger vollkommen würdest Du sein, wenn Du gegen keinen Bösen gütig wärest, da ja besser ist, wer gegen Gute und Böse sich gütig erzeigt, als wer nur gegen die Guten gütig ist, und besser ist, wer gegen die Bösen im Strafen und im Verschonen gütig, als wer es im Strafen allein ist. Darum also bist Du barmherzig, weil Du vollkommen und höchst gut bist. Und da dies etwa einleuchtet, warum Du den Guten das Gute, und den Bösen das Böse vergiltst; so muss man doch darüber sich höchlich verwundern, warum Du, Der Du vollkommen und höchst gerecht bist, und Niemands nötig hast, den Guten wie den Bösen mit Gutem vergiltst. O der Hoheit Deiner Güte, o HErr! man sieht es, warum Du barmherzig bist, und man sieht es nicht! Man sieht, wo der Fluss strömt; doch der Quell, von wannen er entspringt, wird nicht geschaut. Und von der Fülle Deiner Güte kommt es, dass Du milde bist gegen die Sünder; und in der Höhe Deiner Güte ist es verborgen, warum Du es bist. Denn obgleich es von Deiner Güte herkommt, da Du dem Guten mit Gutem und dem Bösen mit Bösen vergiltst, so scheint doch die Gerechtigkeit dies zu erfordern: wo Du aber dem Bösen mit Gutem vergiltst, da wird nicht nur erkannt, dass der höchst Gute dies tun will, sondern es erfüllt auch mit Verwunderung, wie der höchst Gerechte dies wollen kann. O Barmherzigkeit von welch reicher Süßigkeit, und von welch süßem Reichtume entquillst Du uns! O Unbegrenztheit der Güte Gottes! aus welchem Antriebe liebst Du die Sünder? denn die Gerechten rettest Du, weil es die Gerechtigkeit befiehlt, die Sünder aber befreist Du, da es die Gerechtigkeit verbietet; jenen hilft, was sie getan, diesen widersetzt sich, was sie verübt; das Gute, das Du ihnen verliehen hast, nimmst Du von jenen an, das Böse, das Du hasst, vergibst Du diesen. O unermessene Güte! die Du also über allen Verstand erhaben bist! Es senke sich Deine Barmherzigkeit, die von Deinem übergroßen Reichtume ausgeht, auf mich. Flöße mir ein, was von Dir ausfleußt! Schone aus Milde, strafe nicht aus Gerechtigkeit! Denn obwohl es schwer ist zu verstehen, wie neben Deiner Barmherzigkeit auch Deine Gerechtigkeit sei; so ist es doch notwendig dies zu glauben, weil das der Gerechtigkeit keineswegs entgegen ist, was da strömt aus der Überfülle der Gütigkeit, welche ohne die Gerechtigkeit nicht besteht, ja vielmehr von der Gerechtigkeit wahrhaftig unzertrennlich ist. Denn, wenn Du darum höchst barmherzig bist, weil Du höchst gut bist, und darum höchst gut, weil Du höchst gerecht bist: so bist Du wahrlich nur darum barmherzig, weil Du höchst gerecht bist. Hilf auch mir, nach Deiner Gerechtigkeit, o barmherziger Gott, Dessen Licht ich suche! hilf mir! dass ich verstehe, was ich sage! In Wahrheit darum bist Du barmherzig, weil Du gerecht bist. Also: entspringt Deine Barmherzigkeit aus Deiner Gerechtigkeit? Also: schonst Du der Bösen aus Gerechtigkeit? Wenn es also ist, Herr! wenn es also ist, - zeige mir, auf welche Weise es ist! Etwa darum, weil es recht ist, dass Du also gut seist, dass Du nicht besser gedacht werden kannst, und also mächtig wirkst, dass man Dich nicht mächtiger sich vorstellen kann? Was ist billiger als dieses? Und dies würde nicht sein, wenn Du nur gütig im Vergelten wärst, nicht auch im Verschonen, und wenn Du nur aus Nichtguten Gute machtest, und nicht auch aus Bösen. Auf solche Weise ist es also allerdings gerecht, dass Du der Bösen schonst, und Gute machst aus Bösen. Endlich was nicht gerecht ist, das darf nicht geschehen, und was nicht geschehen darf, das geschieht mit uns recht. Wenn Du also nicht mit Recht Dich der Bösen erbarmst, so darfst Du Dich ihrer nicht erbarmen, und darfst Du Dich ihrer nicht erbarmen, so erbarmst Du Dich ihrer mit Unrecht, und wie es eine Lästerung ist dieses zu sagen, so ist es Frömmigkeit zu glauben, dass Du Dich der Bösen mit Recht erbarmst.

Zehntes Kapitel. Wie Gott mit Recht die Bösen strafe, und mit Recht sie verschone.

Doch es ist auch gerecht, dass Du die Bösen strafst; denn was ist gerechter, als dass die Guten Gutes, und die Bösen Böses empfangen? Wie aber ist es gerecht, dass Du die Bösen strafst, und wie ist es zugleich auch gerecht, dass Du der Bösen schonst. Ist es etwa eine andere Weise der Gerechtigkeit, nach welcher Du die Bösen bestrafst, und wieder eine andere Weise der Gerechtigkeit, nach welcher Du ihrer schonst? - Wenn Du die Bösen strafst, so ist dies gerecht, weil sie es verdient haben, und gerecht ist auch, dass Du ihrer schonst, nicht weil sie es verdienten, sondern weil es Deiner Gütigkeit geziemt. Denn so Du der Bösen schonst, da bist Du auf solche Weise gerecht in Bezug auf Dich, und nicht in Bezug auf uns, wie Du mitleidend bist in Bezug auf uns, und nicht in Bezug auf Dich. Denn gleichwie Du uns, die Du mit Recht solltest zu Grunde gehen lassen, rettest, nicht darum weil Du das Leid fühlst, sondern darum weil wir es empfinden: also bist Du auch gerecht, nicht darum, als tätest Du was uns gebührt, sondern weil Du tust, was Dir geziemet o Du höchstes Gut! - Also geschieht, ohne dass es ein Widerspruch sei, dass Du mit Recht strafst und mit Recht verschonst.

Elftes Kapitel. Auf welche Weise alle Wege des HErrn Barmherzigkeit und Wahrheit sind, und der HErr doch gerecht ist in allen Seinen Wegen.

Doch ist es etwa nicht auch in Bezug auf Dich gerecht, o Herr! so Du die Bösen strafst? Jawohl ist es gerecht, dass Du also gerecht seiest, dass Du nicht gerechter gedacht werden kannst, was nicht wäre, so Du nur den Guten das Gute, und nicht auch den Bösen das Böse vergältest. Denn, gerechter ist der, welcher den Guten wie den Bösen, als wer nur den Guten nach ihrem Verdienste vergilt. Also auch in Bezug auf Dich ist es gerecht, Du gerechter und gütiger Gott! dass Du strafst, und dass Du verschonst, und wahr ist es: „Alle Wege des HErrn sind Barmherzigkeit und Wahrheit, und der HErr ist dennoch gerecht in allen Seinen Wegen.“ Und Beides besteht, ohne sich zu widersprechen; denn welche Du bestrafen willst, die sind nach der Gerechtigkeit nicht zu retten; und die Du verschonen willst, die sind nach der Gerechtigkeit nicht zu verdammen. Denn das allein ist gerecht, was Du willst, und ungerecht ist, was Du nicht willst. So nun entspringt aus Deiner Gerechtigkeit Deine Barmherzigkeit, weil es gerecht ist, Du seiest also gut, dass Du auch im Verschonen gut seiest; und dies ist's vielleicht, warum der höchst Gerechte wollen kann, dass den Bösen Gutes werde. Vermag man es aber allenfalls noch zu fassen, wie Du wollen kannst, dass die Bösen gerettet werden; so kann doch dies auf keine Weise begriffen werden, warum Du von gleicherweise Bösen Einige aus höchster Gütigkeit reichlicher errettest als Andere, und Einige aus höchster Gerechtigkeit tiefer verdammest als Andere. Fürwahr Du bist also auf solche Weise fühlend, allmächtig, mitleidig und keinem Leiden unterworfen, gleichwie Du lebend, weise, gut, selig, ewig und alles bist, was da besser ist, dass es sei, als dass es nicht sei.

Zwölftes Kapitel. Dass Gott das Leben, durch das Er lebt, Selber sei, und so auch von Seinen übrigen Eigenschaften.

Wahrlich, was immer Du bist, das bist Du durch nichts anderes als durch Dich Selbst. Ebendasselbe Leben bist Du also, durch das Du lebst, und die Weisheit bist Du, durch die Du weise bist, und die Güte Selbst, durch die du gütig bist gegen Gute und Böse, - und so von allen Deinen Eigenschaften.

Dreizehntes Kapitel. Auf welche Weise Er allein unbeschränkt und ewig sei, da doch auch andere Geister unbeschränkt und ewig sind.

Alles, was irgend von dem Raum oder der Zeit umschlossen wird, ist kleiner als das, was durchaus keinem Gesetze der Zeit und des Raumes unterworfen ist. Da nun nichts Größeres ist, als Du; so bist Du weder durch Raum noch durch Zeit gebunden, sondern überall bist Du und immerdar. Und weil dies nur allein von Dir gesagt werden kann, so bist nur allein Du unbeschränkt und ewig. Wie also wer den auch andere Geister ewig und unbeschränkt genannt? Ewig bist allein Du, weil nur Du, der Einzige aus Allen es bist, Der, so wie kein Ende, also auch keinen Anfang hat. Doch auf welche Weise bist allein Du unbeschränkt? Weil der erschaffene Geist, Dir gegenüber, beschränkt; der Materie gegenüber unbeschränkt ist. - Denn, völlig beschränkt ist das, was, so es irgendwo ganz ist, nicht auch zugleich anderswo sein kann; welches man nie an den körperlichen Dingen gewahret. Unbeschränkt aber ist, was gang, allenthalben zugleich ist, und dies kann nur von Dir gesagt werden. Beschränkt aber und zugleich unbeschränkt ist das, was, so es irgendwo ganz ist, auch zugleich anderswo sein kann, nicht aber allenthalben, und dies ist an den erschaffenen Geistern zu sehen; denn, wenn die Seele nicht in jedem Teile ihres Leibes ganz wäre, so würde sie nicht das Ganze in dem Einzelnen fühlen. Du also, HErr! bist auf einzige Weise unbeschränkt und ewig, obwohl auch die andern Geister unbeschränkt und ewig sind.

Vierzehntes Kapitel. Auf welche Weise Gott von denen, die Ihn suchen, gesehen, und warum Er von ihnen gesehen, und nicht gesehen wird.

Hast du wohl gefunden, meine Seele, was du suchtest? Du hast Gott gesucht, du hast gefunden, dass Er etwas sei, so das Höchste aus allen, und über Das nichts Besseres gedacht werden kann, und dass dieses das Leben, das Licht, die Weisheit, die Güte, die ewige Seligkeit, und die selige Ewigkeit selbst sei, und wie dies allenthalben sei und immerdar. Denn so du deinen Gott nicht gefunden hast, auf welche Weise ist Er dies, was du fandst, und, mit so gewisser Wahrheit und wahrer Gewissheit erkanntest, dass Er es sei? hast du Ihn aber gefunden, woher kommt es, dass du nicht fühlst, was du gefunden? Warum, mein HErr und mein Gott! fühlt Dich meine Seele nicht, wenn sie Dich gefunden hat? Hat sie nicht Den gefunden, von Dem sie fand, dass Er das Licht sei und die Wahrheit? Denn wie hat sie dies eingesehen, als indem sie das Licht und die Wahrheit sah? Oder konnte sie irgend etwas von Dir einsehen, ohne Dein Licht und ohne Deine Wahrheit? Hat sie also das Licht und die Wahrheit gesehen, so hat sie Dich gesehen; hat sie Dich nicht gesehen, so sah sie auch weder das Licht, noch die Wahrheit. Oder ist, was sie gesehen hat, das Licht und die Wahrheit, und Dich sah sie darum noch nicht, weil sie Dich nur einigermaßen, nicht aber Dich gesehen hat, wie Du bist? - Mein HErr und mein Gott! mein Schöpfer und Erneuerer! sage meiner verlangenden Seele, was bist Du noch anderes, als was sie sieht? auf dass klar sie schaue, wonach sie verlangt. Sie strengt sich an mehr zu sehen; doch außer dem, was sie schon sah, sieht sie nichts als Finsternisse; oder vielmehr, nicht Finsternisse sieht sie, da in Dir keine Finsternis ist: sondern sie sieht, dass sie ihrer eigenen Finsternisse wegen nicht weiter sehen kann. Wie das HErr! wie das? Wird ihr Auge verfinstert ob ihrer Schwachheit, oder wird es geblendet von Deinem Glanze? Ach! wahrlich! es wird verdunkelt durch sich, und geblendet wird es von Dir. Ja, verfinstert wird es durch seine Kurzsichtigkeit, und betäubt durch Deine Unermesslichkeit; in seine Kleinheit schrumpft es zusammen, und Deine Größe ist es, die es erdrückt. O wie groß ist dies Licht, aus welchem strahlt alles Wahre, was da dem vernünftigen Geiste leuchtet! Wie herrlich ist jene Wahrheit, welche alles enthält, was da wahr ist, und außer welcher nichts ist, als das Nichts und das Falsche. Wie unermesslich ist Sie, Die mit Einem Blicke alles übersieht, was da erschaffen, und von Wem, und durch Wen, und wie es aus Nichts erschaffen ist. Welche Reinheit, Einfalt, Sicherheit, Pracht ist nicht in Ihr! Wahrlich! hier ist mehr, als das Geschöpf begreifen kann!

Fünfzehntes Kapitel. Dass Gott größer sei, als Er gedacht werden kann.

Nicht nur allein das bist Du, o HErr! über welches nichts Größeres gedacht werden kann, sondern Du bist auch das, was größer ist, als es gedacht werden kann; denn da es möglich ist, sich etwas solches zu denken, so könnte, wenn nicht Du Selbst dieses wärest, etwas Größeres als Du gedacht werden, was nicht sein kann.

Sechzehntes Kapitel. Dass die Wohnung Gottes das unzugängliche Licht sei.

Wahrlich HErr! unzugänglich ist das Licht, in dem Du wohnst; denn gewiss, es gibt nichts, das in dies Licht eindringen und dort Dich durchschauen könnte. Ich sehe es daher freilich nicht, denn zu viel ist es für mich, und dennoch ist es dieses Licht, durch welches ich alles sehe, was ich sehe. So sieht das schwache Auge das, was es sieht, durch das Licht der Sonne, in die Sonne aber vermag es nicht zu sehen. Mein Verstand vermag nichts diesem Lichte gegenüber; zu hell strahlt es; er fasst es nicht, und nicht lange erträgt es das Auge meiner Seele hinzublicken. Geblendet wird es von dem Glanze, von der Herrlichkeit überwältigt, von der Unermesslichkeit erdrückt, verwirrt von der Größe des Umfanges!- O hohes, o unzugängliches Licht! o volle und selige Wahrheit! wie weit bist Du von mir, der ich so nahe bei Dir bin! wie fern bist Du meinem Anblicke und wie so gegenwärtig bin ich dem Deinigen! Überall bist Du ganz gegenwärtig und ich sehe Dich nicht. In Dir bewege ich mich, und in Dir bin ich, und ich kann mich Dir nicht nahen. Du bist in mir und umgibst mich, und ich fühle Dich nicht.

Siebzehntes Kapitel. Dass in Gott, nach Seiner unaussprechlichen Art, Wohllaut, Wohlgeruch und Wohlgeschmack, Lindheit und Schönheit enthalten sei.

Noch immer, o HErr! bist Du in Deinem Lichte und in Deiner Seligkeit meiner Seele verborgen, und darum ist sie noch in ihren Finsternissen und in ihrem Elende befangen; denn sie blickt umher, und schaut nicht Deine Schönheit; sie horcht, und Deinen Wohllaut hört sie nicht; sie riecht, und es ist nicht Dein Wohlgeruch, was sie riecht; sie verkostet, und Dein Wohlgeschmack ist es nicht, was sie schmeckt; sie fühlt, und fühlt nicht Deine Lindheit: denn alles dies, mein HErr und mein Gott! hast Du auf Deine unbeschreibliche Weise in Dir, Der Du es Deiner Kreatur nach ihrer fühlenden Art verliehen hast; doch erstarrt, erstumpft und verstopft sind die Sinne meiner Seele durch den alten Wust der Sünde.

Achtzehntes Kapitel. Dass Gott sei das Leben, die Weisheit, die Ewigkeit und jedes wahre Gut.

Und sieh! da ist abermal Trübsal; da begegnet abermal Trauer und Klage dem, der Freude und Fröhlichkeit sucht; schon hoffte meine Seele Sättigung, und Not drückt sie abermal; schon langte ich nach der Speise, und ach! um so größeren Hunger fühle ich! Hinanzusteigen zu dem Lichte Gottes strebte ich, und wieder zurück bin ich gefallen in meine Finsternisse. Ja nicht jetzt erst bin ich zurückgefallen in sie, sondern von jeher fühle ich mich in sie eingehüllt. Ich geriet schon in sie, ehe denn meine Mutter mich empfing. Fürwahr, empfangen bin ich in ihnen, und umwölkt von ihnen ward ich geboren. Ach! Alle fielen mir dazumal mit jenem, in welchem wir Alle sündigten; Alle verloren wir in ihm. Er war in so sicherem Besitze und schändlich hat er das Seine und das Unsre vergeudet, und wollen wir es nun suchen, so wissen wir nicht, wie, und suchen wir auch - wir finden es nicht, und glauben wir auch es gefunden zu haben, so ist es nicht das, was wir suchten. Hilf du mir, Deiner Gütigkeit wegen. HErr! ich habe dein Angesicht gesucht, Dein Angesicht, HErr! will ich suchen; wende dein Angesicht nicht von mir ab! Reiß mich von mir zu Dir! Reinige, heile, schärfe, erleuchte das Auge meines Geistes, dass es schauen möge! Es raffe meine Seele ihre Kräfte zusammen, und mit all ihrem Vermögen, schaue sie abermal hin nach Dir, o HErr! Was bist Du o Herr! was bist Du? Was wird mein Herz verstehen, das Du seiest? Fürwahr! Du bist das Leben, die Weisheit bist, Du, die Wahrheit, die Güte, die Seligkeit, die Ewigkeit und jedes wahre Gut. Viel ist dies, und mein enger Verstand kann nicht mit Einem Blicke alles dies so schauen, dass er zugleich von allem erfreut würde? Auf welche Weise also, o HErr! bist Du alles dieses? Sind dies Teile von Dir, oder ist vielmehr jedes Einzelne davon ganz, was Du bist? Denn alles was aus Teilen besteht, ist nicht vollkommen Eins; sondern gewisserweise mehreres, und in sich selbst verschieden, und es kann, entweder in der Tat oder im Gedanken zersetzt werden: was alles fern ist von Dir; da nichts Vollkommeneres gedacht werden kann, als Du. Es sind also keine Teile in Dir, HErr! und nicht mehreres bist Du, sondern also bist Du nur Eines und Dir Selber gleich, dass Du in nichts von Dir Selber verschieden bist; ja vielmehr die Einheit selbst bist Du, unteilbar für jeden Verstand. Also Leben, Weisheit, und alles andere,- es sind nicht Teile von Dir; sondern alles ist Eines, und ein jedes davon ist ganz, was Du bist, und was das Übrige ist. Gleichwie also Du keine Teile hast, also ist auch Deine Ewigkeit, die Du Selbst bist, nirgends und niemals ein Teil von Dir, oder von Deiner Ewigkeit, sondern überall bist Du ganz, und ganz ist Deine Ewigkeit immerdar.

Neunzehntes Kapitel. Dass Gott nicht im Raum sei, und nicht in der Zeit, sondern dass alles in Ihm sei.

Aber wenn Du durch Deine Ewigkeit warst, bist und sein wirst; und doch das Gewesensein nicht das Seinwerden, und das Sein nicht das Gewesensein noch das Seinwerden ist: wie denn also ist deine Ewigkeit immerdar ganz? Geht in Deiner Ewigkeit nichts vorüber, so dass es dann nicht mehr sei, und ist nichts zukünftig, gleich als sei es noch nicht? Also nicht gestern warst Du und wirst morgen sein; sondern gestern und heute und morgen bist Du. Ja, besser zu sprechen: nicht gestern, nicht heute und nicht morgen bist du, sondern Du bist schlechterdings außer aller Zeit. Denn gestern und heute und morgen, sind nicht anders als in der Zeit: Du aber, obwohl nichts ohne Dich ist, bist dennoch weder im Raume noch in der Zeit, sondern alles ist in Dir, weil nichts Dich enthält, Du aber enthältst alles.

Zwanzigstes Kapitel. Dass, wie Gott vor allem Ewigen, so auch nach allem Ewigen sei.

Du also erfüllst und enthältst alles; Du bist vor und bleibst nach allem. Und zwar vor allem bist Du, weil Du bist, ehe es gemacht ward. Wie aber bist Du nach allem? Denn auf welche Weise bist Du nach dem, was kein Ende haben wird? Vielleicht weil dies ohne Dich durchaus nicht vorhanden sein kann; Du aber darum keineswegs minder bist, wenn auch dies alles in das Nichts zurückkehrt? Denn auf diese Weise bist Du einigermaßen nach Allem. Oder auch darum: weil von allem gedacht werden kann, dass es ein Ende habe, von Dir aber schlechterdings nicht; denn so hat es wenigstens auf diese Weise ein Ende, Du aber auf keine Weise. Und gewiss, was auf keine Weise ein Ende hat, bleibt nach dem, was auf irgend eine Weise endet. Oder bleibst Du auch auf diese Art nach allem, auch ewigen Dingen, weil Deine sowohl, als ihre Ewigkeit Dir ganz gegenwärtig ist; dahingegen sie von ihrer Ewigkeit das noch nicht haben, was sein wird, gleichwie sie das nicht mehr besitzen, was vergangen ist. Wahrlich! so bist Du über sie hinaus, da Du Vergangenem und Künftigem immerdar gegenwärtig bist, oder da Vergangenes und Künftiges immerdar Dir gegenwärtig ist; wozu jene noch nicht gelangt sind.

Ein und zwanzigstes Kapitel. Ob es dieses sei, was man von Ewigkeit zu Ewigkeit, oder: in alle Ewigkeit nennt.

Ist es also dieses, was man von Ewigkeit zu Ewigkeit, oder in alle Ewigkeit nennt? Denn gleichwie die Ewigkeit alles Zeitliche in sich enthält; also enthält deine Ewigkeit auch alle Ewigkeit in sich. Und von Ewigkeit zu Ewigkeit wird sie genannt, wegen ihrer in sich abgeschlossenen unteilbaren Einheit; in alle Ewigkeit aber wegen der unermesslichen Unbegrenztheit. Und obwohl Du, o HErr! also groß bist, dass Du alles erfüllst, und dass alles in Dir enthalten ist: so bist Du dennoch ohne allen Raum, also, dass weder Mittel noch Hälfte, noch irgend ein Teil in Dir ist.

Zwei und zwanzigstes Kapitel. Dass Gott allein das ist, was Er ist, und Der, Der da ist.

Du allein also, HErr! bist was Du bist, und Du bist, Der da ist. Denn das, was etwas anderes als ganz, und wieder etwas anderes in den Teilen ist, und in welchem sich etwas Veränderliches befindet, das ist nicht völlig das, was es ist. Und dessen Anfang Nichtsein ist, und was als nichtseiend gedacht werden kann, und was, sobald es ein Anderes nicht erhält, in sein Nichts zurückkehrt, und was das nicht mehr hat, was nicht mehr vorhanden ist, und was noch nicht hat, was noch nicht vorhanden ist: nicht eigentlich und unbedingt ist dieses. Du aber bist, was Du bist; denn was Du immer zu irgend einer Zeit, oder auf irgend eine Weise warst, das bist Du ganz und immer. Und Du bist, Der da eigentlich und unbedingt ist; denn Dir ist nichts vergangen und nichts zukünftig: sondern die Gegenwart nur ist Dein Sein und nicht gedacht kannst Du werden, als einstens nicht seiend. Aber auch das Leben und das Licht bist Du, und die Weisheit und die Seligkeit und die Ewigkeit, und noch viele solche Güter mehr: und doch bist Du nur das einzige und höchste Gut, Dir Selbst gänzlich genügend, und Niemands bedarfst du, Dessen Alle bedürfen, damit sie seien, und dass sie gut seien.

Drei und zwanzigstes Kapitel. Dass dieses Gut zugleich der Vater sei, und der Sohn, und der heilige Geist, und dass es dieses Gut allein sei, was Not tut, und Welches da ist: das volle, ganze und einzige Gut.

Dies Gut bist du, o Gott Vater! es ist Dein Wort, nämlich Gott Sohn; denn es kann in dem Worte, in Welchem Du, wie Du sagst, Selbst bist, nichts anders als was Du bist, und weder etwas Größeres, noch etwas Geringeres enthalten sein, weil Dein Wort so wahr ist, wie Du wahrhaftig bist. Und darum ist es die Wahrheit Selbst, gleichwie Du, und keine andere als Du, und so einfach bist Du, dass nichts ausgehen kann von Dir, als was Du bist. Und dies ist die einige Dir, und Deinem Sohne gemeine Liebe, der heilige Geist nämlich, Der ausgeht von Beiden. Und diese Liebe ist Dir und Deinem Sohne ganz gleich, weil Du Dich und Ihn, und Er Dich und Sich also liebt, wie Du und Er ist; auch kann nichts von Dir und von Ihm sein, was nicht auch Dir und Ihm ähnlich sei, noch kann etwas ausgehen von der höchsten Einfachheit, als durch das, durch Welches es ausgeht. Was aber Jeder für Sich ist, das ist die ganze Dreieinigkeit, der Vater und der Sohn und der heilige Geist zugleich. Denn Jeder für Sich ist nichts anderes, als die höchste, Eine Einfachheit welche weder vermehrt werden, noch in sich verschieden sein kann. Nur Eines ist, das Not tut; und dies Eine, was Not tut, ist das, welches alles Gute enthält, ja das, was das volle, einig ganze und einzige Gut Selbst ist.

Vier und zwanzigstes Kapitel. Ahnung, was und wie groß dieses Gut sei.

Ermuntere und erhebe nun Deinen Verstand, meine Seele, und bedenke nach Deinen Kräften, was und wie groß dieses Gut sei. Wenn schon jedes einzelne Gut erfreulich ist, so stelle Dir lebhaft vor, wie erfreulich das Gut sein müsse, das die Lieblichkeit aller Güter in sich enthält, und nicht die Lieblichkeit, wie sie an erschaffenen Dingen die Erfahrung zeigt; sondern so weit davon verschieden, als der Schöpfer von dem Geschöpfe verschieden ist. Denn, wenn das erschaffene Leben schon gut ist, wie gut wird erst das erschaffende Leben sein; wenn es lieblich ist geheilt zu werden, wie lieblich muss das Heil sein, das alle Heilung wirkt; wenn die Weisheit in der Erkenntnis der erschaffenen Dinge liebenswert ist, wie liebenswert wird erst sein die Weisheit, Die alles aus Nichts erschuf; wenn endlich viele und große Lust in der Freude ist, welche, und welch große Lust muss erst sein in Dem, Der das was erfreuet, gemacht hat.

Fünf und zwanzigstes Kapitel. Welche und wie große Güter denen beschieden sind, die des höchsten Gutes genießen.

O wer doch jenes Gutes sich erfreute! Und was wird diesem dann werden, und was wird ihm mangeln? Wahrlich! er wird alsdann alles besitzen, was er verlangt, und was ihm widrig ist, das wird nicht vorhanden sein. Denn für Leib und Seele sind dort Güter, die noch kein Auge sah, kein Ohr hörte, und was noch in keines Menschen Herz gestiegen ist. Warum, o armseliger Mensch! warum also schweifst du weit und breit umher, nach Gütern spähend für den Geist und den Körper? Liebe das Eine Gut, in welchem alle Güter sind; mehr braucht es nicht; nach dem einfachen Gut, welches das vollkommene Gut ist, verlange, dies ist genug. Was ist's, das du liebst, mein Fleisch? was verlangst du denn meine Seele? dort ist es, dort ist, was ihr liebt, was ihr wünscht. Erfreut dich die Schönheit? „Glänzen werden die Gerechten wie die Sonne.“ Oder die Schnelligkeit, die Stärke, die Gewalt des Körpers, der nichts widersteht? „Sie werden den Engeln Gottes gleich sein,“ denn: „Es wird ein tierischer Leib gesät, und ein geistlicher Leib wird erstehen,“ durch höhere Macht, nicht durch die Natur. Erfreut dich ein langes Leben frei von allen Gebrechen? dort ist das Heil der Ewigkeit und das ewige Heil, denn: „Die Gerechten werden immerdar leben,“ und: „Von dem HErrn kommt der Gerechten Heil.“ Willst du Sättigung? sie werden ersättigt werden: „Da die Glorie Gottes erscheinen wird.“ Verlangst du zu trinken? „Sie werden trunken werden von der überschwänglichen Fülle Deines Hauses.“ Erfreut dich Wohllaut? dort singen die Chöre der Engel ohne Unterlass vor Gott. Wünscht du was immer für eine nicht unlautere, sondern reine Wollust? „Mit dem Bache Deiner Wollust wirst Du, o Gott! sie tränken.“ Wünscht du Weisheit? die Weisheit Gottes selbst zeigt sich ihnen; Freundschaft? sie werden Gott mehr lieben als sich selbst, und sich untereinander wie sich selbst, und Gott wird sie lieben mehr als sie sich selbst; weil sie Ihn, und sich selbst, und, sich untereinander durch Ihn lieben; Er aber, Sich und sie durch Sich selbst liebt. Verlangst du Einigkeit? Alle werden nur Einen Willen haben; denn sie werden nichts wollen, als nur was Gott will; Macht? allmächtig werden sie sein durch ihren Willen, wie es Gott durch den Seinigen ist; denn gleichwie Gott das, was Er will, durch Sich Selbst kann, also werden sie das, was sie wollen, durch Ihn vermögen, und dies darum, weil, da sie dasselbe wollen, was Gott will, Gott auch will, was sie wollen; und was Gott will, das kann nicht ungeschehen bleiben. Willst du Ehren und Reichtümer? Gott wird Seine Guten und Getreuen über Vieles setzen, ja Söhne Gottes und Götter werden sie genannt werden, und wo Sein Sohn ist, dort werden auch sie sein, Erben Gottes und Miterben Christi. Willst du wahre Sicherheit? Gewiss! die dort sich befinden, sind so sicher, dass ihnen diese Güter oder vielmehr dieses Gut niemals, und auch nicht ein Teilchen davon abhanden kommt, als sie gewiss sind, dass sie es nicht selbst verlieren werden, noch dass es der liebende Gott gegen den Willen der Ihn Liebenden ihnen entziehen, noch dass ein Mächtigeres als Gott gegen Gottes und ihren Willen sie davon trennen wird.- Welche und wie übergroße Freude muss dort sein, wo ein solches und ein so überaus großes Gut ist. O menschliches Herz! Herz voll Not, in Leiden erfahren, ja von Leiden erdrückt! welche Freude für dich, so dir alles dies in Fülle zu Teil würde. Frage dich, ob du wohl die eigene Freude solcher Seligkeit zu fassen vermögest. Und nun, wenn dann noch Einer, den du völlig so liebst, wie du dich selbst liebst, eben diese Seligkeit erlangte, würde dann deine Freude nicht wahrhaft verdoppelt, da du nicht minder dich seinet- als deinetwegen freuen würdest? Wenn aber zwei oder drei, oder bei weitem Mehrere dasselbe erhielten,- jedes Einzelnen wegen würdest du dich wie deinetwegen erfreuen, so du jeden Einzelnen, wie dich selbst liebtest. Nun also in jener vollendeten Liebe der zahllosen Engel und Menschen, wo Keiner den Andern minder liebt, als sich, wird Jeder, jedes Einzelnen wegen sich erfreuen, wie er seinetwegen sich erfreut. Fasst nun des Menschen Herz die eigene Freude über ein so großes Gut kaum, wie wird es so viele und so Vieler Freude fassen können? Ja noch mehr! Da sich Einer über das Glück des Andern so sehr erfreut, als er ihn liebt, und in jener vollendeten Glückseligkeit Jeder Gott bei weitem mehr liebt, als sich und Alle, die mit ihm find: also wird er sich über die Seligkeit Gottes ohne Vergleich mehr erfreuen, als über seine eigene, und über jene derer, welche mit ihm sind. Und wenn, ob sie gleich Gott aus ganzem Herzen, aus ganzem Gemüte, aus ganzer Seele lieben, dennoch das ganze Herz, das ganze Gemüt, die ganze Seele nicht genügen kann der Größe der Liebe; so werden sie wahrlich auch also aus ganzem Herzen, aus ganzem Gemüte, aus ganzer Seele sich erfreuen, dass das ganze Herz, das ganze Gemüt, die ganze See: le nicht wird genügen der Fülle der Freude.

Sechs und zwanzigstes Kapitel. Ob dies die Fülle der Freude sei, welche Gott verheißt.

O mein Gott und mein HErr! Hoffnung und Freude meines Herzens! sag meiner Seele ist dies die Freude, von welcher Du uns durch deinen Sohn sagst: „Bittet und ihr werdet empfangen, auf dass eure Freude vollkommen werde.“ Denn ich habe eine Fülle der Freude gefunden, und mehr noch als Fülle; weil wenn erfüllt sein wird das ganze Herz, erfüllt das ganze Gemüt, die ganze Seele, erfüllt der ganze Mensch von dieser Freude, da wird noch Freude im Überfluss vorhanden sein. Alle diese Freude also wird nicht eingehen in die sich Freuenden; aber alle sich Freuenden werden eingehen in die Freude. Sage HErr Deinem Diener, sage innerst in seinem Herzen, ist dies die Freude, in welche Deine Diener eins gehen, die da eingehen in die Freude des HErrn? Doch diese Freude, in der Deine Auserwählten sich erfreuen, hat ja: „Kein Auge gesehen, kein Ohr gehört, und in keines Menschen Herz ist es gestiegen.“ Also hätte ich noch nicht gesagt, oder gedacht, o HErr! wie sehr Deine Heiligen sich erfreuen werden? Freilich nicht! Sie werden so sehr sich erfreuen, als viel sie lieben werden; so viel werden sie lieben, als klar sie erkennen werden. Und wie viel werden sie Dich lieben? Wahrlich: „Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr es gehört, und in keines Menschen Herz ist es gestiegen,“ während dieses Lebens, wie sehr sie in jenem Leben Dich erkennen und lieben werden.

Herr! ich bitte Dich, lass mich Dich erkennen, lass mich Dich lieben, auf dass ich mich Deiner erfreuen möge. Und wenn ich in diesem Leben dies nicht vermag bis zur Fülle; so lass mich doch wenigstens von Tag zu Tag zunehmen, bis dass es endlich völlig erfüllet werde. Hier möge die Erkenntnis von Dir sich in mir mehren, und dort möge sie vollendet sein; hier möge meine Liebe zu Dir wachsen, und dort möge sie reif sein, auf dass hier meine Freude groß in der Hoffnung, dort aber in der Wirklichkeit vollkommen sei. HErr! durch Deinen Sohn rätst, ja befiehlst Du, dass wir bitten sollen, und verheißt Gewährung, auf dass unsre Freude vollkommen sei. Ich bitte HErr! wie Du es rätst, durch Den, Der da wundervoll und unser Rat ist: gib was Du verheißen hast, auf dass meine Freude vollkommen sei. Wahrhafter Gott! ich flehe! o mög' ich erlangen, auf dass meine Freude vollkommen sei. Indessen soll mein Gemüt darüber betrachten, meine Zunge davon sprechen. Es liebe es mein Herz, es rede davon mein Mund, es hungere danach meine Seele, es dürste danach mein Fleisch, mein ganzes Wesen verlange danach, bis ich eingehe in die Freude des HErrn, Der Du der dreieinige und einige Gott bist, gebenedeit in alle Ewigkeit! Amen!

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