Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 19. Predigt

Text: Matth. VI., V. 5,8.

Und wenn du betest, sollst du nicht sein wie die Heuchler, die da gerne stehen und beten in den Schulen, und an den Ecken auf den Gassen, auf daß sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: sie haben ihren Lohn dahin. Wenn du aber betest, so gehe in dein Kämmerlein, und schließe die Thür zu, und bete zu deinem Vater im Verborgenen; und dein Vater, der in das Verborgene siehet, wird dir’s vergelten öffentlich. Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern, wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhöret, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr euch ihnen nicht gleichen. Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe denn ihr Ihn bittet.

Die zweite gottesdienstliche Pflicht, welche Jesus aus dem Ceremonialgesetz anführt, und bei welcher ebenfalls die Gesinnung und das Herz Alles entscheidet, ist das Gebet. Offenbar ist dasselbe viel wichtiger und einflußreicher, als das Almosengeben. Darum geht der Herr auch mehr auf das Einzelne ein, und warnt im verlesenen Textworte vor einem zwiefachen Mißbrauche desselben. Der eine ist der heuchlerisch-pharisäische: “Wenn du betest, sollst du nicht sein wie die Heuchler, die da gerne stehen und beten in den Schulen und an den Ecken auf den Gassen, auf daß sie von den Leuten gesehen werden.” Der andere ist der heidnische: “Wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern, wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viel Worte machen.” Damit ist auch uns der Gang unserer Betrachtung vorgezeichnet. Wir erwähnen 1) den Pharisäismus, und 2) das Heidenthum im Gebet.

I.

Das Gebet ist unter allen gottesdienstlichen Pflichten die erhabenste und heiligste. Es ist der unmittelbare Verkehr der Seele mit ihrem Herrn; es ist die höchste Ehre des Menschen und das Kleinod der Gläubigen in alle Ewigkeit; es ist die Vereinigung des Himmels und der Erde, Gottes und der Menschen, und so recht eigentlich das Herz jedes Gottesdienstes, der Gottesdienst schlechthin. Wie aber nichts in den Händen der Menschen unbefleckt geblieben ist, so ist auch dieses ehrwürdigste aller Geschäfte auf die mannichfachste Weise von ihnen gemißbraucht und entweihet worden. Namentlich hat es nie unter ihnen an Solchen gefehlt, die es dazu anwandten, ihre Frömmigkeit öffentlich zur Schau zu tragen und sich in den Ruf der Heiligkeit zu setzen bei ihren Mitbrüdern. So machten es insbesondere die Pharisäer und Schriftgelehrten zu Jesu Zeit. Sie würdigten das Gebet herab zu einem Gegenstande der Eitelkeit und Selbstsucht. Sie beteten nicht, um zu beten und von Gott erhört zu werden, sondern um aufzufallen und von den Menschen wegen ihrer ausgezeichneten Andacht und himmelangewendeten Gemüthsrichtung gepriesen zu werden. Jesus schildert ihre heuchlerische Art zu beten also: Wenn du betest, sollst du nicht sein wie die Heuchler, die da gerne stehen und beten in den Schulen, wo viel Volks zusammenkommt, um die Augen auf sich zu ziehen und allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen, und an den Ecken auf den Gassen, auf daß sie von den Leuten gesehen werden, die es so einrichteten, daß sie gerade zu den unter Israel vorgeschriebenen Gebetsstunden immer auf den Straßen gefunden wurden, wo sie dann sofort stille stehen blieben und öffentlich vor der ganzen vorübergehenden Menge ihre Gebete verrichteten. Ihr Gebet war demnach ein kaltes Formelwesen geworden, eine leere Ceremonie, die, herzlos und todt in sich, an gewisse Orte und Zeiten durch Menschensatzungen gebunden war, bei deren Verrichtung nicht das Verlangen und Bedürfniß des Herzens, nicht die Hinwendung der andächtigen Seele zum Herrn, sondern vielmehr die Pünktlichkeit in der Beobachtung der Stunden, der Worte, der Bewegungen, die Hauptsache war. Ach, im Herzen wohnten bei diesen Heuchlern die niedrigsten Leidenschaften: Ehrgeiz, Neid, Stolz, Eitelkeit, Rachsucht und Mordlust, wie denn ihr Verfahren gegen den Herrn nichts als die Offenbarung dieser Gesinnungen war; aber äußerlich wollten sie doch wenigstens vor dem Volke in einen Heiligenschein sich hüllen, und wegen ihrer frommen Mienen, ihrer pünktlichen Gebetsabwartung bewundert werden. – Ob heut’ zu Tage dieser Frevel nicht mehr vorkommt? Ob bei uns das Gebet immer Herzenserguß, inniges Seelenbedürfniß, wahrhaftige Andacht und Anbetung ist? Ob wir nie zum Scheine und zur Prahlerei die Hände falten und die Kniee beugen? Ob es uns beim Gebet immer nur um das Gebet, nie um Befriedigung unserer Selbstsucht und Eitelkeit zu thun ist? Ob wir das Gebet nie betrachten als ein gutes Werk an sich, bei welchem Alles darauf ankommt, daß wir es zur rechten, festgesetzten Zeit abmachen; nie darauf, daß dies auch in der rechten, festgesetzten Zeit abmachen; nie darauf, daß dies auch in der rechten Gemüthsverfassung und Gesinnung geschieht? Das beantworte Jeder sich selbst, und vernehme dann zu seiner Warnung des Herrn Wort: Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn dahin! Es geschieht den Heuchlern nach ihrem Wunsch. Weil sie nicht beten, um erhört zu werden, so werden sie auch nicht erhört. Ihr Gebet ist nutzlos und vergeblich. Es verhallt in die Lüfte. Es bleibt völlig unberücksichtigt von Gott. Wenn es ausgebetet ist und abgemacht, so ist es eben auch aus- und abgemacht. Die Gesinnung aber, aus der es hervorgeht, die Falschheit und Heuchelei, ist ein Gräuel vor Gott.

Das rechte, Gott wohlgefällige und erhörliche Gebet ist ein ganz anderes. Wenn du aber betest, sagt der Herr, so gehe in dein Kämmerlein und schließe die Thüre zu, und bete zu deinem Vater im Verborgenen. Das vollkommene Gebet ist also das innerliche, das Herzensgebet, bei welchem man Ort, Zeit und alle Creaturen vergißt, und in der Abgezogenheit von Allem allein mit Gott zu thun hat. Und welches sind die Eigenschaften, die dieses Gebet in sich trägt? Es ist zunächst ein andächtiges, gesammeltes Gebet. Der Betende geht in’s Kämmerlein und schließt die Thür hinter sich zu, die Thür seines Zimmers nicht allein, sondern auch die Thür seiner Sinne und Gedanken, seiner weltlichen Sorgen und Zerstreuungen. Er läßt Alles schweigen um sich her und in sich. Er zieht seine Aufmerksamkeit in sich zurück, entfernt alle Störungen aus seiner Umgebung, und beschäftigt sich ausschließlich mit dem großen Gott und Herrn im Himmel, mit Gottes Geboten und Verheißungen, mit seinen eigenen Sünden und Schwächen, mit der Prüfung seiner Gedanken, Neigungen und Bestrebungen, mit seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er schließt gleichsam seine Augen gegen die Außenwelt und stirbt ihr ab, um ganz und ausschließlich der innern Welt seines Gemüths zu leben und mit ungetheiltem Herzen zu beten. Bei andern Beschäftigungen brauchen wir nicht vollkommen dabei zu sein, wir können nebenher noch mit einer Menge anderer Gegenstände uns beschäftigen; aber soll das Gebet uns Frucht schaffen, soll es nicht durch eine Menge anderweitiger störender Gedanken und Vorstellungen unterbrochen und vernichtet werden, so müssen wir das ganze Herz in Gott haben. Durch ein getheiltes Herz verlieren wir allen Segen, und wir werden nur darum beim Gebete zerstreut und versucht, weil wir kein ungetheiltes Herz in und für Gott haben. – Ein solch’ gesammeltes Herz betet dann zu Gott, als wäre sonst Niemand in der Welt, als Gott und der Betende allein; als hätte Gott sonst für Niemand zu sorgen, als für ihn; als hätte die ganze Welt ihre Bedeutung verloren, und als wäre er mit dem, was ihn drückt und beschäftigt, die ganze Welt. Und darum betet er so inbrünstig, so kindlich, so vertrauensvoll, so hingebend, so unter vier Augen, als wären seine Angelegenheiten Gottes Angelegenheiten, und hätten für Gott denselben Werth, den sie für ihn haben. Er sagt und klagt Ihm Alles: Großes und Kleines, Wichtiges und Unbedeutendes, Frohes und Trauriges; er verbirgt und verschweigt Ihm nichts, und schüttet Ihm sein ganzes Herz aus. Was er keinem Menschen, selbst dem vertrautesten Freunde nicht, zu sagen und zu gestehen wagt, das eröffnet er seinem Gott. Er bekennt Ihm seine Sünden, er bittet um Seine Gnade, er nimmt Seine allmächtige Hülfe in Anspruch, er fleht mit Jacob: “Herr, ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn!” Er fleht mit David: “Dein Knecht hat sein Herz gefunden, daß er dies Gebet zu Dir betet; nach Dir, Herr, verlanget mich; mein Gott, ich hoffe auf Dich; meine Seele verlanget nach Deinem Heil.” Er fleht mit Nehemia: “Gedenke meiner, mein Gott, im Besten!” Er fleht mit dem Hauptmann zu Kapernaum: “Herr, ich bin nicht werth, daß du unter mein Dach gehest, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund.” Er fleht mit dem cananäischen Weibe: “Ja, Herr, es ist wahr, es ist nicht fein, daß man den Kindern ihr Brodt nehme und werfe es vor die Hunde; aber doch essen die Hündlein von den Brosamlein, die von ihrer Herren Tische fallen.” Er geht mit Gott um, wie Abraham, der mit Ihm verkehrte, wie ein Mensch mit seinem Freunde. Er trägt Ihm vor Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, insbesondere für die, welche seinem Herzen nahe stehen und theuer sind. Niemand ist Zeuge seiner Bitten und weiß um den Inhalt derselben, als Gott allein, der in’s Verborgene sieht, und die unsichtbaren Engel, die seine Seufzer emportragen zu den himmlischen Höhen. So wird ihn das Gebet zu seinem Gott zur seligsten Beschäftigung; sein Kämmerlein ein Tempel im Kleinen; sein Herz ein Altar, auf welchem er die heiligsten Opfer darbringt.

Welch ein Unterschied also, Geliebte, zwischen diesem Herzensgebete im Verborgenen und jenem öffentlichen Gebete der Pharisäer! Hier Aufrichtigkeit und Wahrheit: dort Lüge und Heuchelei; hier Einfalt und Natur: dort Künstelei und Förmlichkeit; hier Verherrlichung Gottes und Ausströmen der innersten Empfindungen gegen Ihn: dort Selbstsucht und Eigenliebe. Hier Einssein mit dem Herrn: dort Getrenntsein von Ihm immer und ewiglich.

Hat aber der Herr damit, daß Er das rechte, Gott wohlgefällige Gebet als ein verborgenes darstellte, das öffentliche Gebet, die Kirchenandacht, etwa als Gott mißfällig darstellen wollen? Keineswegs! Wie Er beim Almosengeben nicht das Gesehenwerden tadelt, sondern nur das Gesehenwerdenwollen, so rügt er auch beim Gebete nur die schlechte Absicht. Er vernachlässigte ja selbst die öffentlichen Andachtsübungen nicht, besuchte regelmäßig die Judenschulen am Sabbath, fehlte nie im Tempel, wenn Er zur Feier der Festtage hinaufzog gen Jerusalem, lehrte Seine Jünger gemeinsam beten, und gab solchem gemeinsamen Gebete die Verheißung: “Wo zwei unter euch eins werden auf Erden, warum es ist, das sie bitten wollen, das soll ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel”, betete bei den Speisungen und an Lazarus Grabe vor dem umstehenden Volk. Und Seine Apostel ermahnten ihre Gemeinden: “Lasset das Wort Christi reichlich unter euch wohnen in aller Weisheit, lehret und vermahnet euch selbst mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen lieblichen Liedern, und singet dem Herrn in eurem Herzen. Lasset uns nicht verlassen unsere Versammlungen, wie Etliche pflegen” (Col. 3,16. Hebr. 10,25.). Aber die Hauptsache ist freilich auch beim öffentlichen Gottesdienst das verborgene Herzensgebet: daß du nicht an Andere, nur an dich selbst denkest, daß der Herr und du, du und der Herr, die Angel sei, um die sich Alles wendet, daß das Gebet nimmermehr ausarte in Gewohnheitswerk und äußere Frömmelei. Dieses Zweieins ist die Seele des öffentlichen Gottesdienstes, ist das Gebet aller Gebete, ist das eigentliche Christenthum unseres Christenthums, ist der Kern, ohne welchen der ganze äußere Gottesdienst nur leere Schale sein würde. Ohne dieses Beten im Kämmerlein des Herzens ist all’ unser öffentliches Beten, Singen und Predigen an heiliger Stätte Fleisch ohne Geist, Tod und Todtengebein. Ohne dieses Beten im Kämmerlein des Herzens bleiben wir mit aller Andacht auf der Erde und in der Zeit, und schwingen uns nie in die Ewigkeit über aller Himmel Himmel hinauf, um uns da in den Urquell der ewigen Liebe, wie Tropfen in den Ocean, zu versenken und zu verlieren. Man betet nicht, wenn das Herz nicht betet, und Gott hört nichts als das Herz. (Augustinus.)

Wie lautet endlich die Verheißung und der Segensspruch, den der Herr solchem Gebete ertheilt? Er sagt: Dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten öffentlich. Zweierlei verheißt er. Zuerst: “Dein Vater sieht in’s Verborgene.” Dann: “Er wird’s vergelten öffentlich.” Welch ein Trost und welche Erhebung! Dein Vater sieht in’s Verborgene! Er weiß um deine Noth, Er kennt deine Verlegenheit, Er sieht deine Thränen, Er hört deine Seufzer, Er zählt deine Gebete und berücksichtigt dein heißes Verlangen nach aller Seiner Weisheit und Liebe. Was du Ihm sagst in solcher Herzensstimmung, das findet jederzeit ein geneigtes Ohr und ein williges Herz bei Ihm über den Wolken. Wie groß auch die Noth und wie falsch die Freundschaft und wie mangelhaft auch die Hülfe auf Erden sei: ein Herz giebt’s doch immer, bei welchem wir nie vergebens anklopfen, nie zu oft kommen, nie zu lange verweilen, nie zu stürmisch auftreten; ein Herz giebt es immer, das herzlich Theil nimmt an unserm Ergehen, unsere Noth sich jammern läßt, und nicht nur helfen kann, sondern auch helfen will und wird, wenn es unheilsam ist. – Aber noch mehr, Gott, unser Vater, sieht nicht nur in’s Verborgene unseres Herzenskämmerlein hinein: Er will uns auch vergelten öffentlich, was wir im Verborgenen gefleht haben. Er will nicht nur im Verborgenen dir vergelten, Seine Nähe dich fühlen lassen, und auf deine Fragen dir antworten, daß du jauchzen kannst. “Wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und nach Erde, und wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist Du doch allezeit meines Herzens Trost und mein Theil. Ich habe einen Gott, der da hilft, und einen Herrn Herrn, der auch vom Tode errettet!” und daß du Friede und Ruhe findest über jede Bekümmerniß in deinem Gemüth, - Er will auch öffentlich dir vergelten, will dich heiligen, bessern, verklären, vollbereiten, kräftigen und gründen, in Folge deines geheimen Herzensumgangs mit Ihm; will dich an Geist und Seele so fördern, daß Alle es dir anmerken sollen, welchen wirksamen Einfluß der Umgang mit deinem Herrn auf dich ausübt, wie man mit einem heiligen Gott nicht verkehren kann, ohne heiliger, mit einem gerechten Gott nicht, ohne billiger, mit einem gnädigen Gott nicht, ohne liebevoller, mit einem herablassenden Gott nicht, ohne demüthiger und vertrauensvoller zu werden. Als Moses auf der Höhe des Sinai bei Gott gewesen war und zum Volke hernieder kam, leuchtete sein Angesicht von himmlischem Glanze also, daß die Kinder Israels nicht ertragen konnten die Klarheit seines Anblicks (2. Mos. 34.). Ist aber schon auf Erden die öffentliche Vergeltung und Segnung unseres verborgenen Herzensgebets so groß: wie viel größer noch wird einst im Himmel die ganz offenbare Vergeltung desselben vor allen Engeln und Erzengeln, Menschen und seligen Geistern werden! Dann wird die innere Herrlichkeit des mit Gott in Christo verborgen geführten Lebens öffentlich hervortreten. Aller Augen werden sehen, was auf dem Grunde des betenden Herzens für Glaube, für Liebe, für Ergebung gelegen hat; die Hüllen werden weggenommen und die Auserwählten des Herrn in ihrem ganzen Schmucke leuchten, und Er, der Herr, der uns die Stätte bereitet hat, wird uns dann zu sich nehmen, auf daß wir seien, wo Er ist.

Heil denn Jedem, der das verborgene Herzensgebet treibt und fördert: sein Segen ist groß, hier und dort, zeitlich und ewiglich!

II.

Doch noch eine andere Unart rügt unser Herr im Texte beim Gebet, - eine heidnische, jedes wahre Gebet höchst störende und um allen Segen bringende Unnatur. Er fährt nämlich also fort: Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern, wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viel Worte machen. Jesus meint offenbar unter dem Plappern nicht das wiederholte und häufige Beten; denn Er selbst flehete ja in Gethsemane in großer Herzensangst drei Mal hintereinander immer dasselbe: “Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht, wie ich will, sondern wie Du willst!” und ermahnt uns im Gleichniß vom ungerechten Richter und der armen Wittwe, im Gebete nicht laß zu werden, sondern auch unverschämt Gott mit unserm Kommen und Wiederkommen gleichsam zuzusetzen. Ebensowenig tadelt Er damit das lange Beten; denn Er selbst brachte ja ganze Nächte im Gebete zu Gott zu (Luc. 6,12.), und die Apostel ermahnen uns, anzuhalten im Gebet, zu aller Zeit mit Bitten und Flehen im Geiste zu beten, Tag und Nacht im Gebet und Flehen zu bleiben (Röm. 12,12. Eph. 6,18. Col. 4,2. 1. Thess. 3,10. 5,17. 1. Tim. 5,5.), und die Gemeinde zu Jerusalem betete anhaltend zu Gott für Petrus, als derselbe sich im Gefängniß befand. (Ap.Gesch. 12.) Jesus tadelt damit nur die heidnische gedankenlose und wortreiche Gebetsart, bei de sie meinten, durch die Menge der Worte Gott zur Erhörung nöthigen zu können, und durch das starke Flehen Ihn zu überreden, daß Er ihnen ihre Bitte gewähren möchte. Die Heiden wiederholten ganze Stunden und Tage lang laut hintereinander gewisse Namen ihrer dreißigtausend Götter, bisweilen im Kreise sich unaufhörlich dabei herumdrehend, bis sie schwindelnd hinsanken. Bei Elias Opfer auf Karmel schrieen die Baalspriester einen halben Tag, während sie ihr Blut mit Pfriemen ritzten, fort und fort: “Baal, erhöre uns; Baal, erhöre uns!” (1. Kön. 18,26.) Als Paulus in Ephesus sich aufhielt und ein Aufstand von dem durch die Ausbreitung des Christenthums in seinem Gewerbe verkürzten Goldschmied Demetrius ausbrach, rief das ganze Volk in stürmischer Bewegung zwei volle Stunden lang: “Groß ist die Diana der Epheser!” (Ap. 19,34.) Und wollt ihr heute noch dieses heidnische Geplapper beim Gebete wahrnehmen, so geht in die Tempel der Juden. Da höret ihr Stunden lang ein andachtsloses Geschrei auswendig gelernter Gebetsformeln, in denen auch nicht eine Spur mehr einer Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit vorhanden ist. Oder gehet in die Kirchen unserer katholischen Mitbrüder, und sehet, wie sie ihren Rosenkranz beten; sei es den großen, bei welchem sie 150 Mal die Maria, nach der Zahl der Psalme David’s, anrufen und 15 Mal Gott im Vater Unser; sei es den mittleren, bei welchem sie 63 Mal zur Maria schreien, nach der Zahl ihrer Lebensjahre, und 7 Mal dazwischen das Vater Unser beten; sei es den kleineren, wenn sie 33 Mal, nach der Zahl der Lebensjahre Jesu, dieselben Gebete einförmig wiederholen. Oder belauscht euch selbst einmal bei euren Gebeten; wie oft möget ihr gedankenlos euer Vater Unser im öffentlichen Gottesdienste, wie daheim im stillen Zwiegespräch mit dem Herrn, gedankenlos eure stehenden täglichen Gebete dem Herrn vorbeten, ohne daß irgend eine Ahnung von Herzenserguß und Gemüthssammlung dabei vorhanden wäre! Das wahre Gebet erfordert mehr Herz, als Zunge, mehr Gedanken und Gefühle, als Worte. Betet das Herz, so bedarf es der Lippenbewegung, des Kniebeugens und lauten Sprechens gar nicht. Ein stiller Seufzer ist dem Herrn oft angenehmer, als alle noch so langen und feierlich vorgetragenen Anreden. Ein: “Gott, sei mir Sünder gnädig!” oder: “Herr Jesu, erbarme Dich mein!” hat oft mehr Salbung und Inbrunst, wenn es natürliche Sprache des Herzens ist, als die künstlichsten und den Ohren wohltönendsten Gebete.

Hat nun aber damit der Herr etwa die sogenannten Gebetsformeln, die stehenden, auswendig gelernten Gebete, die Gebete nach Gebetbüchern verboten? Keineswegs; so wenig Er das Lesen menschlicher Erbauungsbücher mit der Ermahnung, in der Schrift zu lesen, verboten hat. Die Hauptsache ist allerdings das Beten aus dem Herzen mit unsern eigenen Worten, und so können denn die fremden Gebete Gott nur dann wohlgefällig sein, wenn sie durch Eingehen unseres Herzens in dieselben unsere eigenen Gebete werden. Aber verboten sind sie keineswegs. Es giebt Lagen und Gemüthsstimmungen im innern Leben, wo unsere eigenen Worte verstummen, wo es in uns so kalt und todt aussieht, daß wir mit Freunden zu einem Spruche in der Bibel oder zu dem Verse eines Gesangbuchliedes oder zu dem Gebete eines frommen bewährten Mannes greifen, und an denselben mit unsern Empfindungen vor Gott gleichsam erst zu Worten kommen. Hat uns doch Jesus zu dem Ende selbst Sein herrliches, unvergleichliches Mustergebet zum öftern Gebrauch auf die Bitte Seiner Jünger gelehrt. Sind wir, genau genommen, doch selbst dann, wenn wir ohne Gebetbuch, dem Zuge unseres eigenen Herzens folgend, beten, eigentlich nur Nachbeter; wir beten nach, was der innere Prediger, der Geist, der uns vertritt, vorbetet. Er betet es in dem Herzen vor, wir beten es aus dem Herzen nach. Es geschieht daher gewissermaßen alles Gebet mit fremden Worten und in fremder Sprache; denn der heilige Geist lehrt jedes andächtige Gebet sprechen, und für den, der noch nicht wiedergeboren ist, ist jedes Gebet eine fremde Sprache. Auch lernen wir ja fast Alle nur durch Nachbeten das eigene Beten, gleichwie man sein Licht bei des Andern Licht anzündet. Nur freilich muß das fremde Gebet mit der eigenen Gebetsstimmung zusammenwachsen, völlig mit ihr eins werden, sie ganz ausdrücken und darstellen, Dollmetscher der eigenen Herzenssprache sein und Auslegung des eigenen christlichen Gefühls. Bloße leere Formeln, ohne Geist und Leben, wären jedenfalls ein Mißbrauch des Gebets, und heidnisches Geplapper, welches gerade Jesus im Texte verworfen hat.

Warum aber verwirft Jesus das heidnische Geplapper? Darum sollt ihr euch ihnen nicht gleichen: euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe denn ihr Ihn bittet. Wir sollen also beten, nicht in der Absicht, Gott über den Zustand unseres Herzens und unser Verlangen erst weitläufig zu belehren und Ihn dadurch zur Abhülfe zu zwingen: nein, Gott kennt unser Bedürfniß viel früher bereits, als wir es fühlen. Wir sollen beten, nicht um Gottes-, sondern um unsertwillen; beten, weil Gott schon weiß, was wir bedürfen, und weil Er, ohne daß wir unserer Bedürftigkeit bewußt geworden sind und diese gläubig verlangend gegen Ihn ausgesprochen haben, es uns nicht geben kann. “Aber,” könnte man einwenden, “wenn Gott schon Alles weiß, was wir bedürfen, ehe wir ihn darum bitten, und ohne daß wir Ihn darum bitten: dann hätten wir ja eigentlich gar nicht mehr nöthig, zu beten? wozu Ihm erst noch sagen, was Er längst schon weiß, und längst besser weiß, als wie es Ihm je aussprechen können?” So spricht der Unglaube, meine Brüder; und wenn irgendwo Unglaube, Aberglaube und Glaube recht bestimmt in ihrem Unterschiede hervortreten, so ist es gerade beim Gebet. Der Unglaube leitet aus Gottes Allwissenheit die Ueberflüssigkeit und Nichtigkeit des Gebets ab, und nach seinem Urtheil ist daher auch das Beten die größte Lächerlichkeit und Narrheit. Der Aberglaube verlangt von Gott Erhörung, nicht um der göttlichen Gnade willen, sondern wegen seines Gebets, wegen seines oft gedanken- und gottlosen Werks. Der Glaube aber betet, weil Gott der Allwissende, der Heilige, der Gnädige ist, weil Gott schon vor dem Beten weiß, was der Mensch zu beten hat, weil Er das Ihm wohlgefällige Gebet selbst wirkt und erfüllt. Ist es schon für uns tröstlich, wenn derjenige, dem wir unsern Kummer entdecken, unsere Lage schon kennt und fühlt, und wir ihm nicht erst Alles haarklein zu erzählen brauchen: um wie viel tröstlicher und erquicklicher ist es, daß der Vater im Himmel schon Alles weiß, was wir Ihm sagen; daß wir nie über etwas Fremdes, sondern allezeit über etwas Ihm schon Bekanntes mit Ihm sprechen; daß wir von vorn herein wissen: An dieser Gottesthür klopfst du nicht vergebens an; hier brauchst du keinen Zweifel zu hegen, ob Er dich auch hören und erhören wolle, werde und könne; hier kannst du mit vollem Vertrauen und mit ganzer Zuversicht hinzutreten; denn du thust ja nur, wozu Er dir gnädige Erlaubniß gegeben, was er dir auf’s Bestimmteste geboten und wozu Er dich unzählige Male aufgerufen hat; wolltest du da zurückbleiben und nicht thun, was Er verlangt, so würdest du Ihn verachten und nicht für den Geber alles dessen, was dir nöthig ist, anerkennen. Der Christ betet demnach nicht um Gottes willen, um Ihm mit seinem Gebete einen Dienst zu thun, sondern um sein selbst willen. Gottes Allwissenheit ist ihm der Trost, daß er nicht falsch und unerhörlich bittet, und treibt ihn erst recht zum Gebete an.

Betet denn, Geliebte! denn das Gebet ist der Prüfstein der Herzen. Wie man betet, so ist man. Betet gern, daß der Umgang mit eurem unsichtbaren Freunde im Himmel euch der liebste Umgang hienieden sei. Betet oft, daß mit jedem Gebet auch das Vertrauen und die Sehnsucht, wieder zu kommen, wachse und auflebe. Betet mit dem erquickenden Bewußtsein, daß ihr, was es auch sei, das euch zum Gebete veranlaßt, immer nur über etwas Bekanntes mit Ihm sprechet. Dann wird es euch nie Angst und Sorge machen, welche und wie viel Worte ihr zu wählen und wie ihr sie zu stellen habt. Ihr werdet sagen, wie es euch um’s Herz ist; ihr werdet die Worte wählen, die euch eure Lage ungesucht und von selbst auf die Lippen legt. Heil solchen Betern! Möchten ihrer recht Viele sein und immer mehr werden in der Christenheit! Je mehr Beter, desto mehr Beglücker der Menschheit, desto mehr segnende Engel auf Erden.

Herr, lehre Du uns selbst beten! Doch du hast es uns gelehrt. So beten wir denn in Jesu Namen, der Erhörung gewiß: Unser Vater, der Du bist im Himmel! Dein Name werde geheiligt; Dein Reich komme; Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden. Unser tägliches Brodt gieb uns heute. Und vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel. Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

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