Seckendorff-Gutend, Henriette Freiin von - Hausandachten - 17. Andacht.
5 Buch Mose 33.
Der Herr hat dem Volk Israel sein Gesetz gegeben, das sie streng zu halten hatten. Wir, meine Lieben, leben in einer viel glücklicheren Zeit, weil Jesus Christus gekommen ist in die Welt, das Gesetz für uns zu erfüllen und es uns nun in Seiner Kraft ganz leicht wird, die Gebote Gottes zu halten. „Wie hat der Herr die Leute so lieb!“ ruft Moses im dritten Vers aus. „Deine Heiligen sind in Deiner Hand; sie werden sich setzen zu Deinen Füßen und werden lernen von Deinen Worten.“ Ja, wer vermag die Liebe Gottes zu ergründen? Alle Heiligen sind in Deiner Hand. Wer noch in sich stecke, den satanischen Einflüssen sein Ohr leiht, die Sünde noch liebt, der, meine Lieben, geht nicht an der Hand des Herrn, denn wer in dem Herrn steht in inniger Gemeinschaft mit Ihm, wer ernstlich über sich wacht und betet und in Jesu bleibt, der kommt in keine Verdammungssünden mehr, denn es steht geschrieben Röm. 8. V. 1.: „So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist.“ Was versteht der Apostel unter dem Verdammlichen oder den Verdammungssünden? Das sind die herrschenden Sünden an uns, wie sie im Galaterbrief Kapitel 5 beschrieben sind: „Offenbar aber sind die Werke des Fleisches, als da sind: Ehebruch, Hurerei, Unreinigkeit, Unzucht, Abgötterei, Zauberei, Feindschaft, Hader, Neid, Zorn, Zank, Zwietracht, Rotten, Hass, Mord, Saufen, Fressen und dergleichen.“ Diese Sünden müssen abgetan werden, wenn wir in Jesu Christo sein wollen; sie dürfen nicht mehr über uns herrschen. Es kleben uns noch genug Sünden an, von denen wir uns jeden Tag mit dem Blut Jesu abwaschen und reinigen lassen müssen, ja den Staub von unseren Füßen zu schütteln haben; es sind die Unterlassungssünden, die vielen Übereilungs- und Schwachheitssünden. Diese kleben uns an bis an unser Ende; zur Reinigung von denselben bedürfen wir immer wieder das Blut Jesu, und dieses wäscht uns auch, so oft wir bußfertig zum Heiland kommen, ganz hell und rein. Die Verdammungssünden aber müssen durch Proben, Übungen und Kreuzigung des alten Menschen unter unsere Füße kommen, wie auch Alles, was unserer Natur behagt, in der Kraft Christi überwunden werden muss, denn:
„Geht's der Natur entgegen, so geht's wie Gott es will.
Die Fleisch und Sinne pflegen, die kommen nicht zum Ziel.“
Das Blut Jesu Christi kann uns wohl von der Last und Schuld der Sünden befreien, wenn aber z. B. ein zorniger Mensch nicht auch die Kraft Jesu Christi anwendet, die ihm der Herr erworben hat durch Seine Sanftmut bis an Sein Ende, und durch diese Kraft seinen Zorn überwindet, so kommt die Seele mit derselben bösen Neigung zum Zorn hinüber, welche sie hienieden nicht durch die Kraft des Blutes überwunden hat. Darum ist es vor großer Wichtigkeit, dass wir es recht ernst mit der Sünde nehmen und die rechten Waffen, die Besprengung mit dem Blut Jesu, gegen sie anwenden, uns Seine Gerechtigkeiten, Seine Tugenden erbitten, so lange es heute, heute heißt. Auf dem Gnadentisch finden wir einen großen Vorrat von Tugenden, die für uns dargelegt sind; wir wollen nicht säumen, sie uns fleißig zu erbitten, damit das Verslein Zinzendorfs die rechte Anwendung auf uns finde:
„Christi Blut und Gerechtigkeit,
Das ist mein Schmuck und Ehrenkleid,
Damit will ich vor Gott bestehn,
Wenn ich im Himmel werd eingehn.“
O, wir wollen den Herrn um Augensalbe bitten, damit wir erkennen, was. Er uns während Seines Erdenwandels von der Krippe bis zur Himmelfahrt erworben hat. Es liegt Alles auf dem Gnadentisch, und der Herr ladet uns schon durch den Propheten Jesaias ein, wenn er spricht Kap. 55: „Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst, beides, Wein und Milch.“ Von diesem Gnadentisch nahm auch ich die Kräfte, meinen Zorn zu überwinden, denn das sah ich wohl ein, dass der Zorngeist Zündstoff der Hölle ist und nicht in das neue Leben mit Christo Jesu taugt. Ich will euch erzählen, in welche Schule der Herr mich führte, um mich von dieser Sünde los zu machen: vor 36 Jahren, als ich den entschiedenen Entschluss fasste, mich zu dem Herrn zu bekehren, erkrankte ich an einer Rückenmarkslähmung und wurde wegen dieses Leidens von den Ärzten zum Gebrauch einer Badekur nach Kagass geschickt. Ich reiste dahin ab, begleitet von einer Jungfer, welche mir als Pflegerin mitgegeben wurde, die aber außerordentlich eigensinnig und ungehorsam war und dazu von der Krankenpflege gar nichts verstand. In diese Lage stellt euch hinein, ihr Lieben: mein Herz, das vom Zorngeist noch nicht frei war, und dieses Mädchens durchaus ungehorsames Betragen! Es war eine herbe, aber heilsame Schule, in die mich der Herr schickte. In der Ewigkeit werde ich es diesem Mädchen danken, dass sie mich so übte und das Werkzeug wurde, durch das mich Gott von dem Zorngeist befreite, der mir schon lange die Quelle großer Betrübnis geworden war. Dass sich mein liebes Ich manchmal gewaltig gegen diese immer wiederkehrenden Übungen sträubte, wird man begreiflich finden, und daher kam es auch, dass ich meinen Herrn und Heiland einmal in aller Einfalt im Gebet frug: „Warum hast Du es zugelassen, dass mir dieses Mädchen zur Pflege mitgegeben wurde?“ Darauf vernahm ich in meinem Innern die bestimmte Antwort: „Weil du durch diese den Zorngeist überwinden sollst.“ Nun hielt ich in dieser Schule gerne stille, nachdem ich diese Antwort von dem Herrn erhalten hatte, und blickte bei den so häufigen Gelegenheiten zu Übungen durch meine Jungfer, bei denen mein stolzes Herz sich noch empören wollte, auf zu dem Herrn. Anstatt durch Äußerungen meinem Unwillen Luft zu machen, betete ich für mich um Kräfte zum Überwinden, zugleich aber auch für mein armes Mädchen, das in des Herrn Hand meine Zuchtrute sein musste. Dadurch bekam ich die erbetene Kraft, wie auch eine Liebe zu dem Mädchen, welche mir eine Macht über ihren bösen Geist gab, so dass nun bei jeder neuen Übung neue Kräfte und Segnungen in Fülle auf mich herabströmten, und ich es vor dem Herrn bezeugen kann: in Seiner Kraft ist der Zorngeist in mir bis zu dieser Stunde völlig besiegt worden. Um aber einen kleinen Einblick in die Art meiner Übungen zu gewähren, will ich von den vielen täglich vorkommenden Übungen nur eine Probe mitteilen: Ich befand mich im Hof Kagass, als mir einmal unvermutet das Geld ausging. Eiligst schrieb ich an meinen Pflegevater und bat ihn, mir so schnell als möglich Solches zu senden, denn an einem Badeort von Geld entblößt zu sein, ist eine gar missliche Sache. Als der Brief geschrieben war, legte ich ihn auf den Tisch und ersuchte das Mädchen, welches um meine Verlegenheit wusste, den Brief sogleich auf die Post, die sich nur eine Treppe weiter unten befand, zu bringen. Gleich darauf fiel ich in einen tiefen Schlaf, aus welchem ich erst am andern Tag wieder erwachte; was wurde ich aber gewahr? mein Brief lag noch auf demselben Platz. Ich fragte meine Jungfer, warum sie den so eiligen Brief nicht besorgt habe, worauf ich zur Antwort erhielt: „Der liegt wohl da, er wird schon fortkommen,“ und mit diesen Worten verließ sie das Zimmer. Ich aber sank wieder in einen tiefen Schlaf, der eine Krisis meiner Krankheit war. Als ich gegen Abend erwachte, lag mein Brief noch da! Am andern Morgen sah ich wieder auf den Tisch: noch immer ist der Brief nicht fort, und ich erhalte auf meine Fragen nur kurze, höchst unfreundliche Antworten. Wäre ich des Geldes nur nicht so sehr benötigt gewesen, ich hätte mich leichter darüber wegsetzen können, aber in meiner großen Verlegenheit war diese Übung sehr schwer für mich. Mein Schlaf kehrte wieder, aber nun bei meinem Erwachen war der Brief endlich nach drei Tagen besorgt. In einer solchen Schule kann man Vieles lernen, wenn sich die Seele dazu hergibt; aber wir sehen auch hieraus, wie viele Mühe der hochgelobte Heiland mit uns hat, bis unser böses, hartes Herz mürbe und gedemütigt ist, bis wir den Zorngeist und alle Verdammungssünden überwunden haben. Ach, wenn wir mehr bedächten, dass wir ja doch einst vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden müssen, wir würden ernstlicher wachen und beten, es würde besser mit uns stehen; wir würden uns keine solche Untreuen und Lügen mehr erlauben; wir würden vor den Flammenaugen Gottes zurückbeben und keine so groben Heucheleien uns zu Schulden kommen lassen. Wenn wir mehr daran dächten, dass wir immer und überall von unsichtbaren himmlischen Zeugen umgeben sind; denn mein Urgroßvater Pfeil sagt:
„Siehe Mensch, es sind um dich,
Unsichtbare Zeugen,
Welche, was du sprichst und tust,
Oben nicht verschweigen.“
wenn Alles, was wir den Tag über denken, reden und tun, notiert und uns am Abend vorgelesen würde vor einer großen Gesellschaft, wie würden wir uns da schämen; und nun wissen wir, dass unsere geheimsten Gedanken drüben offenbar sind. Welch unerhörte Frechheit gehört dazu, dennoch fortzulügen und fortzusündigen! Wir wollen das doch recht tief zu Herzen fassen, und uns stets erinnern, dass wir in der Allgegenwart des Heiligen Gottes leben und von einer Schar unsichtbarer Zeugen umgeben sind, die uns behüten und beschützen, wenn wir keusch und in der Wahrheit wandeln. Zu den Wahrheitsliebenden und Aufrichtigen bekennt sich der Herr; „den Aufrichtigen lässt Er's gelingen.“ Spr. 2,7. Diese Erfahrung mache ich täglich bei meinen Kranken. Sind sie offen, ehrlich und aufrichtig, da heilt der Herr rasch. Die Unaufrichtigen rührt Er nicht an. Der stolze Heilige muss zuvor aus dem Herzen heraus, ehe der Herr Gemeinschaft mit uns haben und uns Seiner Gnade und Segnungen teilhaftig machen kann. Wir müssen uns vorher ganz und gar vernichten lassen, uns als „Hündlein“ fühlen, wie das kananäische Weib dem Herrn zu Füßen liegen, stille, willenlos. „Sie werden sich setzen zu Deinen Füßen, und werden lernen von Deinen Worten,“ heißt es V. 3. Der verstorbene Stadtpfarrer Knapp in Stuttgart hat oft von der Kanzel herunter gesagt, es habe keinen Anstand, dass wir heute noch mit dem Herrn umgehen können wie damals Maria und Martha. Wir dürfen nur auf's Wort blicken und im festen unerschütterlichen Glauben Seiner Nähe uns vergewissern. Das, meine Lieben, ist das seligste Geschäft, im Geiste ganz stille vor dem Herrn liegen und Seine heiligen für uns durchgrabenen Hände im Glauben segnend auf unserem Haupt ruhen zu lassen. Da ist's ganz still, in und um uns, und wir lauschen nur Seinen Worten. Der Heiland hat viel mehr mit uns zu reden als wir mit Ihm, aber unsere unruhige, geschwätzige, flatterhafte Natur ist kaum im Stande, einige Minuten still, ganz still vor dem Herrn zu stehen; und doch sind das die seligsten Augenblicke, wo wir so ganz in den Herrn versenkt, nichts wollen, als nur bei Ihm sein, und auf Ihn hören. O, übt euch doch recht, in dieses selige Geheimnis einzudringen, ihr werdet dann eine mächtige Wirkung der Kraft und des Segens verspüren. Je mehr wir von uns selbst, von der Welt mit all ihrem Tand und ihrer Eitelkeit los werden, desto mächtiger werden wir die Kraft Jesu und die feine Zucht des heiligen Geistes erfahren, allen Versuchungen unserer arglistigen Feinde widerstehen und unserer ewigen Bestimmung entgegen reifen können. Zu Priestern und Regenten will uns der Herr einst machen in Seinem ewigen Reich. Dieser hohen Bestimmung eingedenk dürfen wir wohl allen Ernstes an die gründliche Änderung und Bekehrung unseres verzweifelt bösen Herzens gehen, mit Furcht und Zittern schaffen, dass wir selig werden, uns aufraffen aus dem Schlaf der Trägheit und Sicherheit unseres bösen, niedersinnlichen Wesens, und ohne Unterlass um die Kraft Jesu und um Seine Tugenden bitten, damit wir eindringen mögen in die Geheimnisse des seligen Heilsplans Gottes. Vor Widerwärtigkeiten und Demütigungen wollen wir nie zurückschrecken, sondern uns gerne diese Gnadenzucht gefallen lassen, die wir zu unserer Läuterung und zum inneren Wachstum so nötig haben, die Hand des Herrn, der sie uns zuschickt, küssen, und uns willig unter dieselbe beugen. Meine Lieben, was könnte der Herr aus uns machen, wenn wir uns Ihm ganz willenlos übergeben und Ihm vertrauensvoll Alles überlassen würden? Ach, lasst uns aufwachen von unserem Schlaf und erkennen zu dieser unserer Zeit, was zu unserem Frieden dient! In der Lebensgeschichte des verstorbenen Pfarrers David Spleiß las ich einmal, wie dieser eifrige Gottesmann, als einst in der Kirche unter der Schar der Knaben, die um den Altar saßen, (von wo aus er zu der Gemeinde redete,) ein kleiner Kuhhirtenknabe eingeschlafen war, er denselben mit den Worten aufgerüttelt habe: „Du Kuhhirtenbub', wache auf, der Herr will dich zu einem König und Priester in Seinem Reich machen!“ Das habe auf den kleinen Knaben und auf die Gemeinde einen tiefen Eindruck gemacht.
In der Ewigkeit werden wir einst sehen und erfahren, was dieser Ruf gewirkt hat. Vor dem Herrn gilt kein Ansehen der Person. Aus den niedrigsten Hütten und aus der verachtetsten Menge wählt Er sich Seine Nachfolger aus. Wohl uns, wenn wir seinem Rufe folgen und uns durch keine Lust der Welt mehr reizen und locken lassen. Keine Kreatur, nicht Vater, nicht Mutter, weder Bruder noch Schwester, weder Mann noch Weib, nicht Sohn oder Tochter darf uns lieber sein als der Herr. Der Wille des Herrn muss über Allem stehen, und keine Rücksicht der Welt darf uns abbringen von der Heiligen Pflicht, die wir dem Heiland schuldig sind. Rein ab der Welt, und ganz Christo an, das muss unsere Losung sein; danach wollen wir streben, und mit heiligem Eifer uns zu Ihm bekennen. Die Gnade und Treue unseres Heilandes helfe uns dazu. Das walte Gott! Amen.