Quandt, Emil - Die sieben pastoralen Sendschreiben der Offenbarung Johannis - V. Das Sendschreiben an den Engel in Sardes.

Quandt, Emil - Die sieben pastoralen Sendschreiben der Offenbarung Johannis - V. Das Sendschreiben an den Engel in Sardes.

Offenb. Joh. 3, 1-6.
Und dem Engel der Gemeine zu Sardes schreibe: Das sagt, der die Geister Gottes hat und die sieben Sterne: Ich weiß deine Werke; denn du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot. Sei wacker und stärke das Andere, das sterben will; denn ich habe deine Werke nicht völlig erfunden vor Gott. So gedenke nun, wie du empfangen und gehört hast, und halte es, und tue Buße. So du nicht wirst wachen, werde ich über dich kommen wie ein Dieb, und wirst nicht wissen, welche Stunde ich über dich kommen werde. Du hast auch wenig Namen zu Sardes, die nicht ihre Kleider besudelt haben; und sie werden mit mir wandeln in weißen Kleidern, denn sie sind es wert. Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angelegt werden, und ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buch des Lebens, und ich will seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinen sagt. Amen.

Sardes, einst die Hauptstadt des alten Reiches Lydien, dessen letzter König Krösus war, ungefähr gleich weit abgelegen von Ephesus, Smyrna und Pergamus, war in der apostolischen Zeit eine mittelgroße, aber üppige Stadt, in der sich viele Juden mit ansehnlichen Privilegien befanden. Wann die christliche Gemeinde hier entstanden, ist unbekannt; wir finden sie zuletzt noch im zweiten Jahrhundert erwähnt; der Bischof Melito von Sardes (gest. 170) war ein gefeierter Kirchenlehrer. Jetzt ist die Stadt ein mächtiger Trümmerhaufen, unter welchem als großartigste Ruine der Tempel der Kybele, das älteste Denkmal ionischer Baukunst, hervorragt. Aus dem Gemäuer der alten Christenkirche ertönt das Lied der einsamen Steindrossel, und aus den Palastruinen des Krösus ertönt die Pfeife der Kameltreiber. Ein Komplex von einigen elenden türkischen Hütten innerhalb der Trümmer führt noch heute den Namen Sart; Schubert fand auf seiner Orientreise dort auch zwei Christen vor.

Kap. 3, Vers 1. Und dem Engel der Gemeinde zu Sardes schreibe: Das sagt, der die Geister Gottes hat und die sieben Sterne: Ich weiß deine Werke; denn du hast den Namen, dass du lebst und bist tot. Die Bezeichnung des Herrn, dass er die sieben Sterne hat, ist aus der Beschreibung von Kap. 1, 16 wieder aufgenommen und findet sich auch im Eingang des Sendschreibens an den Engel von Ephesus (2, 1); sie charakterisiert den Herrn als den Machthaber der Engel der Gemeinden, als den, der sie in ihr Amt eingesetzt hat, und dem sie für die Verwaltung ihres Amtes Rechenschaft schuldig sind. Die Bezeichnung des Herrn, dass er die Geister Gottes hat, ist nicht aus der Beschreibung Christi Kap. 1, 13-16 entlehnt, sondern sieht zurück auf Kap. 1, 4, wo Johannes den Gemeinden Gnade und Friede wünscht von den sieben Geistern, die da sind vor Gottes Stuhl, d. h. von dem heiligen Geiste als dem in den sieben Gemeinden und der durch sie repräsentierten Gesamtkirche waltenden und wirkenden Geiste. Christus hat die Geister Gottes, hat den heiligen Geist mit der ganzen Mannigfaltigkeit seines Wirkens; er ist der Herr wie über die Vorsteher der Gemeinden, so über die Gemeinden selbst. 2. Kor. 3, 17 heißt es sogar: Der Herr ist der Geist; dort wie hier eine Ineinssetzung des erhöhten Heilandes und des Heiligen Geistes. Der Engel von Sardes soll von vorn herein merken, dass, was ihm und seiner Gemeinde in dem Sendschreiben gesagt wird, aus dem Munde der höchsten Autorität stammt, deren Worte nicht gedreht und gedeutelt werden, sondern in Demut und tiefer Ehrerbietung hingenommen werden müssen. Mit erschütterndem Ernste ertönen diese Worte. Von einer gütigen Hervorhebung und Anerkennung von irgendetwas Löblichem, womit die vier vorangegangenen Sendschreiben beginnen, ist gar keine Rede ebenso wenig wie später in dem Sendschreiben an Laodicea, sondern die Eröffnung hebt sofort an mit einem Tadel und zwar mit dem stärksten Tadel, der denkbar ist: „Du hast den Namen, dass du lebst und bist tot.“ Wie sehr beugt es schon, wenn der Herr dem Hirten einer mit seinem Blut erkauften Gemeinde zuruft: Ich habe ein Kleines oder ein Großes wider dich; wie niederschlagend ertönt das Wort des Herrn an den Engel der letzten der sieben Gemeinden: du bist lau; aber wie sehr treten diese Tadelsäußerungen zurück vor den Vorwurf gegen den Engel. von Sardes: du bist tot. Es ist das ein Urteil, das Mark und Bein erschüttert; es ist von allen Urteilen der sieben Sendschreiben das allerstrengste. Wie haben wir es zu verstehen? In welchem Sinne ist der Engel von Sardes ein toter Engel? In dem Sinne nicht, dass alles geistliche Leben bei ihm gestorben und verdorben wäre; sonst könnte ihm nicht zugerufen werden V. 1-2: „werde wachend und stärke das Andere“ und V. 3: „Gedenke und tue Buße“; nur von einem geistlichen Scheintode kann die Rede sein, aus dem ein Erwachen und ein Einwirken auf Andre, die in ähnlichem Tode liegen, möglich ist. Tot ist der Engel von Sardes und hat doch den Namen, dass er lebt. Es ist ein kindlicher und doch abzuweisender Einfall des seligen Prälaten Bengel, wenn er hier eine Anspielung findet auf den historischen Namen des sardischen Pastors, als wenn derselbe etwa Lebemann, Kosimus, Vitalis oder ähnlich geheißen habe. Mag er geheißen haben, wie er will, er war bekannt, so zu sagen renommiert, als ein lebendiger, eifriger Zeuge Christi und Diener am Wort; er konnte Werke, Leistungen aufweisen, die einen großen christlichen Schein hatten, nicht nur vor der Welt, sondern auch vor der Christenheit. Der Scheintote führte also zugleich ein Scheinleben; das ganze Christentum war in Sardes und bei dem Hauptvertreter des Christentums in Sardes zum leeren Schein geworden. Wir haben uns zu denken, dass Sardes im Bekenntnis durchaus orthodox war, dass die gottesdienstlichen Übungen strenge gehalten wurden, dass in der Betreibung der Angelegenheiten des Reiches Gottes reger Eifer herrschte; von der sardischen Frömmigkeit und dem blühenden sardischen Gemeindeleben wurde weit und breit geredet, und der Engel von Sardes sonnte sich in dem Rufe einer ausgezeichneten Christlichkeit, Rechtgläubigkeit und Gottesdienstlichkeit. Aber vor dem Auge des Herrn, vor dem nicht gilt, was Andre rühmen, und der mit andrer Waagschale wiegt, als den Menschen zu Gebote steht, war das Alles banausisch, schalenhaft, Tünche, Auswendigkeit.

Es gibt eine Routine des Christentums ohne Christentum, eine handwerksmäßige Betreibung der heiligsten Dinge ohne Lack und Schmack, ein mechanisches, schematisches, formalistisches geistliches Wesen oder Unwesen, davon man nur sagen und seufzen kann: davor behüte uns, lieber himmlischer Vater! Und doch ist dies gespenstige Christentum, das nicht ganz lebt und nicht ganz tot ist, eine viel größere Gefahr für Pastoren, auch in der Gegenwart, als gemeinhin angenommen wird. Namentlich in großen Städten mit ihren langen Straßen, mit ihren menschlichen Massen, mit ihren riesenhaften Anforderungen ist die Gefahr für einen Pastor groß, entweder früh leiblich zu Grunde zu gehen oder in pastorales und geistliches Scheinleben zu geraten; aber auch in kleineren Städten und auf Dörfern hat man manchen Pastor so gekannt, der mehr tot als lebendig war.

Bei vielen unter uns ist mehr Schein des Lebens, als Wirklichkeit desselben, und die meisten gelten mehr, als sie sind. Du hast den Namen, dass du lebst, und du bist tot, sagt der Herr zum Engel von Sardes was sagt Er zu mir? König, dem wir alle dienen, ob im Geiste, das weißt du, reiße uns durch dein Versühnen aus der ungewissen Nuh'; mache den Gedanken bange, ob das Herz es redlich mein', ob die Seele an dir hange, ob wir scheinen oder sein!

Vers 2. Sei wacker und stärke das Andre, das sterben will; denn ich habe deine Werke nicht völlig erfunden vor Gott. Das schneidende Urteil: „du bist tot“, ist nicht das letzte, nicht das endgültige Urteil des Herrn über den Engel von Sardes welches als solches ihn ja für immer vom Leben und von der lebendigen Einwirkung auf die Gemeinde ausschließen würde sondern ein Bußruf, welcher die Möglichkeit der Umkehr voraussetzt und anbahnt. Die Umkehr muss mit dem Aufwachen aus dem Scheintod beginnen; sei wacker, ruft der Herr dazu dem Engel zu, eigentlich werde wach. Der geistliche Scheintod ist also zugleich als Seelenschlaf gedacht und aus demselben will das Sendschreiben den Engel und seine Gemeinde aufrütteln. Der Ausdruck „werde wach“ erinnert an Epheser 5, 14: „Wache auf, der du schläfst und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten“ und an das Kirchenlied: Wachet auf, ruft uns die Stimme. Der Sinn ist: Der sardische Pastor soll sich emporraffen aus seinem äußerlichen Gewohnheitschristentum, soll das Netz der Selbsttäuschungen, in das er sich eingesponnen, zerreißen, sich aber nicht nach kurzer Aufrüttlung wieder schlaftrunken niederlegen, sondern wach werden, wach sein und bleiben, und zwar nicht bloß um seiner selbst willen, sondern um der Gemeinde willen, innerhalb deren er das heilige Amt des Vorstehers bekleidet. Stärke das Andere, das sterben will werde wach und bleibe wach, um ein Lebenswecker und Lebensstärker zu sein für die sonst hinsterbende Gemeinde. Das andre, das übrige, das ebenso wie der Engel selbst im Sterben liegt, ist die Gemeinde in ihrer überwiegenden Mehrzahl; nur die wenigen Namen von Vers 4 sind ausgenommen. Es ist mit der Gemeinde, wie mit dem Engel; die Todesmattigkeit ist bei beiden unter gleichem Schein des Lebens die gleiche, aber ein Rest von geistlicher Lebenskraft ist wie bei ihm, so auch bei ihr vorhanden; diese fast erloschene Kraft weckt und stärkt der Herr in dem Engel, damit der Engel sie wecke und stärke in der Gemeinde. Werde wach und stärke, was sterben will es ist das zugleich eine Direktive für alle Geistlichen und alle Gemeinden, für die ganze Kirche zu jeder Zeit. Wachsam zu sein und immer mehr zu werden und mit helfender Hand zu stärken, was krank ist in der Christenheit und dem Tode nah, das ist und bleibt allgemeine Christenpflicht, Gemeindepflicht, Kirchenpflicht. Es ist das Grundübel der sardischen Art, des unlebendigen, formalen, nominalen Christentums, dieser Pflicht zu vergessen und dabei nicht einmal zu ahnen, dass man pflichtvergessen ist. Das weiß der treue Herr der Kirche und sorgt daher dafür, dass der alte Weckruf immer von neuem ertöne: Werde wacker und stärke, was sterben will! Als in der lutherischen Kirche mit reinster Lehre und rechtgläubigster Theologie weitgehender Weltsinn und fleischliche Leidenschaftlichkeit sich verbanden, da erweckte der Herr seinen Knecht Spener und den Pietismus, um das Christentum aus dem Kopf wieder ins Herz zu bringen. Und als in unserm Jahrhundert eine Zeit kam, wo es am trübsten und am finstersten war, da erweckte der Herr seinen Knecht Wichern und die innere Mission. Die innere Mission, die Gott segnen wolle, ist keine Kirche außer der Kirche, keine Kirche neben der Kirche, nicht einmal eine Kirche in der Kirche, sondern eine schlichte Glöcknerin der Kirche, aber die Glöcknerin von Gottes Gnaden, die nicht müde wird, den Doppelruf aus dem Sendschreiben an Sardes durch unsre Zeit zu läuten: Kirche des Herrn, öffne deine Augen für dies aus tausend Wunden blutende Geschlecht! Kirche des Herrn, stärke, was sterben will, fache die im Erlöschen begriffenen Lebensfunken zu hellen Flammen an! Wohl unsrer Kirche, wohl unsern Gemeinden, wenn sie diesem Glockenklange der inneren Mission lauschen und nicht bloß lauschen, sondern sich von Gott erbitten, was Gott von ihnen haben will, das offene Auge für die Schäden dieser Zeit, die stärkende Hand zur Heilung der Wunden dieser Zeit. Dies offene Auge, diese stärkende Hand hat nicht Jedermann, hat nicht jeder Christ, hat nicht einmal jeder positive Christ. Es steht doch in der Tat bei vielen, die sich als gute Christen fühlen und gute Christen heißen, so: Sie glauben an den Herrn Jesum, sie hoffen auf die ewige Seligkeit, sie bestreben sich, den lieben Gott zu lieben, sie lieben sich selbst ohne Einschränkung, sie lieben die Brüder und die Nächsten mit allerlei Einschränkungen und mentalen Reservationen, aber sie sind blind gegen die geistliche Not unsrer Zeit, für das Elend in unsrer lieben, teuren evangelischen Kirche; oder besten Falls sind ihre Augen dafür nur halb und müde geöffnet, ihre Hände aber rühren sich weder dafür, noch öffnen sie sich dafür, noch falten sie sich dafür. Da soll man Gott danken, dass die innere Mission auf dem Plane ist, die Gewissen der Christen und sonderlich der Pastoren zu wecken mit dem apokalyptischen Wort aus dem Munde des Herrn: Sei wacker und stärke das Andere, was sterben will!

Denn ich habe deine Werke nicht völlig erfunden vor Gott (oder nach andrer Lesart vor meinem Gott). Es ist nicht einzusehen, warum, wie Etliche annehmen, die Werke an dieser Stelle etwas Anderes bedeuten sollten, als was sie sonst in den Sendschreiben bedeuten. Die Werke von Sardes, die der Herr kennt und die nach seinem und Gottes Urteil nicht völlig sind, bezeichnen den religiös-sittlichen Gesamtzustand der Gemeinde; die ganze Tätigkeit des sardischen Pastors war nicht völlig, nicht voll; der Ausdruck erinnert an Ev. Joh. 16, 24, wo von der völligen, vollkommenen Freude die Rede ist als von dem herrlichen Zustande des normalen, in Geist und Wahrheit getauchten Lebens. Nach eignem und andrer Leute Urteil war der Zustand des sardischen Christentums ganz vortrefflich; nach Gottes und Christi Urteil war er nichts weniger, als vortrefflich, er war nicht völlig, sondern leer und lahm; und darum eben hält der Herr die ausrüttelnde und aufschüttelnde Mahnung für notwendig.

Vers 3. So gedenke nun, wie du empfangen und gehört hast und halte es und tue Buße. So du nicht wirst wachen, werde ich über dich kommen, wie ein Dieb, und wirst nicht wissen, welche Stunde ich über dich kommen werde. Es ist dies eine Erinnerung wie die in dem Sendschreiben an Ephesus (Kap. 2, 5): Gedenke, wovon du gefallen bist. Empfangen und gehört hatte der Engel von Sardes seiner Zeit das Wort der Wahrheit und des Lebens, und wie hatte er es empfangen? Es geht dies wie wohl weniger auf den Inhalt und die Art des empfangenen Wortes, als vielmehr auf die Weise des Empfangens dieses Wortes: Der Engel soll sich die selige Zeit ins Gedächtnis zurückrufen, da er mit warmer Hingabe und herzlicher Freude den Ruf in das Reich Jesu Christi und den Ruf in das Amt, das die Versöhnung predigt, vernommen, nicht um in solcher Rückerinnerung an bessere Tage müßig zu klagen: „Ach wie liegt so weit, was mein einst war!“, sondern um Buße zu tun, um bußfertig den vorigen Stand wieder zu erringen, um den Bund der Treue noch einmal zu erneuern und den erneuerten Bund fester zu bewahren, um das einst so freudig Empfangene aus der Erinnerung wieder ins Herz zu nehmen und mit der Tat zu befolgen. Tut er das nicht, wird er nicht wach, wachend und wacker, führt er auch nach dieser gewaltigen Erinnerung seines Herrn das alte Scheinleben weiter, so muss die gnädige Heimsuchung des Herrn der gerichtlichen Heimsuchung Platz machen, die ebenso unausbleiblich, als plötzlich ist. Wie ein Dieb wird der Herr zum Gericht über Sardes kommen, wenn es nicht wach wird und Buße tut; die unter dem Sande begrabenen Trümmer von Sardes, an deren Ausgrabung man sich in neuerer Zeit gemacht hat, bezeugen es, dass der Herr mit Erdbeben und anderen Gerichten über die sardische Gemeinde gekommen ist buchstäblich wie ein Dieb in der Nacht. Das Bild vom Diebe lehnt sich an den Ausspruch des Herrn Matth. 24, 42. 43. und Luk. 12,39 an; aber während dort das Hereinbrechen der Gerichtskatastrophen mit dem Einbruch eines Diebes verglichen wird, vergleicht sich hier der zum Gericht kommende Herr selber mit einem Diebe, wie noch einmal Offenbarung 16,15: Siehe, ich komme als ein Dieb. Der Apostel Paulus 1. Thess. 5, 2 und 4 sagt von dem Tage des Gerichts, dass er kommen werde wie ein Dieb in der Nacht; und Petrus 2. Petri 3, 10 sagt ebenso: Es wird aber des Herrn Tag kommen als ein Dieb in der Revisor Nacht; die direkte Vergleichung des Herrn mit einem Diebe ist der Offenbarung Johannis eigentümlich; sie hat zunächst etwas Befremdendes, ist aber nach der Analogie der Vergleichungen Gottes, des Vaters, mit einem müden Freunde Luk. 11,8 und eines weisen Christen mit dem ungerechten Haushalter Luk. 16 zu beurteilen, bei denen der Ausleger immer sich gegenwärtig halten muss, dass es bei den biblischen Bildern ausschließlich auf symbolische Bedeutsamkeit, nicht auf ästhetischen Eindruck abgesehen ist. Bei der Vergleichung des zum Gericht erscheinenden Herrn mit einem nächtlichen Einbrecher ist aber noch etwas Besonderes zu beachten, worauf schon Bengel aufmerksam gemacht hat. Wenn der Vergleichungspunkt einzig und allein in der Überraschung liegt, wie das die Erläuterung: „und du wirst nicht wissen, zu was für einer Stunde ich über dich kommen werde“ noch ausdrücklich sagt, so findet doch auch in diesem tertium comparationis noch ein sehr bedeutsamer Unterschied statt. Ein Dieb sagt es natürlich gar nicht, wann er kommen will, weder kurz noch lang vorher; aber der Herr Jesus sagt seine Ankunft vorher zur Warnung, obschon die Ankunft selbst zu ihrer Zeit unvermutet geschieht.

Vers 4. Du hast auch wenig Namen zu Sardes, die nicht ihre Kleider besudelt haben und sie werden mit mir wandeln in weißen Kleidern; denn sie sind's wert. Das ist der Vorzug, den selbst das tote Sardes noch vor dem lauen Laodicea hat, dass in der Gemeinde doch noch einige, wenn auch nur wenige Namen waren, die ihre Kleider nicht besudelt hatten, Namen, d. h. Gemeindeglieder, die das in der Tat waren, was ihr Name aussagte, nämlich Christen. Sie machten ihrem Christennamen Ehre; Name und Wesen stimmten bei ihnen harmonisch zusammen. Die Bezeichnung Name für Person ist hebraisierend; die Namen der Kinder Israel sind im Alten Testament oft die Personen in Israel; im Neuen Testament kommt es sonst nur noch Apostelgesch. 1, 15 vor, dass die Personen des Israels rechter Art als Namen bezeichnet werden. Das echte Christentum dieser wenigen geweihten Persönlichkeiten in der sardischen Gemeinde wird mit den Worten gekennzeichnet: Sie haben ihre Kleider nicht besudelt. Die Bekleidung, dies Äußerlichste am Menschen, steht hier als Bild des Innerlichsten, des Herzens. Die wenigen Lebendigfrommen in Sardes hatten ihre Herzen nicht befleckt, nicht verunreinigt, nämlich nicht mit der sonst allgemeinen sardischen Sünde der geistlichen Erstorbenheit und Verdorbenheit. Nicht unwahrscheinlich ist, dass der Ausdruck „besudeln“ auf nikolaitische und isabelartige Erscheinungen der sardischen Erstorbenheit anspielt. Sie haben sich, wie Bengel sagt, von dem Fleisch und von der Welt unbefleckt bewahret. Die gangbarste Auslegung deutet die Kleider, die jene Auserwählten in Sardes nicht besudelt hatten, nicht auf die Herzen, sondern auf die Gerechtigkeit, mit der Gott in Christo die gläubigen Herzen bekleidet hat, wie wir singen: Christi Blut und Gerechtigkeit das ist mein Schmuck und Ehrenkleid; der Sinn ist dann: Die sardischen Auserwählten haben nach empfangener Vergebung der Sünden nicht, wie die Andern, Schuld auf Schuld gehäuft. Wie man auch auslege, die Hauptsache wird immer feststehen, dass, was der Herr zu Anfang als geistlichen Tod bezeichnete, er hier nach einer andern Seite hin als eine Befleckung bezeichnet, und dass in der sardischen Gemeinde Einige als Stille im Lande vorhanden waren, die dem Herrn in tiefster Seele treu geblieben waren und sich nicht von dein allgemeinen Verderben hatten fortreißen lassen. Sie werden mit mir wandeln in weißen Kleidern, denn sie sind es wert, spricht der Herr. Soll das ein Gnadenlohn sein, der den wenigen Treuen schon in diesem Leben zu Teil wird? Es ist so gedeutet und gesagt worden: Unter den weißen Kleidern haben wir die Kleider der Gerechtigkeit zu verstehen, die der Heiland uns erworben hat und die dem Glauben zugerechnet und geschenkt wird; das Wandeln in diesen Kleidern weist dann hin auf den freien, offenen Zugang zu seinem Gnadenstuhl und auf die Lebensgemeinschaft mit ihm. Es kann ja nicht geleugnet werden, dass diese Deutung praktisch sich sehr erbaulich verwerten lässt dahin, dass es etwas Großes ist, mit dem Herrn Jesu wandeln und an seiner Hand auf der armen Pilgerstraße des Lebens pilgern zu können; durch welches Gedränge es dann auch hindurchgeht, welche Tränenwege dann auch eingeschlagen werden müssen, man zieht doch fröhlich seine Straße. Indessen wenn doch im folgenden Verse die weißen Kleider, mit denen der Überwinder angetan werden soll, ohne alle Frage auf die strahlenden Gewänder bezogen werden müssen, in denen die vollendeten Gerechten vor dem Throne des Lammes prangen, so können die weißen Kleider in diesem Verse doch nicht ohne Zwang anders verstanden werden, zumal der Ausdruck „sie werden mit mir in weißen Kleidern wandeln“ direkt in die Zukunft hineinweist. Und wenn man geltend macht, die weißen Kleider im folgenden Verse sollten doch dem Überwinder erst angetan werden, in diesem Verse sei aber die Rede von einem Wandeln in weißen Kleidern, folglich wären die weißen Kleider dort andre, als hier, so presst man wechselnde Nebenausdrücke der bildlichen Rede in ungehöriger Weise. Wir verstehen die weißen Kleider in diesem, wie im folgenden Verse von der jenseitigen Heiligkeit und Seligkeit der Vollendeten: Die, die sich von dem verderbten Wesen in Sardes unbefleckt erhalten haben, sind es wert, sind der weißen Kleider würdig, nach der Idee der gerechten Vergeltung, nach welcher umgekehrt Offb. 16, 6 es von den Gerichteten heißt: „Sie haben das Blut der Heiligen und Propheten vergossen, und Blut hast du ihnen zu trinken gegeben, denn sie sind's wert.“ Es versteht sich von selbst, dass die Würdigkeit, die weißen Kleider zu empfangen, nicht eine natürliche, sondern eine übernatürliche ist; weil sie die Gnade angenommen und bewahrt haben, will es Gott ihnen aus Gnaden mit der ewigen Herrlichkeit lohnen. Der Herr weist jedem seine Stelle an nach dem Maße, als er die heiligende und reinigende Gnade in sich wirken lässt.

Vers 5. Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angelegt werden, und ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buche des Lebens, und ich will seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln. Die Verheißung der ewigen Herrlichkeit, die im vorigen Verse die wenigen Reingebliebenen empfingen, erweitert sich hier zu einer allgemeinen für alle Überwinder, also auch für den Engel von Sardes selbst und die Andern, die sterben wollen, wenn sie aufwachen, wenn sie Buße tun, wenn sie stark werden in dem Herrn und in der Kraft seiner Stärke treu ausharren bis ans Ende.

Hat der Hinweis auf das Gericht den Engel und die Gemeinde aus ihrem Todesschlafe aufgeschreckt, so soll nun diese gnädige Schlussverheißung sie ermuntern und ermutigen zu neuem, wahrhaftigen Glaubensleben. Es ist ein dreifaches, was den Überwindern zugesagt wird. Erstens sollen sie die weißen Kleider erlangen. In Weiß, als in die Farbe, die die göttliche Herrlichkeit und Heiligkeit abspiegelt, kleiden sich die himmlischen Erscheinungen; Licht ist dein Kleid, das du anhast, singt der Psalmensänger (Psalm 104) von dem großen Jehova; auf dem Berge der Verklärung wurden die Kleider des Herrn weiß, wie ein Licht (Matth. 17); am offenen Ostergrabe saßen die zwei Engel in weißen Kleidern (Ev. Joh. 20, 12); die vierundzwanzig Ältesten um den Thron des Allmächtigen sind mit weißen Kleidern angetan (Offb. 4, 4), und die aus großer Trübsal in den Himmel Gekommenen sind ebenfalls mit weißen Kleidern angetan (Offb. 7,13. 14). Die weißen Kleider der Überwinder bedeuten also ihre himmlische Herrlichkeit.

Zweitens soll der Name des Überwinders nicht ausgetilgt werden aus dem Buche des Lebens. In der herrlichen Bildersprache der Bibel ist eines der schönsten und am meisten wiederkehrenden Bilder das, welches uns den großen Gott abbildet als mit einem Buche vor seinem Angesicht, in welches er die Namen der zum ewigen Leben Auserwählten wie in eine Liste - gleichsam die Bürgerliste des Reiches Gottes - eingezeichnet hat für sein eignes gnadenvolles Gedenken. Die Grundstelle für dieses Bild ist 2. Mose 32, 32, wo Moses in der Verwirrung seiner großen Sorge um das Volk Israel, das sich goldene Götter gemacht hat, wie außer sich selbst zu Gott sagt: „Vergib ihnen ihre Sünde; wo nicht, so tilge mich auch aus dem Buche, das du geschrieben hast“ und wo Gott dem Moses antwortet: „Wer an mir gesündigt hat, den will ich austilgen aus meinem Buche.“ Die zweite alttestamentliche Hauptstelle für dies Bild ist Psalm 69, 29, wo David in Bezug auf die Gottlosen betet: „Tilge sie aus dem Buche der Lebendigen, dass sie mit den Gerechten nicht angeschrieben werden.“ Wenn in diesen zwei alttestamentlichen Stellen und den ähnlichen, Psalm 139, 16; Jesaias 4, 3, 49, 16; Daniel 12, 1; Maleachi 3, 16 das göttliche Buch noch mehr auf dies zeitliche, irdische Leben gedeutet werden kann, so wird im Neuen Testamente dieses Buches doch schlechterdings nur in Beziehung auf das ewige Leben und die zum ewigen Leben Verordneten gedacht, wie in dem Ausspruch des Herrn an die Siebzig Luk. 10, 20: „Freuet euch, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind“, wie in dem Wort Pauli an die Philipper 4,3: „Die Namen des Clemens und meiner andern Gehilfen sind in dem Buche des Lebens“, wie in der Offb. Joh. an unsrer Stelle und 13,8; 17,8 (wo das göttliche Buch den großartigen Titel erhält: Das Buch des Lebens von Anfang der Welt); 20, 12; 21, 27. Es ist eine viel zu kleinliche Behandlung biblischer und insbesondere prophetischer und apokalyptischer Bilder, wenn man hier das Buch des Lebens als das Buch des ewigen Lebens deswegen nicht gemeint findet, weil eine Auslöschung der Namen aus diesem Buche mit diesem Buche sich nicht vertrage; eine Vergleichung hat immer etwas Poetisches und darf nicht prosaisch bis ins Detail gepresst werden. Der Sinn des poetischen Ausdrucks: Ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buche des Lebens, liegt ja überdies auf der flachen Hand: Wer Christi Gnade verschmäht oder nach scheinbarem Ergreifen sie verschmäht, wird nicht selig werden; wer die in Christo dargebotene Gnade ergreift oder die verlorene in Buße wieder ergreift und bis ans Ende beharrt, wird selig werden. Zum Dritten will der Herr den Namen des Überwinders bekennen vor seinem Vater und seinen Engeln. Damit wiederholt der zur Rechten des Vaters erhöhte Herr feierlich, was er verheißen hatte, als er noch in Knechtsgestalt auf Erden wandelte: „Wer mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater“ (Ev. Matth. 10, 32). Christus wird die Überwindenden in Ewigkeit als die Seinen anerkennen und bezeugen; er will die innige Gemeinschaft, in der sie mit ihm auf Erden lebten und starben, geltend machen für das ewige Leben; und der Hinweis auf dies sein Bekenntnis soll ihnen eine unverbrüchliche Zusage des ewigen Lebens sein. Es ist mit Recht gesagt worden: Diese dritte Verheißung hat die Bekenntnistreue der wenigen Auserwählten zur Grundlage, deren Licht gehoben wird durch den Schatten der sie umgebenden, in der sardischen Erstorbenheit sie umgebenden Bekenntnisscheu.

Vers 6. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinen sagt. Auch hier die vom vorigen Sendschreiben an konstante Schlussformel, die, was zunächst der einzelnen Gemeinde gesagt ist, dem Gehör und dem Gehorsam aller Gemeinden, der ganzen Kirche, unterbreitet. Warum, so fragt ein Alter, ist in den sieben Sendschreiben so viel Redens davon, dass man hören soll, wenn man ein Ohr hat? Und er antwortet: Weil wir es zum höchsten nötig haben, in geistlichen Dingen um ein hörendes Ohr zu beten. In einer Zeit, wie die unsrige, wo nach 2. Tim. 4,4 Vieler Ohren sich von der Wahrheit wenden und zu den Fabeln kehren, dürften wir solch ein Gebet um ein hörendes Ohr nötiger als je haben.

Der Engel von Sardes ist eine widerspruchsvolle Persönlichkeit. Nach außen hin macht er den Eindruck eines lebendigen Pastors, aber innerlich ist er ein toter Pastor; er bildet sich ein, ein guter Hirt einer guten Gemeinde zu sein und ist ein schlechter Hirt einer schlechten Gemeinde. Er geht in Leben und Amt wie ein Nachtwandler dahin, in träumerischer Betäubtheit, nicht als ob ihm das Christentum total abhandengekommen wäre, aber es ist herabgesunkenes, abgestandenes, äußerliches Gewohnheitschristentum. Die Gemeinde im Großen und Ganzen ist ihm gleich, sie liegt in demselben Schlummerzustand, sie hat die Lampen des Christentums, aber kein Öl. Allein bei alledem ist der Pastor kein vom Herrn aufgegebener Mann, die Gemeinde keine aufgegebene Gemeinde. So tief ist denn der Pastor doch noch nicht in den geistlichen Todesschlaf gefallen, dass er nicht noch erwachen, sich ermannen und ein Reformator seiner Gemeinde werden könnte; es ist der Zweck des Sendschreibens, ihn zur gesegneten Tätigkeit für Restitution der Gemeinde anzuregen. Und auch in der Gemeinde selbst war doch nicht alles geistliche Leben erstorben. Und war er noch so klein, der kleine, reine Kern war doch vorhanden, der Kern derer, die sich mit dem weltförmigen Wesen nicht beschmutzt hatten. Die wenigen rein gebliebenen Seelen hatten sich trotz der ihnen nicht verborgenen Erstorbenheit der Gemeinde doch nicht separiert, da das Wort Gottes ja immer noch lauter und rein gepredigt wurde; dass sie rein geblieben waren, hatten sie ihrem Pastor allerdings nicht zu verdanken; vielmehr war er schuld, dass ihrer nur so wenige waren. Das Sendschreiben stärkt diese wenigen Getreuen durch herrliche Verheißung, lässt aber den Trost dieser Verheißung auch für alle übrigen offen, wenn sie Buße tun.

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