Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die siebente Bitte.

Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die siebente Bitte.

Sondern erlöse uns von dem Uebel.

Selig sind, die das Heimweh haben, denn sie werden nach Hause kommen. Dieses innige und sinnige Wort Jung Stillings giebt derjenigen Grundstimmung der Seele einen zarten Ausdruck, aus welcher heraus die siebente Bitte geboren ist und gebetet sein will. Denn die Bitte : „Sondern erlöse uns von dem Uebel,“ ist die Heimwehbitte.

Es hat zwar Leute gegeben, fromme Leute, berühmte Leute, welche sagen: Es giebt gar keine besondere siebente Bitte, es giebt nur sechs Bitten, und was ihr die siebente Bitte nennt, ist nur ein Anhängsel der sechsten Bitte. Chrysostomus unter den Alten, Calvin unter den Neueren haben so gesagt. Allein so wahr es ist, daß das Wörtlein „sondern“, welches zwischen der sechsten und siebenten Bitte steht, auf einen engen, gegensätzlichen Zusammenhang zwischen ihnen hinweist, so bietet doch, was hinter dem Wörtlein „sondern“ steht, so viel Besonderes, Eignes, Neues, vor Allem so viel Heimwehartiges, daß man Vater Luther nur loben kann, wenn er, dem Beispiel der alten Kirche gemäß, die auf die sechste Bitte folgenden Worte als eine selbständige, den andern Vaterunserbitten ebenbürtige siebente Bitte faßt.

Wir haben in der fünften Bitte um Freiheit von den Sünden der Vergangenheit, die als schwere Lebensschuld auf uns lasten, gebetet; wir haben in der sechsten Bitte Bewahrung vor den Sünden der Gegenwart und Zukunft ersieht. Wir wären damit am Ende aller Seufzer, wenn wir in dieser sündenvollen Welt zu Hause und allein auf sie angewiesen wären. Aber wir sind hier nicht zu Hause, wir sind viel zu vornehm für diese alte Erde, auf der wir, abgesehn von aller Vergebung der Sünde und Bewahrung vor Sünde, unter den Folgen der Sünde seufzen. Wir sehnen uns heraus auch aus den Folgen der Sünde, wir sehnen uns hinein in eine Heimath, in der auch nicht die leiseste Spur mehr von Sünde zu finden ist; und in diesem sehnsüchtigen Gefühle des Heimwehs schließen wir die Symphonie unserer Seufzer zu Gott mit dem mächtigen Accorde: Erlöse uns vom Uebel!

Suchen wir denn nun genauer zu erkennen, warum wir also beten und was wir eigentlich damit erbitten und wie wir einzelnen Christen diese Bitte zu beten haben.

Warum der Seufzer: Erlose uns vom Uebel!? Das letzte Wort des Seufzers selbst giebt die Antwort auf diese Frage. Das Uebel auf der alten Erde preßt uns die Bitte um Erlösung davon aus. Es ist freilich bestritten worden, daß die siebente Bitte richtig verdeutscht wäre durch die Übersetzung: Erlöse uns vom Uebel. Man hat gesagt und viele Christen beten auch also, es sei zu übersetzen: Erlöse uns vom Bösen. Bei solcher Übersetzung meint man dann entweder das Böse oder den Bösen, das heißt, entweder die Sünde oder den Teufel. Nun wohl, das betreffende Wort der Ursprache kann alles dreie bedeuten, sowohl die Sünde, als den Teufel, als das Uebel. Da wir aber um Erlösung von der Sünde und um Bewahrung vor den Versuchungen des Argen schon in den beiden vorigen Bitten gebetet haben, so mag man solches Gebet wider Sünde und Teufel zwar dreist mit hinüber nehmen in die siebente Bitte, wie auch Vater Luther andeutet, wenn er erklärt: „Wir bitten in diesem Gebet, als in der Summa“, aber als bisher noch nicht Genanntes, gegen das die siebente Bitte sich im Besonderen wendet, bleibt eben nur das Uebel übrig. Nun scheidet man sehr richtig alles Uebel in der Welt in Schuldübel und Strafübel, jenes ist wieder nichts anderes als die Sünde selbst, dieses ist die Folge der Sünde, wie sie sich an Leib und Seele, am Gut und an der Ehre des Menschen zeigt; und dieses letztere, das Strafübel, ist also der eigentliche Kern des letzten Wortes unserer Bitte; wir bitten, sagt Luther, Gott wolle uns von allerlei Uebel Leibes und der Seele, Gutes und Ehre erlösen.

Als der böse Feind die Eva zur ersten Sünde verführt hatte, da zuckte es wie ein electrischer Schlag durch die ganze Erde, und dieser Schlag verwandelte sie, die eine Stätte paradiesischen Friedens und Heiles gewesen war, in eine Stätte unzähliger Uebel, in ein Land, überfluthet von einer See von Plagen, in ein Kampfgefilde voll schwirrender Pfeile und klirrender Waffen. Man thut Unrecht, diese Verwandlung der Erde allein auf Rechnung der göttlichen Gerechtigkeit zu setzen. Es war eben so sehr die göttliche Gnade dabei betheiligt. Denn wären die Uebel nicht in die Welt gekommen, hätte der sündige Mensch auch die Sehnsucht nach Erlösung von der Sünde verloren. Nun sind die Uebel da, und wir sehnen uns, von ihnen erlöst zu werden, und sehnen uns auch dann noch, wenn wir von der Schuld der Sünde längst erlöst sind durch Jesum Christum.

In der Lutherschen Reihenfolge der Uebel stehen obenan die Uebel des Leibes. Sie sind die greifbarsten, offenkundigsten. Sie treten ein mit der Geburt und setzen sich fort durch das ganze Leben und endigen mit dem Tode, dessen Wetterleuchten mitten im Leben sie sind.

„Mit Weinen fängt das Leben an,
Ohn' Weinen man's nicht enden kann,
Muß lassen immer Zähren stießen,
Bis man es endlich thut beschließen.“

2500 Krankheiten zählt man auf Erden, aber die Lazarusse, die von ihnen heimgesucht werden, zählen nach Millionen; denn es ist Niemand auf Erden, den nicht eine oder mehrere von ihnen antasteten. Groß ist die Macht des bösen Feindes, durch welche er vermittelst der Krankheiten den Menschen, der nach Gottes Ebenbild geschaffen ist, zu einem wahren Jammerbild verunstaltet. Daher als Luther einst in Weimar seinen lieben Freund Melanchthon heftig erkrankt fand, die Augen waren wie gebrochen, aller Verstand gewichen, die Sprache entfallen, das Gehör vergangen, das Angesicht schlaff und eingefallen, rief er in schmerzlicher Bewegung aus: „Hilf Gott, wie hat mir der Teufel dies Organon geschändet.“ Es giebt aber außer den Krankheiten noch, eine Legion anderer Uebel des Leibes, mancherlei Leiden und Fährlichkeiten, wie St. Paulus davon ein Lied zu singen weiß 2 Cor. 11, wenn er sagt: „Von den Juden habe ich empfangen vierzig Streiche weniger eins; ich bin dreimal gestäupet, einmal gesteinigt, dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, Tag und Nacht habe ich zugebracht in der Tiefe des Meeres; ich habe oft gereiset, ich bin in Gefahr gewesen zu Wasser, in Gefahr unter den Mördern, in Gefahr unter den Juden, in Gefahr unter den Heiden, in Gefahr in den Städten, in Gefahr in der Wüste, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter den falschen Brüdern; in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße.“ Wahrlich, da muß es ja wohl mit Recht heißen: Arbeit, Sorg' und Herzeleid ist des Lebens Alltagskleid!

Nächst den Uebeln des Leibes nennt Luther die Uebel der Seele. Dieselben mußten ja voran stehn, wenn die Schuldübel der Seele, die Sünden, gemeint wären, denn die Sünden sind ja die dunklen Quellen, aus denen alle Ströme der andern Uebel fließen. Aber nicht die Schuldübel, sondern die Strafübel sind es, die die siebente Bitte sonderlich in's Auge faßt; und da stehn die Uebel der Seele in zweiter Reihe. Groß und schrecklich sind freilich auch diese Uebel der Seele. Alle die Krankheiten der Seele von dem Kummer, der Melancholie und Schwermuth an bis zur Narrheit, zum Blödsinn und zum Wahnsinn - welches jammervolle Elend gießen sie über das Leben aus! Was für ein trauriges Bild gewährt so mancher Mensch am Abend seines Lebens, wenn sein Geistesleben nur noch kümmerlich am Boden kriecht, wie eine Fliege, die sich die Flügel verbrannt hat! Welch' eine Gestalt des Entsetzens ist so ein armes blödsinniges Mädchen, das von Kindesbeinen an nur thierische Laute von sich gegeben! Und ein einziger Gang durch eine Irrenanstalt, wie kann er uns alle Pulse beben machen!

Leib und Seele aber haben ein letztes, gemeinschaftliches Uebel: Das ist der Tod. Im Tode nimmt das irdische Uebel Abschied vom Menschen; und jedes Uebel erscheint, wenn's Abschied nimmt, am übelsten. Es giebt nichts so Entehrendes für das Leben Leibes und der Seele, als den Tod, diese schmerzensreiche, gewaltsame Trennung zweier Genossen, die Gott im Anfang für die Ewigkeit zusammengefügt hatte. Alle Lebenslast und Lebensmühe ist ein Eldorado, verglichen mit des Todes Schrecken!

Geringer als die Uebel Leibes und der Seele und doch auch der Menschheit tausendfaches Ach und Weh auspressend sind die Uebel des Gutes und der Ehre. Uebel des Gutes, sie sind unzählbar; statt vieler seien nur genannt Berufslosigkeit, Erwerbslosigkeit, Verlust und Schaden durch Betrug und Bosheit der Menschen oder durch die, zerstörende Gewalt der Elemente, die der Fessel sich entrafften. Uebel der Ehre, das sind alle Schmach und alle Schande, die uns böse Zungen bereiten, und von denen das Sprüchwort sagt: Die Disteln und Dornen stechen sehr, die falschen Zungen noch viel mehr.

Alle diese Uebel machen diese alte Erde zu einem Jammerthal. Klagen über dieses jämmerliche, übelvolle Leben ziehen sich durch die ganze Menschheit. Schon der alte griechische Dichter Homer dichtete, es habe der Gott Zeus im Himmel zwei große Gefäße, eines voller Glücks, das andre voller Unglücks, und wenn er einem Menschen eine Hand voll Glücks zutheile, so gebe er ihm zwei Hände voll Unglücks mit dazu. Und es ging in der griechischen Welt ein alter Vers von Mund zu Mund: „Es ist das Beste nimmerdar geboren zu sein, und wenn geboren, eilig an dem Ziel zu stehn.“ Das Volk des alten Bundes klagte noch ergreifender über den Jammer des Lebens. „Wenig und böse ist die Zeit meines Lebens“, sagte Jacob. „Wenn das Leben köstlich gewesen ist, ist es Mühe und Arbeit gewesen“, heißt es im 90. Psalme. Sirach aber spricht: „Es ist ein jämmerlich Ding um aller Menschen Leben vom Mutterleibe an, bis sie in die Erde begraben werden, die unser Aller Mutter ist; da ist immer Sorge, Furcht, Hoffnung und zuletzt der Tod.“ Auch im neuen Bunde wird das Elend dieses Lebens viel beklagt. Als unser Herr dem Felsengrabe nahte, in welchem Lazarus als übelriechende Leiche lag, gingen ihm vor Jammer die Augen über. St. Petrus klagt: „Alles Fleisch ist wie Gras und alle Herrlichkeit der Menschen wie des Grases Blume.“ St. Paulus seufzt: „Dieweil wir in der Hütte sind, sehnen wir uns und sind beschweret! - Ich armer Mensch, wer wird mich erlösen vom Leibe dieses Todes?“ Und desgleichen klagen unsre Dichter:

Was ist da Leben?
Ein Halm, der manche Thräne trinkt,
Bis er in tiefe Erde sinkt,
Ein Halm ist unser Leben.
Ein Funken, der im Dunkeln glüht,
Bis er in Flämmlein sich versprüht,
Ein Funken ist das Leben.
Ein Tropfen, der die Farben tauscht,
Bis er im weiten Meer verrauscht,
Ein Tropfen ist das Leben.

Aber anders klagt die Welt, und anders klagen die Kinder Gottes. Die Welt schüttet ihre Klagen über den Jammer des Lebens in die Luft, und aus ihrem Klagen wird ein weltschmerzliches Murren. Die Kinder Gottes aber schütten ihre Klagen über die Uebel in diesem Jammerthal vor dem Herrn aus, und ihre Klagen werden zum Gebet, und dieses Gebet lautet: Erlöse uns vom Uebel! -

Indem wir aber also beten, was erbitten wir eigentlich damit? Wir erbitten damit diejenige Erlösung von allem Uebel, die Gott der Herr durch den Mund seiner Propheten zuvor verheißen hat, nicht eine ersonnene Erlösung, wie sie die Propheten dieser Welt verkündigen.

Eine äußerliche Erlösung von den jämmerlichen Zuständen auf Erden verheißen auch die Propheten dieser Welt, und gar Viele horchen auf ihre Stimme, denn die Strömung unserer Zeit geht dahin, mit äußeren Mitteln der Welt aufzuhelfen. Hier predigen sie den Fortschritt um jeden Preis, den Aufruhr und die Revolution als Mittel zu solcher Erlösung, dort den Communismus und Socialismus. Aber „wo sich die Völker selbst befrei'n, da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn.“ Diese angepriesenen Mittel sind millionenmal übler, als die Uebel, die sie heilen sollen, und was das Uebelste ist, sie heilen gar nicht. Andere rathen an, über den Genüssen des Lebens den Jammer zu vergessen, durch Vergnügung und Zerstreuung das Gefühl der irdischen Jämmerlichkeit zu übertäuben. Dieser Rath ist alt, schon vor Jahrtausenden ist diese Parole ausgegeben: „Lasset uns essen, lasset uns trinken, denn morgen sind wir todt.“ Aber es ist ein schnöder Rath der Verblendung; es ist die grenzenloseste Thorheit, wenn man an Abgründen wandelt, sich noch obenein die Augen zu verbinden, man stürzt dann nur um so eher hinein. Nein, es ist nichts mit einer Erlösung vom Uebel, wie sie auf dem lauten Markt der Welt gepredigt wird; diese Art von Erlösung erspart dem Menschen die irdischen Uebel nicht und stürzt ihn endlich in die höllischen Uebel, aus denen es gar keine Erlösung, auch von Seiten Gottes, mehr giebt. Denn über der Pforte der Hölle steht die Inschrift: „Laßt alle Hoffnung, die ihr hier eintretet!“

„Erlöse uns vom Uebel!“ wenn Kinder Gottes das beten, so blicken sie auf diejenige Erlösung vom Uebel, die Gott in seinem Wort verheißen hat. Das ist auch die einzige Erlösung, die der tiefsten Sehnsucht des Herzens anheimelnd entgegenlacht, die einzige, die unser Heimweh stillt.

Die heilige Schrift lehrt eine zwiefache Erlösung, eine Erlösung von der Sünde in der Zeit und eine Erlösung vom Uebel in der Ewigkeit. Beide Erlösungen ruhen auf dem Grunde des auf Golgatha vergossenen Blutes. Erlöst, von der Sünde erlöst, schon in dieser Zelt erlöst sind Alle, die von Herzen glauben an Jesum Christum, der unsre Sünde getragen, unsre Schuld gebüßt und uns durch seine Wunder angenehm gemacht hat vor Gott. Aber diese Erlösung von der Sünde ist zwar das Angeld auf die Erlösung vom Uebel, aber noch nicht die Erlösung vom Uebel selbst. Auch die gläubigsten Leute sind, wie Chr. Friedrich Richter singt, auf Erden „des Adams natürliche Kinder und tragen das Bilde des Irdischen auch, sie leiden am Fleische wie andere Sünder.“ Aber einst wird der Tag erscheinen, wo sie auch vom Uebel erlöst werden durch denselben Heiland, der sie von der Sünde erlöst hat; dieser Tag bricht an mit ihrem Sterbetage, den unsre Alten deswegen den himmlischen Geburtstag nannten, und vollendet sich mit dem jüngsten Tage.

Mit festen Worten Gottes ist's verheißen, mit theuren Eiden Gottes ist's beschworen, daß jede Seele, die sich dem Mittler ergeben und Treue gehalten bis an's Ende, am Ende, wenn die Hütte dieses Leibes zerbricht, bei Jesu im Paradiese sein wird. Der Name „Paradies“ weist zurück in den Garten Eden, wo keine Sünde war und kein Uebel, wo Gottes Füße rauschten, wo Gottes Kinder selig waren im Lichte seines Angesichts. Durch den Fall ist das irdische Paradies verloren, aber ob es nur versetzt ist in das Jenseits für die im Glauben Sterbenden? Die ältesten Väter der Kirche haben es gemeint; und zum mindesten muß das jenseitige Paradies in allem Wesentlichen dem verlornen diesseitigen sehr ähnlich sein, sonst wäre der gleiche Name verwirrend. Der Aufenthaltsort der abgeschiedenen frommen Seelen ist also frei von Sünde, Gottes Nähe ist fühlbar, Gottes Kinder sind dort selig vor ihm und hören wonnige, unaussprechliche Worte. „Paradies, Paradies, wie ist deine Frucht so süß; unter deinen Lebensbäumen wird uns sein, als ob wir träumen; bring' uns, Herr, ins Paradies.“

Und doch dies Weilen der gläubigen Seele im Paradiese ist die völlige Erlösung vom Uebel noch nicht. Denn nur die Seele weilt im Paradiese, unsre andre Hälfte aber, der Leib, ruht im Grabe. Es ist das einzige Uebel der Seele im Paradiese, aber es ist ein Uebel, daß sie von ihrem Leibe dort getrennt ist. Es ist ganz wider die Schrift, den Begriff der Seligkeit auf eine sogenannte Unsterblichkeit der Seele zu beschränken und mit der schaalen Zeitungsphrase: „Friede sei seiner Asche!“ den Leib eine Beute der Verwesung sein zu lassen. Der Mensch ist kein Engel, daß es ihm in Ewigkeit wohl sein könnte bei einer bloßen seelischen Existenz. Leiblichkeit war der Anfang der Wege Gottes mit dem Menschen; Leiblichkeit ist auch das Ende der Wege Gottes mit dem Menschen. Ganz erlöst, von allem Uebel erlöst sind wir erst, wenn die selige Seele ihren Leib und zwar als seligen Leib wieder hat, wenn der Mensch mit Leib und Seele ohne Makel auf einer Erde ohne Uebel wohnt, ohne daß der Tod solch' ein seliges Leben zerschneidet. Und also völlig und ganz sollen wir erlöst werden durch den Sohn Gottes am jüngsten Tage, so lehrt die Schrift.

Wir warten nach der Schrift eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Es wird am jüngsten Tage die alte Erde rein gefegt werden von allem Uebel, das der Böse und das Böse über sie gebracht haben. Dann wird alles Alte vergangen sein, siehe, es wird Alles neu werden. Auf den Klang der letzten Posaune, die auch in die Gräber dringt, werden auferstehn alle Leiber der Heiligen, und auch das Meer giebt seine Todten wieder. Jede fromme Seele wird ihren Leib wiedererhalten, aber nicht nichtig mehr, sondern verklärt und ähnlich dem verklärten Leibe Jesu Christi. Und das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel wird es herabfahren auf die Erde, zubereitet wie eine geschmückte Braut ihrem Manne; und wird eine Hütte Gottes bei den Menschen sein, und sie werden sein Volk sein, und Er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein, und Gott wird abwischen alle Thronen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei, noch Schmerzen wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und wird keine Nacht mehr sein, und nicht bedürfen einer Leuchte oder des Lichts der Sonne; denn Gott der Herr wird sie erleuchten, und sie werden regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit. Das ist die Erlösung vom Uebel, wie sie den Kindern Gottes verheißen ist, und nach der sie sich sehnen. „Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt' Gott, ich war' in dir; mein sehnlich Herz so groß Verlangen hat und ist nicht mehr bei mir; weit über Berg und Thal, weit über braches Feld, schwingt sich über alle und eilt aus dieser Welt.“ Erlöse uns vom Uebel - um diese Erlösung bitten wir in der siebenten Bitte. - Wie aber sollen wir diese Bitte um Erlösung beten? Vor allen Dingen nicht eigenwillig, sondern dem Willen Gottes ergeben; wir sollen beten: Erlöse uns vom Uebel, wann du willst! Die alte Erde drückt mit ihrem Weh, die neue Erde lockt mit ihrer heimathlichen Wonne; was Wunder, wenn da die Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein, groß ist in den Herzen der Kinder Gottes. Aber so berechtigt diese Lust abzuscheiden ist, so unberechtigt wäre es, wenn wir mit unsern Gebeten Gott drängen, Gott Zeit und Stunde vorschreiben wollten, wann er uns erlösen solle vom Uebel. „Es ist genug, Herr, so nimm nun meine Seele von mir,“ so hat zwar einst ein Prophet gesprochen, aber er hat es im Unmuth gesprochen, und nicht im Glauben. Der Glaube überläßt dem Herrn willig Zeit und Stunde der Erlösung und legt sich auf's Warten. Die fromme Gräfin Agnes von Witgenstein tröstete sich auf ihrem langwierigen Siechbette der Hochzeit zu Cana, wo Christus selber habe einen Unterschied gemacht zwischen der Maria Stunde und Seiner Stunde, indem er sagte: Meine Stunde ist noch nicht gekommen. „Fleisch und Blut, sprach sie, hat der Maria Stund' lieb, dieweil wir alle gern wollten, Christus solle in unsrer Noth bald, bald, bald Wunder thun. Wir müssen aber Christi Stund' erwarten, und das will ich gerne thun.“ Wohl uns, wenn wir alle die siebente Bitte im Sinne der gottseligen Gräfin Agnes beten: „Erlöse uns vom Uebel, lieber Herr, aber nicht wenn bei uns, sondern wenn bei Dir die Uhr abgelaufen ist!“ Beten wir in diesem Sinne, werden wir's auch erfahren: „Wenn die Stunden sich gefunden, bricht die Hülf' mit Macht herein, und dein Grämen zu beschämen, wird es unvermuthet sein.“

Wenn wir aber so den Zeitpunkt der Erlösung dem weisen Ermessen des Herrn anheim stellen, so müssen wir um so dringender ihn anflehen: Erhalte uns, lieber Herr, bis zu der Stunde, wo Du uns abrufst, auf dem Wege, der zur völligen Erlösung führt. Gott der Herr kann uns ja nach diesem Leben nur dann von allem Uebel erlösen, wenn wir in diesem Leben uns von der Sünde haben erlösen lassen und diese Erlösung von den Sünden festgehalten haben bis an's Ende. Das ist aber der einzige Weg, auf welchem ein sündiger Mensch die Erlösung von der Sünde gewinnt und festhält, daß er in täglicher Buße Haupt und Herz in den Staub neigt und in täglichem Glauben Haupt und Herz bis zum Himmel erhebt. Erhalte uns, o Gott, auf diesem schmalen Wege der Buße und des Glaubens - diesen Seufzer muß Jeder mit in die siebente Bitte einfließen lassen, dem es ein Ernst ist mit dem Wunsche, einst wie von der Sünde, so auch vom Uebel für alle Ewigkeit erlöst zu sein.

Wir würden aber trotz aller Bewahrung des Glaubens durch Gott, bei der Menge der Uebel auf Erden dennoch uns verirren und von dem Wege abkommen, der zur völligen Erlösung führt, wenn wir uns nicht eine besondere Frucht des Glaubens tagtäglich von Gott dazu erbitten, nämlich die Geduld. Ohne Geduld ist's auch dem Gläubigsten unmöglich, bis aus Ende auszuharren unter dem Drucke der Uebel dieses Lebens; aber leichter trägt, was er trägt, wer Geduld zur Bürde legt. Luther pflegte zu sagen: „Auf dieser Welt muß entweder bald gestorben oder geduldig gelebt sein.“ Darum soll jeder leidende Christ Paul Gerhards Neujahrsseufzer zu seinem Tagesseufzer machen und allemal, wenn er die siebente Bitte betet, im Geist hinzusetzen: „Gieb mir und allen denen, die sich von Herzen sehnen nach Dir und Deiner Hulde, ein Herz, das sich gedulde!“ Das beste Exempel der Geduld im Leiden bietet uns der Heiland selbst; denn da er gestraft und gemartert ward, that er seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführet wird und wie ein Schaf, das verstummet vor seinem Scheerer und seinen Mund nicht aufthut. Diesen geduldigen Sinn unsers erhabenen Vorbeters müssen wir uns in der siebenten Bitte miterbitten.

Wenn nun aber der Herr an seiner Hand uns gnädig auf dem schmalen Pfade geführt hat bis zum letzten Stündlein und nun die Erlösung von allem Uebel vor der Thür ist, so gilt es noch den letzten Kampf und Strauß zu fechten, auszufechten, und dieser Kampf ist von allen Kämpfen des Lebens der schwerste und gefährlichste. „Das Todesstündlein, sagt ein frommer Mann, ist ein so ernstes Stündlein, weil wir da aller Uebel auf einmal frei, aber auch leicht in das größte Uebel, in den ewigen Tod, können gestürzet werden.“ Darum gilt es denn ganz besonders, die Erlösungsbitte täglich im Hinblick auf das letzte Stündlein zu beten, nämlich daß Gott uns zuletzt, wenn unser Stündlein kommt, ein seliges Ende bescheere und mit Gnaden aus diesem Jammerthal zu sich nehme in den Himmel. In solchem Hinblick auf die Todesstunde beten wir in unserer Kirche an jedem Charfreitage die siebente Bitte, wenn wir flehen: „Bereite uns mehr und mehr zu einem seligen Ende; vornehmlich aber in der letzten Todesstunde treibe von uns alle Anfechtungen und vermehre unsern Glauben an Deinen Sohn Jesum, daß wir überwinden alle Schrecken des Todes. Wenn dann unsre Ohren nicht mehr werden hören können, so laß Deinen Geist Zeugniß geben unserm Geiste, daß wir als Deine Kinder und Christi Miterben bald sollen mit Jesu bei Dir im Himmel sein. Wenn dann unsre Augen nicht mehr werden sehen können, so thue unsre Glaubensaugen auf, daß wir alsdann vor uns Deinen Himmel offen sehn und den Herrn Jesum zu seines Vaters Rechten, daß auch wir sein sollen, wo Er ist! Wenn dann unsre Zunge nicht mehr wird sprechen können, dann laß Deinen Geist uns vertreten mit unaussprechlichen Seufzern und einen jeden lehren in seinem Herzen rufen: Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist! Gieb also, getreuer Gott, daß wir leben in Deiner Furcht, sterben in Deiner Gnade, dahinfahren in Deinem Frieden, ruhen im Grabe unter Deinem Schutze und auferstehn durch Deine Kraft und dann ererben die selige Hoffnung, das ewige Leben, um Deines lieben Sohnes willen, Jesu Christi, unsers Herrn, welchem sammt Dir und dem heiligen Geiste sei Lob und Preis, Ehre und Herrlichkeit, setzt und immerdar. Amen.“ So gebetet, ist denn die Erlösungsbitte schon fast mehr als eine Bitte, schon ein keimender Triumphruf, der Ruf gläubiger Gewißheit: „Der Herr wird mich erlösen von allem Uebel und mir aushelfen zu seinem himmlischen Reich!“ Wenn die sechste Bitte: Führe uns nicht in Versuchung„, mehr im Tone eines Kyrie Eleison geht, so zieht durch die ihr verschwisterte siebente Bitte: „Sondern erlose uns vom Uebel“ mehr ein Hallelujaklang. Und je länger und je brünftiger man die Erlösungsbitte betet, desto lauter, desto reiner klingt das Halleluja hindurch, bis dann im letzten Stündlein endlich auch das Uebel des Todes weicht und die Seele heimgeht im Triumph. Nicht immer im Triumph. Gott führt seine Heiligen wunderlich und bei Manchem von ihnen werden, je näher der Himmel, desto steiler die Berge; bei Manchem spart sich Gott die ganze Erlösungsherrlichkeit für die Ewigkeit auf. Aber manch Einer wird doch auch schon mitten im Sterben vom Uebel erlöst, daß er mit todesbleichen Lippen Halleluja jauchzen kann. Es werden ja viele solcher schönen Geschichten von fröhlichen Sterbestunden erzählt, deren berühmte Männer des Reichs Gottes gewürdigt wurden. Es stehe hier eine Geschichte von einem namenlosen armen Matrosen unsrer Zeit. Auf der fernen Insel Mauritius im Osten Afrikas befindet sich ein Asyl für Matrosen aller Länder, Der Asylgeistliche fand auf einem seiner Besuche dort einen Mutlosen, der dem Tode nahe war, und fragte ihn, wie es ihm ginge. „Ich sehe Land, lieber Herr,“ antwortete der Kranke. Als der Geistliche am folgenden Tage wieder nach ihm sah, fand er ihn schwächer. Nun, wie steht's denn heute? fragte er den Seemann. „Ich fahre eben um die Ecke in den Hafen, lieber Herr,“ war die Antwort. Nun, mein Freund, wie steht's denn heute? fragte der Geistliche am dritten Tage, als er ihn rasch dahinsinkend fand. „Eben fällt mein Anker in den Hafen der ewigen Herrlichkeit!“ lispelte der Sterbende, und bald darauf war sein Geist entflohn.

Selig sind, die das Heimweh haben, denn sie werden nach Hause kommen. Noch sind wir Wanderer auf dem Wege, und der Weg geht über manches rauhe Gestein und durch manche Dornenhecke. Wohl uns, daß wir unter allen Thränen und Schmerzen dieses Lebens die siebente Bitte beten können. Sie ist, nach dem schönen Gleichniß unsrer Alten, der Schwamm, in welchen gesammelt werden alle Thränen, die wir Zeit unseres Lebens vergießen und in den heiligsten Schooß Gottes schütten. Ueber ein Kleines aber so ist dieselbe Bitte für Alle, die treu gewesen sind bis in den Tod, ein Schlüssel, der das Paradies aufschließt; und der gnädige Gott spricht zu uns: „Siehe, ich habe dich erlöset, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein! Gehe ein in die ewige Heimath!“ Amen.

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