Luther, Martin - Über seinen reformatorischen Werdegang

Luther, Martin - Über seinen reformatorischen Werdegang

1545

Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe der lateinischen Schriften Luthers

Martin Luther an den frommen Leser

Lange und ernstlich habe ich denen widerstanden, die meine Schriften oder richtiger die verworrenen Überbleibsel meiner Studien gesammelt und gedruckt zu sehen wünschten. Denn einmal wollte ich die Werke der alten Väter nicht durch den Reiz der Neuheit verdrängen, der in den Augen des Lesers meinen Schriften zugute kommt. Sodann aber gibt es jetzt durch Gottes Gnade viele wohlgeordnete Lehrbücher, vor allem die ausgezeichneten »Loci communes« (Grundbegriffe der Glaubenslehre) Melanchthons, aus denen sich jeder Theologe und Seelenhirte trefflich und gründlich unterrichten kann, um sich als tüchtigen Lehrer und Prediger des göttlichen Wortes zu erweisen. Vor allem aber kann man jetzt die Heilige Schrift fast in jeder Sprache lesen. Meine Bücher aber, entstanden, wie es der Zufall oder vielmehr der Zwang der sich überstürzenden Ereignisse mit sich brachte, bilden ebenso eine wirre, zusammenhanglose Masse, die mir selbst zu ordnen schwer fallen sollte.

Aus diesen Gründen wünschte ich eigentlich, daß meine Schriften ewiger Vergessenheit anheimfielen, um besseren Platz zu machen. Aber mit erbarmungsloser Zudringlichkeit und Hartnäckigkeit lag man mir täglich in den Ohren und stellte mir vor, daß, wenn ich die Herausgabe bei meinen Lebzeiten nicht gestattete, sie nach meinem Tode um so gewisser erfolgen würde und zwar durch Leute, die von den Beweggründen sind den geschichtlichen Verhältnissen keine Ahnung haben und so in ihrer Verworrenheit immer neue Verwirrungen anstiften würden. So erreichten sie mit ihrem Drängen, daß ich einwilligte. Überdies war es der Wunsch und Wille unseres erlauchten Herrn, des Kurfürsten Johann Friedrich, der den Druckern befahl und sie geradezu zwang, nicht nur den Satz zu unternehmen, sondern die Ausgabe sogar zu beschleunigen.

Vor allem aber bitte ich um unseren Herrn Jesu Christi willen, das alles mit gesundem Urteil und tiefem Erbarmen zu lesen. Man muß wissen, daß ich damals ein Mönch und ein ganz unsinniger Papist war, als ich jenes Werk in Angriff nahm, so berauscht, ja so versunken in die Glaubenslehren des Papsttums, daß ich imstande gewesen wäre, jeden womöglich zu ermorden, zu solcher Tat Beihilfe zu leisten oder wenigstens sie gutzuheißen, der dem Papste auch nur mit einem Worte den Gehorsam verweigert hätte. Ein solcher Saulus war ich damals, wie es heute noch viele gibt. Im Vergleich mit mir waren Dr. Eck und seinesgleichen frostig,, ja wie Eiszapfen in ihrer Verteidigung des Papsttums, denn sie pflegten dieses Geschäft nur um ihres Bauches willen zu betreiben und mit so wenig Ernst zu Werke zu gehen, daß sie mir heute noch vielmehr des Papstes zu spotten scheinen, diese Epikureer. Ich aber meinte es ernst, da ich eine furchtbare Angst vor der Todessünde hatte und dabei aus tiefstem Herzen mich danach sehnte, selig zu werden.

Aus meinen älteren Schriften ist demnach zu ersehen, welche weitgehenden Befugnisse ich damals in aller Demut dem Papste noch beigelegt habe, die ich später als ärgste Gotteslästerung erkannt und verdammt habe. Der Leser möge also diese Unsicherheit oder, wie meine Gegner es verdächtigen, diesen Widerspruch meiner damaligen Lage und Unerfahrenheit zugute halten. Ich stand anfangs allein und war für ein so gewaltiges Unterfangen doch gar zu einfältig und ungelehrt; denn ich bin nur durch die Verkettung der Umstände, nicht aus freien Stücken und mit Vorbedacht in diesen Sturm hineingeraten: des ist Gott mein Zeuge! […]

Und so kann man an meinem Beispiel wieder einmal sehen, wie schwer es ist, sich durchzuringen, aus einem Meer von Irrtümern aufzutauchen, die in der Meinung einer ganzen Welt fest begründet und ihr durch die Länge der Gewohnheit zur andern Natur geworden sind. Wie wahr ist doch das Sprichwort: »Alte Gewohnheit läßt sich schwerlich verändern« oder: »Gewohnheit wird zur zweiten Natur«; und wie treffend sagt Augustinus: »Gewohnheit, der man nicht Widerstand leistet, wird zum Zwang.« Denn obwohl ich nun schon sieben Jahre gelehrt und die Heilige Schrift in öffentlichen und privaten Vorlesungen fleißig erklärt hatte, so daß ich fast alles im Gedächtnis hatte; obwohl ich ferner den Anfang einer reineren Erkenntnis des christlichen Glaubens schon hinter mir hatte, nämlich die Einsicht, daß wir nicht durch die Werke, sondern durch den Glauben an Christum gerecht und selig werden, endlich den Satz schon öffentlich verfochten hatte, daß der Papst nicht nach göttlichem Recht das Oberhaupt der Kirche sei, so zog ich doch noch nicht die Folgerung, daß dann das Papsttum notwendig ein Werk des Satans sein müsse. Denn was nicht von Gott stammt, muß auf den Teufel zurückgehen.

Damals aber wahrlich so überwältigt von dem Wesen und der Würde der heiligen Kirche und eigner Gewohnheit, daß ich dem Papsttum immer noch das g e s c h i c h t l i c h e Recht beilegte, das doch, wenn es nicht auf den Willen Gottes sich berufen kann, nur Lüge und Teufelswerk ist. Denn den Eltern und der Obrigkeit gehorchen wir nicht um ihres Anspruchs willen, sondern weil es Gottes Gebot ist: Seid untertan aller menschlichen Ordnung um des Herrn Willen (1. Petr. 2, 13). Daher kann ich den hartnäckigen Anhängern des Papsttums um so weniger zürnen, besonders den ungebildeten Laien, da ich selbst trotz jahrelanger und fleißiger Beschäftigung mit der Theologie so zähe daran festgehalten habe. […]

Inzwischen hatte ich mich in jenem Jahre (1513) schon wieder der Auslegung des Psalters zugewandt, im Vertrauen darauf, daß ich durch die schulmäßige Behandlung der Briefe S. Pauli an die Römer und Galater und des Hebräerbriefs größere Übung erlangt hatte. Ich war von einer unglaublichen Sehnsucht befangen, den Verfasser des Römerbriefs verstehen zu lernen. Nicht als ob es mir an dem herzhaften Entschluß zu eindringender Forschung gefehlt hätte; ich stutzte einzig vor dem Worte (Röm. 1, 17) von »der Gerechtigkeit Gottes, die im Evangelium offenbart wird«.

Denn dieser Begriff der »Gerechtigkeit Gottes« mir geradezu verhaßt, weil ich gewohnt war, ihn nach dem Vorgange aller Theologen im Sinne der scholastischen Philosophie zu verstehen als die »formale oder aktive« Gerechtigkeit, vermöge deren Gott sich gerecht erweist, indem er die Sünder als die Ungerechten bestraft.

Ich aber fühlte mich, obwohl ich als Mönch ein untadeliges Leben führte, vor Gott als einen von Gewissensqualen verfolgten Sünder, und da ich nicht darauf vertrauen konnte, Gott durch Genugtuung versöhnt zu haben, liebte ich nicht, sondern ich haßte förmlich jene gerechte, die Sünder bestrafende Gottheit. Denn ich sagte mir: als ob es nicht genug wäre, daß die elenden Sünder, die schon durch den Fluch der Erbsünde ewiger Verdammnis preisgegeben sind, nach dem Gesetz des Alten Bundes allen erdenklichen Strafen heimgesucht werden, wenn nicht Gott durch das neue Evangelium die Qual noch vermehrte, indem er auch durch die Botschaft des Neuen Bundes uns nur seine zürnende und strafende Gerechtigkeit ankündigt. So marterte ich mich in der Strenge und Verworrenheit meines Gewissens; dabei aber brütete ich unablässig über jenem Ausspruch des Apostels, dessen Sinn ich mit glühender Begierde zu enträtseln suchte.

Bis nach tage- und nächtelangem Nachsinnen sich Gott meiner erbarmte, daß ich den inneren Zusammenhang der beiden Stellen »Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium offenbar« und wiederum: »Der Gerechte lebt durch seinen Glauben« fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes zu begreifen, kraft deren der Gerechte aus Gottes Gnade selig wird, nämlich durch den Glauben: daß die Gerechtigkeit Gottes, die durch das Evangelium offenbart werde, in dem passiven Sinne zu verstehen ist, daß Gott in seiner Barmherzigkeit uns durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: »Der Gerechte lebt aus Glauben«. Nun fühlte ich mich geradezu wie neugeboren und glaubte, durch weit geöffnete Tore in das Paradies eingetreten zu sein. Ich ging dann die Heilige Schrift durch, soweit ich sie im Gedächtnis hatte und fand in anderen Wendungen den entsprechenden Sinn: so ist das »Werk Gottes« dasjenige, was Gott in uns wirkt, die »Stärke Gottes« das, wodurch er uns stark macht, die »Weisheit Gottes«, durch die er uns weise macht, und so ist auch die »Kraft Gottes«, das »Heil Gottes«, die »Ehre Gottes« aufzufassen.

Je lebhafter ich also bisher das Wort von der »Gerechtigkeit Gottes« gehaßt hatte, um so liebevoller mußte ich nun diese gnadenreiche Vorstellung umfassen, und so hat mir jener Ausspruch des Apostels in der Tat die Pforten des Himmels erschlossen. Nachher las ich Augustins Schrift »Über den Geist und den Buchstaben« (de spiritu et litera), wo ich wider Erwarten fand, daß auch dieser die Gerechtigkeit Gottes auffaßt als diejenige, die Gott uns legt, indem er uns rechtfertigt. Und wiewohl das noch unvollkommen gedacht ist und dieser Vorgang der Beilegung nicht alles deutlich erklärt, war ich doch zufrieden, daß hier die Gerechtigkeit Gottes dahin erläutert wurde, daß wir durch sie gerecht gesprochen werden.

Durch solche Gedankengänge besser ausgerüstet, begann ich die Psalmen ein zweites Mal zu erklären, und aus dieser Arbeit. wäre ein umfangreicher Kommentar entstanden, wenn ich nicht im folgenden Jahre durch die Berufung vor den durch Kaiser Karl V. in Worms abgehaltenen Reichstag zu neuer Unterbrechung genötigt worden wäre.

Das aber erzähle ich dir, lieber Leser, damit du beim Durchgehen meiner Schriftchen dir vergegenwärtigst, daß ich, wie Augustin von sich selbst sagt, einer von denen gewesen bin, die sich durch Schreiben und Lehren vorwärtszubringen suchten, nicht von denen, die aus nichts mit einem Schlage alles werden, obwohl sie doch nichts gearbeitet, keine Versuchung bestanden, keine Erfahrungen gesammelt, sondern auf den ersten Anlauf sich des gesamten Inhalts der Heiligen Schrift bemächtigt haben.

Bis hierher war in den Jahren 1520 und 1521 der Ablaßstreit gediehen; ihm schlossen sich an der Abendmahlsstreit und die Kämpfe mit den Wiedertäufern, zu denen ich in den folgenden Bänden, sofern ich noch lebe, eine Einleitung geben werde.

Und nun Gott befohlen, lieber Leser, und bete für das Gedeihen des göttlichen Wortes trotz der Macht und List des Satans, der gerade jetzt sich wütend und grausam gebärdet, weil er weiß, daß seine Zeit kurz bemessen ist und die Herrschaft des Papstes ins Wanken geraten ist. Gott aber möge das in uns bekräftigen, was er selbst gewirkt hat, und das Werk vollführen, das er uns angefangen hat (Phil. 1, 6), zu seiner Ehre. Amen.

Geschrieben am 5. März 1545.

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