Krummacher, Gottfried Daniel - Das Haupt der Gemeine (2)
Wenn ich sage, es seien am vorigen Donnerstag Abend, vor 305 Jahren, etliche Nägel in die Türe der Schloßkirche zu Wittenberg geschlagen worden, um ein Blatt daran zu befestigen, welche bis für den heutigen Tag die denkwürdigsten Umwälzungen bewirkt haben, so sage ich nichts, dem nicht jeder Kundige seine Zustimmung geben wird. Es ist nie eine Schlacht geliefert, nie ein Sieg errungen, der in seinen Wirkungen dem Ereignis an die Seite zu setzen wäre, das wir jetzt im Auge haben. Wir meinen aber die Reformation, dieses bewundernswürdige Ereignis, welches so wirklich an jenes Blatt, an jene Nägel anreicht, womit der große Mann Luther jenes Blatt am Aller-Heiligsten-Abend an die Schloßkirche anheftete, worin er, durch seine Stelle als Doktor und Professor der Theologie auf der Universität dazu ermächtigt, 95 Sätze aufstellte, deren Wahrheit oder Unhaltbarkeit von gelehrten Männern auf dem Wege öffentlicher oder mündlicher Disputation ausgemittelt, dabei aber nur der heiligen Schrift entscheidende Kraft beigelegt, und dann von einigen Universitäten entschieden werden sollte, wer Recht behalten habe. Luther selbst begriff damals die Wichtigkeit dieses Schrittes, die ungeheuren und unabsehbaren Folgen und Wirkungen, die derselbe nach sich ziehen, die entsetzlichen, zum Teil gänzlichen Umkehrungen, die er in ihren unzählbaren Beziehungen verursachen würde, dies alles begriff der noch zaghafte und unbefestigte Mönch (damals etwa 30 Jahre alt) noch nicht, sonst würde seine bebende Hand die Nägel nicht haben einschlagen können.
Sein Hammer und sein Blatt waren nichts anders, als eine Aufforderung zum Zweikampf an den, möchte' man sagen, allmächtigen Papst und den ihm ganz ergebenen römischen Kaiser, in dessen Staaten die Sonne nie unterging, vor dem Kurfürsten knien mußten, und der einen König von Frankreich als seinen Gefangenen nach Madrid führte, an die ganze Welt und den Teufel dazu. Das begriff damals der fromme, zaghafte, allein dastehende, schwache und wehrlose Mönch noch nicht, dessen der Papst und, wie es schien, mit Recht, als nicht bedeutend, hohnlächelte, daß durch das Blöcken dieses Schafs die reißenden Wölfe würden verjagt werden. Als er's aber in Gott begriff, da war teils an kein Zurückziehen mehr zu denken, teils wuchs auch sein Mut in dem Maße der Schwierigkeiten so, daß er nach Worms ziehen wollte, „und wenn soviel Teufel dort wären, als Ziegel auf den Dächern.“
Und welch' ein erstaunliches Werk reiht sich an jenes Blatt! Ein Werk, dessen Ausführbarkeit niemand würde geglaubt haben, wäre es voraus verkündigt worden, und das durch ein so schwaches Werkzeug, das damals selbst noch nicht wußte, wie es daran war, ob der Papst Recht oder Unrecht hätte.
Doch ich begnüge mich, bloß dies wenige zu bemerken, wozu die wechselnde Zeit veranlaßte, ohne weitere Anmerkungen daran zu knüpfen, die ich eurem beliebigen Nachdenken überlasse, obschon es wohl schon der Mühe wert gewesen wäre, unsern diesmaligen Vortrag ganz diesem großen Gegenstande zu widmen.
Wir gedenken aber mit der Betrachtung des erzväterlichen Segens über Juda fortzufahren, wozu uns der Herr alles Nötige und heilsame verleihen wolle! Wir werfen uns deswegen vor der allerhöchsten und einigen Majestät nieder in den Staub, begehrend:
Fülle uns frühe mit deiner Gnade, denn deine Güte ist besser als leben! Wir preisen dich über der großen Macht und Weisheit, Licht und Unverzagtheit, die du schwachen Menschen verleihen und durch sie gewaltig ausrichten kannst, wenn es dir also gefällt.
Es wird das Szepter von Juda nicht entwendet werden, noch ein Meister von seinen Füßen, bis daß der Held komme, und demselben werden die Völker anhangen.\
1. Mose 49,10.
Der sterbende Israel legt in diesem Wort ein schönes Glaubensbekenntnis ab, das durch den Erfolg und durch die Schriften des neuen Testaments seine volle Klarheit erhält, an sich aber in einige Dunkelheit gehüllt ist und mehr enthält, als der Heilige Geist unter dem alten Bunde klar zu machen für gut fand.
Nachdem wir den ersten Teil dieser Weissagung unlängst betrachtet, gehen wir daher jetzt zu diesem zweiten über, worin wir eine Nachricht finden von der Zukunft des Erlösers.
Von der Zukunft des Erlösers redet der heilige Erzvater im 10. Vers also: „Es wird der Szepter von Juda nicht entwendet werden, noch ein Meister von seinen Füßen, bis daß der Held kommt, und demselben werden die Völker anhangen.“
Wo in unserer Übersetzung das Wort Held gebraucht wird, steht im Hebräischen das Wort Schilo, welches nur dies einzige Mal in der heiligen Schrift vorkommt, dessen eigentliche Bedeutung daher den Gelehrten viel zu schaffen gemacht hat. Das Wort bezeichnet aber wohl einen solchen, welcher selber ruhet und anderen Ruhe gibt, weil er sich im Besitz vieler Güter befindet, woran er andere gütig teilnehmen läßt.
Ein jeder sieht leicht, welcher der Mann sei, auf den dieses im ausgezeichnetsten Sinne paßt; der nämlich, der die Mühseligen und Beladenen zu sich einladet unter der Verheißung, sie zu erquicken und der Aufforderung, sein sanftes Joch, seine leichte Last auf sich zu nehmen und so Ruhe zu finden für ihre Seelen.
Als einen ruhenden Löwen hatte Jakob ihn soeben vorgestellt, wenn er von ihm sagt, er habe sich gelagert wie ein Löwe etc., und so fährt er in diesem Bilde fort und nennt ihn den Schilo, den in welchem alles, was wahrhaft beruhigen kann, wohnt, von dem die wahre Seelenruhe allein ausgeht, bei dem sie allein zu finden ist. Hat das Wort Schilo eine Dunkelheit, so war dies dem alten Bunde völlig angemessen, während dessen das Geheimnis der Gottseligkeit nur von ferne geahnt, nicht klar verstanden wurde, eine Dunkelheit jedoch, welche die Gläubigen reizte, nachzuforschen, auf welche Zeit der Geist Jesu Christi deutete, der in ihnen war. Und freilich mag auch etwas mit den dürresten Worten da stehen, so muß es uns doch durch den heiligen Geist klar gemacht werden. Der Apostel zeigt uns aber Hebr. 4, wie von Anfang an auf den gedeutet worden sei, der der Urheber wahrer Ruhe ist, nämlich Jesum. Er findet dies schon in der Heiligung des siebten Tages, der seinen Namen von der Ruhe hat; sodann wie Josua, der das Volk durch die Einführung desselben ins gelobte Land zu derjenigen Ruhe gebracht zu haben schien, von welcher während des Herumziehens der Kinder Israel, als einer solchen die Rede war, zu welcher die Ungläubigen und Ungehorsamen nicht kommen sollten. Demnächst aber findet der Apostel den Beweis, daß dies die gemeinte Ruhe nicht sei, darin, daß David, nachdem die Kinder Israel schon längst in Kanaan wohnten, abermals einen Tag der Ruhe verkündigt. Das, was Josua nicht in der Wirklichkeit, sondern nur im Bilde vermochte, nämlich zur Ruhe zu führen, das tat und tut der wirkliche und eigentliche Josua, von dem Jakob als vom Schilo redet. Er gibt eine ganz vollkommene Ruhe, die weder durch das Gesetz, noch durch das Gefühl ihrer Sündlichkeit, weder durch den Ungestüm der Menschen, noch durch die Bitterkeit der Leiden, weder durch Schrecken des Todes, noch durch die Majestät des zukünftigen Gerichts, ich will nicht sagen aufgehoben, nicht einmal gestört werden kann, da doch außer Christo uns ein rauschendes Blatt in die Flucht jagen kann; ja der Gottlose fleucht wohl, wo ihn niemand jagt. Der Schilo war's, der auch das Gemüt des nun seinem Tode nahen Erzvaters so völlig stillte und beruhigte, daß er jetzt erst seine Reise zurückgelegt zu haben und ins Vaterland zu gehen glaubte. Daher wird auch V. 33 von seinem Tode wie von einer Kleinigkeit, und gleichsam scherzend gesprochen: Er tat seine Füße zusammen aufs Bette und verschied, und ward versammelt zu seinem Volk. Und o, wie viele sind, die bei diesem Schilo Ruhe gefunden haben für ihre Seelen! Möchten ihrer auch unter uns viele sein, die sie wenigstens bei ihm suchen.
Zur völligen Ruhe ist aber erforderlich, daß man im Besitze aller derjenigen Güter sich befinde, die alle unsere Begierden so befriedigen, daß ihnen nichts zu wünschen übrig bleibt, denn so lange uns noch etwas zu wünschen übrig bleibt, haben wir keine Ruhe. Insbesondere muß derjenige, der uns als der Schilo, als der Ruhegeber angepriesen wird, reich, er muß im Besitz unendlicher Güter sein, solcher Güter, bei welchen oder über welche hinaus nichts zu wünschen übrig bleibt; er muß sie ohne Maß und zur völligsten Disposition und Verteilung nach seinem Wohlgefallen und nach dem Verlangen der Begehrenden besitzen. Es gehört aber unaussprechlich viel dazu, die weiten Räume einer menschlichen Seele auszufüllen, daß sie in eine völlige vergnügende Ruhe eingeht. Die ganze Welt mit all ihren Gütern ist so wenig dazu geschickt, daß sie die Begierden eher reizt und aufregt, als stillt und befriedigt. Man hat Menschen gesehen, welche die ganze bewohnte Erde besiegt hatten und nun begehrten, einen Weg nach dem Monde zu erfinden, um denselben ebenfalls zu unterjochen. Wer da meint, durch einen gewissen Teil irdischer Güter befriedigt werden zu können, verrechnet sich gänzlich. So lange man nicht alles hat, kann man nicht ruhen. Jakob aber hatte alles genug, und Paulus alles und überflüssig. Kein Wunder, wenn sie Ruhe hatten. Wer nicht alles bekommen kann, dem kann etwas, und wenn's noch so viel wäre, nicht genügen, wiewohl man auch mit wenig, ja mit nichts zufrieden sein kann. Jedoch durfte Israel es getrost wagen, den, welchen er im Sinne hatte, als den Schilo, vollkommenen Ruhegeber, zu preisen, denn derselbe ist im uneingeschränktesten Besitz aller der Güter, die ein menschliches Herz, ja alle menschlichen Herzen zur völligen Sättigung befriedigen können, so daß ihnen nichts weiteres oder anderes zu wünschen übrig bleibt. Von ihm lehrt uns die Schrift: Alle Schätze seien in ihm verborgen, sein Reichtum sei unausforschlich, ja alle Fülle der Gottheit wohne in ihm leibhaftig. Es wird von reichen Gütern seines Hauses geredet; das, was man bei ihm finden kann, wird unter dem glänzenden alles Herrliche in sich schließenden Bilde eines königlichen Hochzeitmahles vorgestellt und gesagt: Er sei reich über alle, die ihn anrufen. Er wird uns als derjenige vorgestellt, welcher der Kanal ist, wodurch sich alle Segnungen von Gott auf uns ergießen, als der, dem alle Dinge übergeben sind, der der Pfleger der wahrhaftigen Güter ist. Wie reich und mildtätig er sein müsse, das erhellt ja auch daraus, daß er ohne Einschränkung verspricht, alles zu tun um was wir in seinem Namen bitten, und wiederum. so ihr in mir bleibet, und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren.
Wir haben auch viele herrliche Exempel dessen, was sich seine zu ihm versahen und ihm zutrauten. Galt es ihre Rechtfertigung, so durften sie wohl, auf ihren Schilo gestützt, fragen: Wer ist, der Recht zu mir hat, wer will beschuldigen oder gar verdammen? Denn aller Zeug, der wider dich zubereitet ist, dem wird es nicht gelingen, und alle Zunge, so sich wider dich setzt, sollst du im Gericht verdammen (Jes. 54,17). Galt es den Sieg über Feinde und Versuchungen, die ihnen als solche weit überlegen, unter welchen sie als Schafe unter Wölfen waren, so durften sie, auf den nämlichen Grund gestützt, rühmen: In dem allen überwinden wir weit um deswillen, der uns geliebet hat (Römer 8,37). Galt es die Ausübung der göttlichen Gebote, oder die Übernahme von Leiden, so pochten sie auf ihres Schilos Rechnung: Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht. Galt es das Durchkommen durch diese Welt oder das Beharren bis ans Ende, so waren sie für sich und andere des in guter Zuversicht, daß der in ihnen angefangen habe das gute Werk, der werde es auch vollführen bis an den Tag Jesu Christi. Gilt es noch Stärke, so ist er's, der die Geringen tröstet wie eine Mutter; der eine gelehrte Zunge hat, mit den Müden ein Wort zu seiner Zeit zu reden. Gilt's Hülfe, so ist er ein Meister zu helfen, und an dem keiner zu Schanden wird, der sein harret. Gelte es, was es wolle, so tritt er daher und fragt: Was willst du, daß ich dir tun soll? O gäbe es nur der Blinden, Krüppel und dergl. viel, die ihm auf solche Frage schon Antwort zu geben wüßten, und so in ihnen selbst erführen, was es um diesen Schilo ist! Wir werden auch gar nicht in Zweifel gelassen, welches die Personen sind, die sich sein getröstet mögen, und welche nicht. Nein, es wird teils keineswegs so ins Blaue hinein geredet, als ob's alle und jede anginge, mögen es Bußfertige sein oder nicht, Gläubige sein oder nicht; mögen sie nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, oder nur die Erde begehren; mögen sie über ihre Sünden und Unarten, über ihre Trägheit, Torheit und Ohnmacht Leid tragen oder sich darin gefallen; mögen sie sich zu Jesu wenden oder es lassen. O nein! Ihr seid wohl rein, sagt Jesus, aber nicht alle. Er scheidet Schafe von Böcken, Gläubige von den Ungläubigen, Bußfertige von den Unbußfertigen. Teils wird das Wort von Christo auch nicht so aufs Ungewisse hin geredet, als ob's erst in jener Welt kund würde, welche er vorher versehen hat; denn welche er zuvor versehen hat, die hat er auch verordnet, daß sie gleich sein sollten dem Ebenbilde seines Sohnes (Römer 8,29). An den Früchten sollt ihr sie erkennen. Er nennt ja selbst die Armen als diejenigen, denen das Evangelium gepredigt wird, und welcher das Himmelreich sei; die leide tragen als die, die getröstet werden sollen; diejenigen, die da hungern und dursten nach der Gerechtigkeit, die, so reines Herzens sind, als solche, die gesättigt werden und Gott schauen sollen. Und so ist's ja gewißlich wahr und ein teures wertes Wort, daß Christus Jesus ist gekommen in die Welt, die Sünder selig zu machen. Wo, wollten doch auch Sünder, die tot sind in Sünden, und in deren Fleisch nichts Gutes wohnet, wo wollten sie doch finden, was zu ihrem Frieden dient? Wo wollten sie selbst die Buße, den Glauben, die Hoffnung, die Liebe finden, wenn der, der uns den Schilo gegeben, uns mit ihm nicht alles geschenkt hätte? Nicht zu verwundern ist es demnach, wenn er zur Martha sagte: Eins ist not! und dies ist auch uns zur Nachricht und Nachahmung aufgeschrieben. Zar erklärt sich Jesus etwas näher darüber, was er unter diesem Eins und dem guten Teil verstehe, was Maria gewählt habe, und was nicht von ihr genommen werden würde; aber diese Erklärung wird sich schon zur Zeit finden, vorausgesetzt, daß wir unsere Seligkeit schaffen mit Furcht und Zittern. Der große Apostel Paulus erlebte auch eine Zeit, wo er ausrufen mußte: Ach, ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes? wo die Sünde in ihm lebendig, und er überaus sündig wurde durchs Gebot; wo er Wollen des Guten hatte, es ihm aber am Vollbringen fehlte; wo er das Gesetz in seinen Gliedern spürte, welches ihn gefangen hielt in der Sünde Gesetz, so daß er das Gute, was er wollte, nicht tat, und das Böse tat, was er nicht wollte. Aber darauf folgte eine Zeit, wo er ausrufen konnte: Ich danke Gott durch Christum. So diene ich nun mit dem Gemüte dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde. Ich habe alles für Schaden geachtet gegen die überschwengliche Erkenntnis Jesu Christi (Phil. 3,8).
Dieser Schilo ist die Hauptsache in dem Segen, den Juda empfängt, wiewohl das Meiste, was von ihm gesagt ist, in ein geheimnisvolles Dunkel eingehüllt und in seltsamen Bildern vorgetragen wird, wie es dem damaligen Stand der Kirche angemessen war. Deshalb bekam Israel in jenem nächtlichen Kampf auch keine Antwort auf die Frage: Wie heißest du? die er dem Manne tat, der mit ihm rang. Und überhaupt entsteht die rechte Klarheit erst durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes; da wird das Weissagen zu einem Verstehen und Erkennen. Wir haben ein festes prophetisches Wort, und ihr tut wohl, daß ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheinet in einem dunkeln Ort, bis der Tag anbreche, und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen (2 Petri 1,19). Übrigens bezeichnet Israel den Juda als denjenigen, von welchem der seinem Großvater Abraham verheißene segnende Same abstammen sollte, welches er natürlich nur aus einer göttlichen Offenbarung wissen konnte. Von diesem Schilo sagt der heilige Erzvater: Er wird kommen. Er war also noch nicht da. Zwar sagte Jesus zu den Juden: Ehe Abraham war, bin ich, und Johannes steigt noch höher hinauf, wenn er schreibt: Im Anfang war das Wort. Allein dieses ist von seiner Gottheit zu verstehen, wie Paulus Hebr. 1 von ihm sagt: Gott, dein Stuhl währet von Ewigkeit zu Ewigkeit. Zu dem Glaubensbekenntnis der alten Kirche gehörte aber die Versicherung: Er wird kommen, und es hieß: Ob er verzeucht, harre sein! Die Art seines Kommens ward auch immer deutlicher bestimmt, so daß Jesaias von ihm sagt: Er werde als ein Kind kommen, von einer Jungfrau geboren, und Micha Bethlehem als den Ort nennt, woraus der Herzog kommen werde, dessen Ausgänge von Anfang und von Ewigkeit sind. Glaubte nun sogar eine Samariterin: Wenn der Messias kommt, so wird er's uns alles sagen, so knüpften die gläubigen Juden noch vielmehr die herrlichsten Erwartungen an sein Kommen. Er sollte aber kommen und ist jetzt gekommen als ein göttlicher Gesandter an die Menschen, ihnen seinen Willen kund zu machen; als das große und einzige Opfer für die Sünde, um selbige zu versöhnen; als der vollkommene Arzt, um sie von der Sünde und ihren schrecklichen Folgen zu heilen; als der mächtige Erlöser derer, die auf Hoffnung gefangen liegen; als der Weg, die Wahrheit und das Leben; als der wahre Hirte der Schafe und die einzige Tür, durch welche man Eingang findet; als das Licht, zu erleuchten die Heiden, als der Trost Israels und das Heil der Welt. Er ist gekommen vom Himmel auf diese Erde, und dies nicht mit Glanz und Herrlichkeit, sondern in tiefste Knechtsgestalt eingehüllt, nicht um sich dienen zu lassen, sondern daß er diene; ist gekommen, um den Himmel gegen einen Stall und den Thron gegen das Kreuz und die Herrlichkeit gegen Schmach und Fluch und Elend zu vertauschen, damit er die Seinigen zur Seligkeit und Herrlichkeit erhöbe. Er ist gekommen, die Missetat zu versöhnen, und die nur ihm überwindliche Sünde vom Thron zu stürzen und den starken Gewappneten zu binden, um ein Reich zu errichten, das inwendig im Menschen ist und in Gerechtigkeit, Friede und Freude in dem heiligen Geist besteht; gekommen, nicht den Frieden zu bringen, sondern den Krieg; gekommen zum Gericht, daß die Sehenden blind, und die Blinden sehend werden; gekommen, nicht die Gerechten, sondern die Sünder zur Buße zu rufen; gekommen, zu trösten alle Traurigen. Er kommt noch zu einer Seele, wenn er sie in die Buße leitet, sie tröstet und stärkt und heiligt, oder auch sie heilsam schilt, sie stäupt, sie demütigt und züchtigt, damit sie mehr gereinigt werde und seine Heiligung erlange. Alsdann erscheint er der Seele wohl als ein Grausamer, als ein Eiferer, der mit der Peitsche in der Hand und Stühle und Tische umwerfend, seinen Tempel reinigt. So kommt er das eine Mal als ein rauher, brausender Nordwind, der Eichbäume entwurzelt und nur das Niedrige schont, das sich vor ihm zur Erde biegt. Jetzt kommt er als ein besänftigendes Öl, dann als ein beißender Wein, als die Seife der Wäscher oder das Feuer eines Goldschmiedes; zuweilen scheint er auch zu verziehen. Wohl aber allen, über die er in Gnaden, wehe aber allen Verächtern, über die er im Zorn mit Feuerflammen kommt! Begegnet deswegen dem Herrn eurem Gott, küsset den Sohn, daß er nicht zürne, demütiget euch vor ihm, damit er euch erhöhe zu seiner Zeit. Auch die Kirche des neuen Testaments betrachtet ihn als einen Kommenden; denn er wird kommen, wie ihn die Jünger sahen gen Himmel fahren. (Apg. 1,11). Und wie sahen sie ihn gen Himmel fahren? Segnend. Zu allen Zeiten hat die Kirche seiner Zukunft entgegen gesehen und sich ihr entgegen gesehnt. Schon zwei tausend Jahre hindurch hat sie auf sein Geheiß gebetet: „Dein Reich komme“ und schon oft gemeint, sie nähme die Zeichen seiner Zukunft wahr, und sich doch wieder zu neuem Harren verwiesen gesehen. Sie erwartet aber noch vor der letzten Zukunft Christi zum Gericht, eine alle vorigen weit übertreffende Erweisung seiner herrlichen Macht und Gnade, eine Zerstörung des Unglaubens, des Aberglaubens und des antichristlichen Wesens, in der Bindung des Satans auf tausend Jahre, in Erfüllung der dem alten Volke Gottes gegebenen Verheißung, in Bekehrung der Heiden, in reicher Ausgießung des Heiligen Geistes über alles Fleisch, wodurch die Erkenntnis des Herrn, wie mit Wasser des Meeres bedeckt, groß werden wird (Jes. 11,9); in der Aufhebung des Kriegs, in der Sammlung zu einer Herde und einem Hirten. Hierum hat die Kirche schon an zwei tausend Jahre gebetet, und wenn endlich das mehr als tausendjährige Gebet mit der Erfüllung zurückkommen wird, so wird das freilich etwas geben, wobei uns sein wird wie den Träumenden; etwas, das alle Erwartungen übertreffen wird, das also des heißen Verlangens aller Gläubigen unendlich wert ist. Und dies Verlangen wird ja in unsern Zeiten sehr angefeuert, teils durch allerhand betrübte Ereignisse, wegen eines heftigen Unglaubens, Verfall in Lehre und Leben, Sorglosigkeit und Ruchlosigkeit der Menschen, teils durch allerhand sehr erfreuliche Ereignisse, als da sind: Die bewunderungswürdige Verbreitung der heiligen Schrift in allen Sprachen der Erde; die eifrige Tätigkeit zur Ausbreitung des Evangelii unter Juden und Heiden und die glücklichen Erfolge derselben, die merkwürdigen Erweckungen, die sich an vielen Orten in der Christenheit zeigen, und der Widerstand, den sie finden, so wie die angenehme Erfahrung, daß nicht wenige von den jungen Gottesgelehrten dem Evangelio gehorsam werden. Dies alles muntert auf, desto eifriger zu schreien: Ja, komm, Herr Jesu! Endlich erwartet die Kirche die Zukunft Jesu Christi zum Weltgericht, wo wir alle vor seinem Richterstuhl offenbar werden müssen, auf daß ein jeglicher empfahe, nachdem er gehandelt hat bei Leibes Leben, es sei gut oder böse.
Der heilige Erzvater hat hier aber insbesondere die Erscheinung des Schilo ins Fleisch im Auge, wiewohl das Alte Testament die zweite Zukunft damit zu verknüpfen pflegt, weshalb auch die Jünger glaubten, das Reich Jesu Christi würde noch während seines Wandels auf Erden in seiner ganzen Herrlichkeit offenbar werden, was es doch bis auf diese Stunde nicht ist.
Er bestimmt den Zeitpunkt seiner Erscheinung im Fleisch durch zwei Umstände, nämlich: Das Szepter würde von Juda nicht entwendet werden, noch ein Meister von seinen Füßen, bis daß der Schilo komme. Das Wort, welches Luther durch Szepter übersetzt, hat diese Bedeutung allerdings, eigentlich heißt es doch Stamm. Diese Redensart zeigt teils überhaupt an, daß Juda so lange ein abgesonderter, für sich bestehender Stamm sein und bleiben werde, bis der Schilo werde gekommen sein, aber auch nicht länger, teils insbesondere, daß der Stamm oder die Linie, aus welcher er entspringen würde, ebenfalls bis so lange würde nachgewiesen werden können. Dies eine sowohl wie da andere ist eine höchst merkwürdige Weissagung, deren in die Augen leuchtende Erfüllung die Wahrhaftigkeit des göttlichen Wortes auf eine auffallende Weise dartut. wie leicht war es nicht möglich, daß der Stamm Juda in einem Zeitraum von zwei tausend Jahren und darüber, entweder ausstarb, oder durch die vielen Kriege ausgerottet wurde, oder sich sonst unter andere Stämme verlor.
Wo sind die zehn Stämme geblieben, welche in die assyrische Gefangenschaft gerieten? Wie leicht war es möglich, daß dem Stamm Juda in der babylonischen Gefangenschaft das Nämliche widerfuhr. Aber voll Zuversicht sagt Jakob: Es wird nicht geschehen, und es geschieht auch nicht. Ja, wie viel leichter war es, daß ein einzelnes Geschlecht unterging, woraus der Schilo hervorgehen sollte. Aber auch dies sollte nicht sein und war nicht; sondern da Christus geboren wurde, war man noch vollkommen imstande, seine Abstammung von Juda und David auf eine unleugbare Weise darzutun, wie uns ja Matthäus und Lucas dies Geschlechtsregister liefern, und letzterer sogar bis auf Adam. Nicht weniger merkwürdig ist es, wenn Jacob zu erkennen gibt: Länger als bis zur Ankunft des Schilo werde Juda kein abgesonderter Stamm bleiben, welches ja auch augenscheinlich in Erfüllung gegangen ist, da die Juden seit der Zerstörung Jerusalems keinen einzigen Stamm mehr nachweisen können. So beweiset demnach sowohl die lang erhaltene Absonderung des Stammes Juda als das Aufhören desselben die Wahrhaftigkeit der heiligen Schrift überhaupt, so wie die Erfüllung der Verheißungen unsers Textes insbesondere.
Das andere Zeichen besteht darin, daß auch der Meister oder Gesetzgeber nicht eher aufhören sollte, bis der Schilo gekommen wäre. Dieser Meister oder Gesetzgeber ist der hohe Rat, welcher das jüdische Volk, Wesen und den äußerlichen Gottesdienst aufrecht erhielt. Dieser Gottesdienst, der sehr kostspielig war, sollte alles Druckes ungeachtet als ein Schattenriß der zukünftigen Güter erhalten bleiben, bis der Schilo komme. Und er wurde erhalten. Obschon Nebukadnezar den Salomonischen Tempel gänzlich zerstörte, so ward er doch 70 Jahre später wieder auferbauet, und von diesem zweiten Tempel, der dem ersten an Pracht durchaus nicht gleich kam, verheißen: Seine Herrlichkeit sollte dadurch viel größer als die des ersten werden, daß der Herr selber zu demselben kommen werde, welches in der Person Jesu Christi wirklich geschah. Jetzt war der Körper selbst da, nun mußte der Schatten schwinden, und er schwand auch, da der Tempel vierzig Jahre nach Christi Himmelfahrt zerstört ward, um nie in seiner vorigen Art wieder aufgebaut zu werden.
Endlich gedenkt der heilige Erzvater der Frucht der Erscheinung des Schilo, wenn er sagt: Dem werden die Völker anhangen oder gehorchen. In diesem Worten liegt die Anzeige, daß der Schilo unter Jakobs Nachkommen bei seiner Erscheinung so sonderlich viele Anhänger nicht finden werde, daß er an ihrer Statt deren aber unter allen Völkern dennoch finden werde. So deutlich kündigte Jakob die ferne und segensvolle Zukunft an. Wir sind des freilich alle überzeugt, daß der Schilo gekommen sei. Möchten wir alle auch Beweise von der Erfüllung des letzten Teils der Weissagung des heiligen Erzvaters sein: Dem werden die Völker anhangen! Freilich bekennen wir uns zu der christlichen Religion und nennen uns nach Christo Christen; aber größtenteils so, wie es dort von den Juden heißt: Sie sagen, sie seien Juden und sind's nicht. Darauf kommt's an, daß wir ihm anhangen, welches nur mit unserm Sinn, mit unserm Herzen, mit unserm Verlangen geschieht, mit unserer Liebe und Vertrauen. Sollen wir ihm anhangen, so müssen wir von allem andern ablassen, denn: Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert. Freilich, wer sich so als den armen, den elenden, verlorenen Sünder, und Jesum als den einigen und vollkommenen Seligmacher kennen lernt, wer keine andere Zuflucht, Rettung, Hülfe und Seligkeit zu finden weiß, als bei diesem Schilo, bei dem wird sich auch schon das Anhangen finden. Wie hing ihm jener blinde Bartimäus mit seinem Geschrei: Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich mein! an, um von seiner Blindheit geheilt zu werden, mochte ihn schweigen heißen, wer wollte. Wie hing ihm jenes kanaanäische Weib an und ließ mit ihrem Flehen nicht ab, mochte er sogar selbst sie abzuweisen scheinen! Werdet ihr erst eure Sündennot recht gewahr, und sie muß erst zu einer Not werden, o wie wird sich da das Anhangen schon finden! Werdet ihr sodann gewahr werden, wie sehr mit Recht er Schilo, Ruhegeber, heißt, und wie er reicht macht, gewahr werden, wie ihr arm in euch selbst seid und bliebt, o wie innig werdet ihr ihm anhangen! Suchet derhalben diese Seelengestalt, so werdet ihr inne werden, daß, die dem Herrn anhangen, ein Geist mit ihm sind. Amen.