Zuletzt angesehen: Guigo - Bibellesen

Guigo - Bibellesen

Guigo - Bibellesen

Die Leiter, auf der man von der Erde zum Himmel steigt, hat vier Stufen: das Lesen, die Betrachtung, das Gebet, die Beschauung. Suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgethan! spricht der Herr. Suchet durch Lesen, und ihr werdet finden im Betrachten, klopfet an durch Gebet, und es wird euch aufgethan werden in der Beschauung. Das Lesen bringt gleichsam eine feste Speise zum Munde, die Betrachtung zerbeißt und zerkaut sie, das Gebet thut den Wohlgeschmack hinzu, welcher eben in der Beschauung besteht. Ein Beispiel von vielen soll dieß klar machen. Ich lese das Wort: Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen! Siehe, dieser kurze, aber liebliche und bedeutsame Spruch reicht gleichsam eine Traube zur Labung der Seele dar. Die Seele sieht sie sofort an und spricht bei sich selbst: Es kann etwas Gutes darin sein, ich will in mein Herz einkehren und versuchen, ob ich wohl diese Reinheit verstehen und finden mag. Die aufmerksame Betrachtung tritt nun hinzu, die Seele bleibt nicht mehr auf der Oberfläche des Buchstabens stehen. Sie achtet darauf, daß es nicht heißt: Selig sind, die körperlich rein sind, sondern: die reines Herzens sind, ihr fallt der Ausspruch des Psalmisten ein: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz! Sie fängt auch an über den Lohn der Herzensreinheit nachzudenken. Wie herrlich und köstlich ist es, spricht sie, das lang ersehnte Antlitz des Herrn zu schauen? Wie wird es sein, wenn in Erfüllung geht, was geschrieben steht: Ich werde satt werden, wenn ich erwache nach seinem Bilde. Die Betrachtung einer solchen Reinheit ist der Seele angenehm geworden, sie möchte sie nun gern auch in Erfahrung bringen. Aber was soll sie thun? Obwohl sie vor Verlangen schmachtet, findet sie doch in sich keine Hülfe; je höher sie steigt, desto höher steigt auch Gott. Da erniedrigt sie sich denn, nimmt zum Gebete ihre Zuflucht, und spricht: Herr, der du nur von denen geschaut wirst, die reines Herzens sind, ich habe nach der wahren Herzensreinheit durch Lesen gesucht, durch Betrachten geforscht. Ich suchte Dein Antlitz, o Herr, Dein Antlitz habe ich gesucht. Lange habe ich in meinem Herzen nachgedacht, und beim Nachdenken ist das Feuer und die Sehnsucht entbrannt, Dich besser zu erkennen. Ich bin unwürdig und sündig, aber doch essen die Hündlein von den Brosamen, die von ihrer Herrn Tische fallen. So gieb mir denn, o Herr, wenigstens einen Tropfen himmlischen Wassers als Unterpfand des künftigen Erbes! Durch solche und andere kräftige Reden entflammt sie ihre Sehnsucht, zeigt sie ihre Liebe. Der Herr aber, dessen Augen auf die Gerechten sehen, wartet nicht einmal, bis das Gebet zu Ende ist, sondern alsbald kommt er der verlangenden Seele entgegen mit seiner himmlischen Freundlichkeit, tränkt die dürstende, wässert die dürre, und läßt sie der Erde ganz vergessen. Er macht sie stark und lebendig, trunken und nüchtern zugleich!

Quelle: Galle, Friedrich - Geistliche Stimmen aus dem Mittelalter

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/g/guigo/bibellesen.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain