Girgensohn, Thomas - Karfreitags-Gebet.
Schaffe in mir Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist; verwirf mich nicht vor deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir.
(Psalm. 51, 12. 13.)
Die vorstehenden Worte können die Christen wohl ganz besonders am Karfreitag oder überhaupt in der Leidenswoche dem Psalmisten nachbeten, weil das Kreuz Christi aufs Nachdrücklichste auf die Not hinweist, die uns zu solchem Gebet treiben muss, und weil andererseits das Kreuz auf Golgatha am Eindringlichsten die Erhörung dieses Gebets verbürgt. Wenn wir nach Golgatha hinblicken, so stellt sich uns dort die Sünde der Menschen in ihrer höchsten Steigerung vor Augen; bis dahin reißt die Sünde die Menschen fort, dass sie den, der die heilige Liebe in Person ist, ans Kreuz schlagen. Alle diese Bösewichter aber, alle diese teuflischen oder tierähnlichen Wesen, die sich um das Kreuz Christi sammeln, sind mit uns sündigen Menschen blutsverwandt, wir tragen dieselben Keime in uns, dieselbe böse Art an uns. Müssten wir nun beim Gedanken an jene furchtbaren Ausbrüche der Sünde unter dem Kreuz des Herrn nicht erkennen die dämonische Macht der Sünde, die unergründliche Verdorbenheit unseres natürlichen Wesens?
Ja, es muss sich uns auf die Lippen drängen die Bitte: schaffe in mir, Gott, ein reines Herz. Wenn wir aber über denken, was der Herr an jenem Leidenstage trägt, welche Lasten auf ihn gewälzt werden, so muss es uns vor Augen treten, welch' unermessliche Schuldenlast wir durch unsere Sünde an Gott auf uns geladen haben, welche Strafe wir verdient haben, so dass wir bekennen: nun, was du, Herr, erduldet, ist alles meine Last. Dann wird dem Herzen immer wieder bange um seine Schuld, dann möchte man immer wieder fragen: wer wälzt den Stein hinweg, der mein Gemüt bedrückt, wer macht mich der Vergebung meiner Schuld gewiss? Und aus solchem angsterfüllten Herzen steigt dann das Gebet auf: gib mir einen neuen gewissen Geist. Der heilige Sohn Gottes, so schauen wir weiter auf Golgatha, hängt am Kreuz und darf sich nicht der tröstlichen Nähe seines Vaters freuen, sondern muss rufen: mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Da fallen uns die Worte ein: so das geschieht am grünen Holz, was will am dürren werden. Haben wir es nicht schon zu fühlen bekommen, wie durch unsere Sünde Gottes Gnadengegenwart von uns weicht? Wird er uns nicht um unserer Missetat willen von seinem Angesichte verstoßen? Wir müssen beten: verwirf mich nicht vor deinem Angesicht. Wenn aber endlich der, der des Geistes Fülle hatte, der das Leben war, unter dem Zorn Gottes, der über die Menschheit erging, dahinschmachtete und im Tode sein Leben aushauchte, da müssten wir arme Sünder doch wahrlich sprechen und fühlen: der Tod ist der Sünde, auch meiner Sünde Sold. Da muss man bangen: durch meine Sünde vertreibe ich den heiligen Geist, der mir ewiges Leben gibt, aus meinem Herzen, wird dieser Geist nicht von mir weichen; da muss man beten: nimm deinen heiligen Geist nicht von mir. Wir werden jedoch unter dem Kreuze Christi nicht nur auf die Not gewiesen, die uns zum Beten drängt, sondern auch auf die Gnade, die uns zum Beten ermutigt, weil Christus uns durch sein Leiden und Sterben gerade das erworben hat, was zur Erfüllung dieser Bitten gehört. Wie der Schächer neben dem Herrn erkannte, dass der Schmerzensmann am Kreuz derjenige sei, bei dem alle armen Sünder Barmherzigkeit und Heilung alles Schadens finden könnten, so werden auch uns, wenn wir das Todesleiden des Herrn andächtig betrachten, die Augen dafür aufgehen: hier ist Gnade für uns, hier ist göttliche Liebesmacht, der man alle Rettung zutrauen kann; hier ist die Quelle aller Reinheit; hier kann man im Gefühl seiner Unreinheit und Sündenkrankheit Mut fassen, den Gekreuzigten anzurufen: schaffe in mir, Gott, ein reines Herz. Wir sollen auch beim Anschauen des Kreuzes Christi daran gedenken: die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, er trägt unsere Schuld, er bedeckt, sühnt sie mit seinem Blut; dazu ist Christus gestorben; so will und kann er uns auch die Vergebung der Schuld verbürgen. Und wenn der Friede noch nicht einkehren will ins Herz, wenn die freudige Gewissheit noch fehlt, dass unsere Schuld abgetan ist, so haben wir doch angesichts des Lammes Gottes das Recht zu beten: gib mir einen neuen gewissen Geist. Das Wort vom Kreuz ist ferner auch das Wort von der Versöhnung, das Kreuz auf Golgatha predigt uns: Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit sich selber.
Gott will mir also trotz Sünde und Schuld freundlich nahe treten; ich spüre sein Nahesein vielfach noch nicht; ich fühle mich vielfach wie von Gott verlassen, aber ich darf unter dem Kreuze Christi beten: verwirf mich nicht vor deinem Angesicht. Wir sehen endlich in dem, der am Kreuze hängt unser Haupt, unseren Weinstock, der uns zu seinen lebendigen Reben gestalten will, uns nach sich ziehen will und uns dazu seinen heiligen Geist verheißen hat. Wir werden unter dem Kreuz Christi daran erinnert, dass auch unser Weg ein Kreuzes-, ein Todesweg ist, wir werden aber auch darauf hingewiesen, dass dieser Weg zugleich ein Lebensweg ist, auf welchem uns der heilige Geist Christi zur Herrlichkeit leitet. Wenn uns vor Leid und Kampf und Tod bangt, so gibt das Kreuz des Herrn denen, welche in seinen Tod getauft sind, das Recht zu flehen: und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir. Die Verheißung des Herrn aber: bittet, so wird euch gegeben, wird sich an unserem Karfreitags-Gebet, so es ernstlich ist, erfüllen, und wir werden es einmal bezeugen können: so wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesum Christum.
K. R. 95. Nr. 13.