Girgensohn, Thomas - Zur Erbauung - Das Wachsen der Jünger Jesu.
Und darum bete ich, dass eure Liebe je mehr und mehr reich werde in allerlei Erkenntnis und Erfahrung, dass ihr prüfen mögt, was das Beste sei; auf dass ihr seid lauter und unanstößig bis auf den Tag Christi.
(Philipper 1, 9. 10.)
Was der Apostel nach diesen Worten von Gott erfleht, darum wollen auch wir, die heutigen Jünger Jesu, für uns selbst, für unsere Mitchristen, für unsere Gemeinden beten, nämlich, dass wir wachsen mögen. Was aber in uns wachsen soll, bezeichnet Paulus mit dem Ausdruck: eure Liebe. Nicht unsere natürliche Liebe meint er hiermit, sondern die uns von Gott durch Christum geschenkte Liebe; die im Glauben an Christum erfasste Liebe Gottes, die sich an uns in der Liebe zu Gott offenbart, das ist unsere Liebe, welche je mehr und mehr reich werden soll, indem wir immer mehr von Gottes Liebe wahrnehmen und empfangen und dadurch immer mehr zur Gegenliebe entzündet werden. Die erste Entwicklungsstufe aber beim Wachsen unserer Liebe ist nach den obigen Worten die, dass die Liebe reich werde in allerlei Erkenntnis. Das Jugendalter ist ja auch sonst besonders geeignet, eine Erkenntnis zu gewinnen, zu lernen, seinem Geiste einzuprägen, was man für das Leben braucht. So ist es auch mit der Erkenntnis der himmlischen Dinge; das Lernen und Erkennen auf diesem Gebiete ist wohl niemals abgeschlossen und hört auch mit dem Alter nicht auf; aber doch ist's auch hier der erste Abschnitt des Erdenlebens, ist's die Zeit der Jugendkraft und Jugendfrische des Geistes, in welcher ein guter Grund für alles spätere Erkennen gelegt werden muss; wo das versäumt ist, da fällt's schwer, die erste Entwicklungsstufe im Wachsen des Christenlebens nachzuholen. Soll aber dies Gebet, dass unsere Liebe reich werde in allerlei Erkenntnis, sich an uns erfüllen, so gilt es nun auch entsprechend der Bitte zu handeln, es gilt zu forschen in der Schrift, es gilt den Gedanken Gottes nachzudenken, sie im Herzen zu bewegen, die Worte sich einzuprägen und ihren Sinn und Zusammenhang zu ergründen, es gilt zu hören, so viel man es vermag, die Predigt der Kirche, es gilt zu fragen nach der Weisheit Gottes, über sie sich zu unterreden, auch zu lesen, was uns tiefer in das Verständnis des Gotteswortes hineinführen kann. Wo das geschieht, da werden wir wachsen in der Erkenntnis, und zwar wird unsere Liebe darin reich werden; werden wir doch als die Hauptsache und den Mittelpunkt, als das Schönste und Tiefste in den Gottesgedanken das erkennen: also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab; und solche Erkenntnis wird das Herz erwärmen; unsere Liebe wird reich, denn die erkannte Liebe Gottes führt uns mehr und mehr zu dem Bekenntnis: lasst uns ihn lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.
Aus der Erkenntnis wächst allmählich die Erfahrung heraus; das ist nun wieder eine weitere Stufe in der Entwicklung der Jünger Jesu; zu der Erfahrung kommt es von der inneren Wirkung der Gotteskräfte im Worte, zu der Erfahrung von der Gegenwart des Herrn in der Gemeinde, von der Erfüllung seiner Verheißung: siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende, von seiner Hirtenleitung in allen Lebensverhältnissen und Lebensfügungen. Aber dieses Reichwerden an Erfahrung des reiferen Lebensalters ist nicht wie durch eine feste Grenze getrennt von den früheren Lebensperioden, sondern reicht mit seinen Wurzeln auch da hinein; wenigstens die Erfahrung sollten wir, ob jung oder alt, alle machen, dass in Gottes Nähe, in seinem Hause, im Verkehr mit ihm, in der Gemeinschaft gläubiger Menschen uns so zu Mute wird, wie dem Petrus auf dem Berge der Verklärung: Herr, hier ist gut sein; auch die Erfahrung ist uns allen zugänglich, dass Gottes sündenvergebende Gnade ein unruhiges Gewissen stillen und uns dadurch sehr froh machen kann. Damit wir aber anfangen zu wachsen in der Erfahrung, so müssen wir uns nun auch dem zuwenden, der uns seine Freundlichkeit schmecken und fühlen lassen kann, so müssen wir anhalten am Gebet, täglich das Herz sich abkehren lassen in der Stunde des Gebets von dieser nichtigen Welt, täglich an unserem Herzen sich erfüllen lassen die Worte des Liedes: Weit über Berg und Tale, weit über blaches Feld, schwingt es sich über alle und eilet aus der Welt. Dann kommt es zur Erfahrung, kommt es dazu, dass unsere Liebe reich wird in allerlei Erfahrung, indem wir je mehr und mehr in allen Dingen Gottes Liebe erfahren, besonders auf dunklem Leidenswege es spüren, wie die Hand der Liebe uns führt, durch diese erfahrene Liebe auch zunehmen an Gegenliebe und aus der Erfahrung bekennen können: wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen.
Durch die Erfahrung hindurch geht nun der Entwicklungsgang der Jünger Jesu eine weitere Stufe hinan; von dieser redet der Apostel in den Worten: dass ihr prüfen möget, was das Beste sei. Es handelt sich hier um die rechte Weisheit im Hinblick auf die Pflichten und Aufgaben des Lebens; um zu prüfen, was man nach Gottes Willen tun soll, d. h. was das Beste sei, wie man sein Leben in rechter Ordnung führen soll, was man im Einzelnen zu meiden habe, was man, wo man am Scheidewege steht, erwählen soll, was im einzelnen Falle unter verwickelten Verhältnissen geschehen soll, dazu gehört viel Erkenntnis und Erfahrung; dazu gehört aber vor Allem ein sehr geübtes und geschärftes Gewissen, ein in der Heiligung bewährtes Herz. Darum erreicht man solch' sicheres Prüfen, was das Beste sei, nicht heute oder morgen, sondern reift unter vielen Kämpfen allmählich dazu heran. Aber etwas von dieser Weisheit können wir doch schon früh erlangen; es kommt nur sehr darauf an, unser Gewissen wach zu erhalten, uns von Gottes heiligen Geboten für alle Fälle weisen zu lassen, was wir zu meiden und was wir zu tun haben, uns durch Gottes Wort oder durch Menschen, die dazu berufen sind, unsere besonderen Sünden und unsere gefährlichsten Versuchungen zeigen zu lassen, einen guten Kampf zu kämpfen und im Herzen die Sehnsucht zu tragen: O, dass mein Leben Deine Rechte mit ganzem Ernste hielte: dann reifen wir entgegen dem Ziel, dass wir prüfen mögen, was das Beste sei; in solchem Prüfen wird unsere Liebe reich, weil wir mehr und mehr wahrnehmen, wie Gottes Willen und Gebot auch eine Offenbarung seiner Liebe ist und innerlich dessen gewiss werden: Das ist die Liebe zu Gott, dass wir seine Gebote halten, und seine Gebote sind nicht schwer.
So wachsen wir dem höchsten Ziele unseres Christenlaufes auf Erden entgegen, dass wir sind lauter und unanstößig bis auf den Tag Christi. Das ist das Höchste, was man im Wachsen des inneren Lebens auf Erden erreichen kann, dass man eine felsenfeste Zuversicht auf die Vergebung der Sünden hat; dass man sein Haus bestellt hat, innerlich gelöst ist von allem Irdischen und Vergänglichen und daher jede Stunde bereit ist heimzugehen und vor Gottes Angesicht an dem großen Tage Christi zu erscheinen. Solche Todesbereitschaft ist für die Meisten unter uns noch ein weit vor uns liegendes Ziel; aber gerade deshalb müssten wir um so ernstlicher trachten ihm näher zu kommen, lauter und unanstößig zu sein auf den Tag Christi! Der Tod kann jeden Tag an uns herantreten, aber auch wir können, wenn wir auch nicht so bereit zum Sterben sein werden, wie gereifte Simeonschristen, durch Gottes Gnade in Christo wohl befähigt sein, dem Tode ruhig ins Auge zu sehen. Suchen wir nur jenen Frieden zu empfangen, welcher das Herz ganz getrost macht, prägen wir es uns ein und gedenken täglich daran: wir haben hier keine bleibende Statt, versinken wir nicht ins Irdische, sondern lassen wir bei allem Lebensmut und aller Teilnahme für irdische Angelegenheiten doch das innerste Herz im Himmel zu Hause sein, dann kommen wir schon dahin, dass unsere Liebe reich werde auch in diesem Stücke; den Ruf zum Sterben auch im Lichte des Wortes zu betrachten: ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte, und in der durch diese Liebe geweckten Gegenliebe dem Tode gegenüber zu bekennen: ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein, das ist ein herrliches Reichsein in der Liebe, die aus Gott in unsere Herzen ausgegossen ist. Dahin können wir aber bei aller Unvollkommenheit und Schwachheit doch kommen, wenn wir nur wachsen, wenn es nur unsere Losung bleibt: nicht dass ich es schon ergriffen hätte oder schon vollkommen bin, ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo ergriffen bin.
R. K. 92. Nr. 45.