Frommel, Emil - Das Gebet des Herrn in Predigten - VIII. Führe uns nicht in Versuchung!

Frommel, Emil - Das Gebet des Herrn in Predigten - VIII. Führe uns nicht in Versuchung!

Die Gnade unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi und die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns Allen. Amen.

Text: Matth. 6, Vers 13.
Führe uns nicht in Versuchung!

In Christo geliebte Gemeinde!

Mit dem Wörtlein: „Und“ reihen wir die Bitte „Führe uns nicht in Versuchung“ an die vorhergehende: „Vergib uns unsre Schulden“ an. Wenn wir die drei ersten Bitten sprechen, da klingt das so hehr und feierlich: „Dein Name werde geheiligt, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe;“ aber wenn unsre Noth anhebt zu bitten, da quillt das so schnell und hastig, da drängt eine Bitte die andere, als könnten wir nicht schnell genug unser Elend klagen. Da heißt es: „Gib uns unser täglich Brod und vergib uns und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel!“ Kaum haben wir um das Eine gebeten und es erhalten, so müssen wir gleich um das Andere bitten, damit uns das erste nicht wieder geraubt und genommen werde. Kaum haben wir den Herrn gebeten um das heutige Brod und für die vergangene Sünde und Schuld, so müssen wir gleich bitten für die zukünftige Bewahrung. Und ach! wir brauchen's so sehr.

Uns ist so wohl bei der Vergebung unsrer Sünden, wir kommen und möchten viel lieben, weil uns viel vergeben ist, möchten des Herrn Füße netzen mit Balsam und Thränen, möchten festhalten die seligen Stunden der Vergebung, Wenn der Herr uns gesagt: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben,“ wer möchte nicht gleich sein Bette nehmen, auf die Füße stehen und wandeln und ihn mit Herz und Wandel preisen? Und dennoch ist es uns wie Einem, der aus schwerer Krankheit aufstand - die Füße sind noch so schwach, und jede Zugluft schadet; die Wunde ist geheilt, aber eine Narbe ist geblieben und manchmal zuckt noch drinnen der Schmerz, und es ist, als wolle sie wieder aufbrechen und uns ist bange darum. „Wir zittern, wie ein treuer Knecht Gottes sagt, nicht aus Feigheit, sondern aus Demuth, nicht aus Zaghaftigkeit, sondern aus Gewissenhaftigkeit - es ist ein Zittern des wachsamen Herzens, des geschärften Auges auf die Gefahr; so zittert die Liebe, ob sie wohl auch Alles für den Geliebten vollbringen werde; je mehr sie ihn liebt, desto banger ist ihr, sie möchte seine Liebe verlieren.“ - Wir kommen eben her von der Vergebung und wohin geht der Weg? Ach an dornigten Stellen, an tiefen Abgründen vorbei - wie wird's gehen? Geht‘s nach der Vergebung am Ende wieder in neue Sünde? Soll's wieder werden wie früher? Ach nein! wir fallen auf die Kniee und stehen: „Herr, führe uns nicht in Versuchung!“

So können wir denn die fünfte Bitte nicht beten, ohne die sechste dazu zu nehmen; darum hat sie der Herr mit dem „Und“ wie mit einer starken Klammer zusammengeheftet. Ja wir brauchen diese beiden Hände unseres Gottes, „die eine die uns rettet, die andere die uns schirmt, die eine die uns bettet, die andere die uns zudeckt!“ und sagen mit Luther: Mit der fünften Bitte lege ich mich schlafen, und mit der sechsten stehe ich auf. Thust du das auch, mein Christ? Oder meinst du du seiest gut gewappnet mit dem Schild und Speer deiner guten Erziehung und guten Vorsätze, daß du nicht zu beten Noth hättest: „Führe uns nicht in Versuchung?“ O Tausende und aber Tausende beten diese Bitte nicht mehr! Sie sind gefallen in der Anfechtung und liegen erschlagen, sei's in den tiefen Schluchten der Sorge, der Noth und der Lust dieser Welt, oder auf den hohen Bergen des Hochmuths und des Glücks - da liegen sie zu Hausen Alt und Jung, die Erschlagenen meines Volkes und über ihnen liegt schweigend das Gericht unseres Gottes, der sich Sein nicht spotten läßt.

Glauben wir's dem Herrn, folgen wir dem ahnenden, bangen Zug unseres Herzens und laßt uns beten: „Führe uns nicht in Versuchung.“

Schauen wir:

  1. welche Versuchung gemeint ist,
  2. und was es heiße: Führe uns nicht in Versuchung.

Herr Jesu! Du mitleidiger Hohepriester! der Du auch versuchet bist allenthalben gleich wie wir, doch ohne Sünde! Du weißt, wie schwach wir sind und wie zart unser Fleisch ist! So Du nicht für und mit uns streitest, sind wir verloren; so Du nicht für uns wachest und betest, so fallen wir in der Anfechtung. Zeige einem Jeglichen unter uns seinen bittersten Feind, der ihn zu Falle bringt! Laß die Versuchung solch ein Ende nehmen, daß wir gewinnen und den Sieg behalten! Amen.

1. Welche Versuchung ist hier gemeint?

In Christo Geliebte! Die Schrift kennt dies Wort „Versuchung und Versuchen“ in einem doppelten Sinne. In einem guten und in einem schlimmen. So heißt es von Gott selbst: „Er versuchte Abraham,“ indem er von ihm forderte, daß er seinen Sohn opfern solle; so versucht Gott das Volk Israel in der Wüste. Das thut der Herr: „Auf daß ich's versuche, ob es in meinem Gesetz wandle oder nicht.“ Er will damit das Herz prüfen, indem er es an einen Scheideweg stellt, damit wie der Herr selbst sagt: Kund würde was in deinem Herzen wäre, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht.“ 5. Mose 8,2. So führet Gott ja den Aram selbst in die Versuchung, indem er seinen Gehorsam auf die Probe stellt. So versucht Jesus den Glauben des kananäischen Weibleins, indem er erst schweigt, und darnach die harte Antwort gibt. So versucht er seine Jünger, indem er sie mit auf das Meer nimmt, ob sie auch im Sturme nicht kleingläubig würden. Und so versucht der Herr heute noch einen Jeglichen, der an Ihn glaubt. Er versucht unsere Geduld im Leiden, unser Gebet, wenn er mit der Erhörung verzieht, unsre Liebe, wenn wir geschmäht werden, beim Sterben unsre Treue, ob wir bis an's Ende beharren. Freilich der Herr der Herzen und Nieren prüft, braucht solches nicht um zu erfahren, wie es mit uns steht; aber wir brauchen es. In einer Prüfung, in einem Examen, wird der Mensch inne, was er weiß oder nicht weiß, was er hat oder nicht hat. So wird in solcher Versuchung offenbar, ob wir viel Glauben oder wenig, viel Geduld, viel Liebe, viel Trost im Leben und Sterben haben oder nicht, oder ob wir uns das Alles nur eingebildet haben. Wenn uns der Herr so in seiner Versuchungstenne fegt, da fliegt die Spreu davon, und wenn er uns in solchen Schmelztiegel der Anfechtung setzt, so müssen die Schlacken vom Golde fallen. Solche Versuchung, die von Gott kommt, die uns zum Guten versucht, die unser inneres Leben stärken will, ist eine Prüfung, eine Versuchung zum Guten. Wer die wegbeten will, der betet sich den größten Segen weg vom Herzen und vom Hause. Bete dir kein Kreuz, keine solche Versuchung weg, denn das hieße bitten: Herr stärke meinen Glauben nicht. Ein Schiffer muß auf's Meer, und ein Soldat in die Schlacht, wenn sie was Rechtes werden sollen, und ein Christ in solche Prüfung, in solche Versuchung zum Guten. „Denn selig ist der Mann, der die Anfechtung d. h. Versuchung erduldet, denn nach dem er bewähret ist, wird er die Krone des Lebens empfahen.“ Darum dürfen wir bei solcher Versuchung nicht bitten: Herr! führe uns nicht hinein! denn solche Versuchung ist nicht gemeint.

Es gibt aber eine andere Versuchung, eine Versuchung im schlimmen Sinne. Und von dieser redet hier der Herr. Diese kommt nicht von Gott, sondern sie ist da, wonach dem Katechismus: „Der Teufel, die Welt und unser eigen Fleisch uns betrügt und verführt in Unglauben, Verzweiflung und andere große Schande und Laster.“ Das ist die Versuchung, die uns nicht stärken will im Glauben, sondern uns daran irre machen, keine Versuchung, die uns zu Gott hintreibt, sondern die uns von ihm losreißen will. Sie ist ein Erbtheil, das mit unserer Sünde zusammenhängt. Weil die Sünde uns immerdar anklebt, so wird auch immer noch solch schlimme Versuchung uns treffen, und sie ist das schwerste Leiden, welches einen gläubigen Christen trifft. Denn nur Solche, die im Glauben stehen oder wenigstens einen Anfang darin gemacht haben, können von Versuchungen reden. Denn wo kein Glaube ist, da kann er ja auch nicht angefochten werden; wo Jemand schon völlig in die Sünde gefallen, da braucht er nicht mehr zu Falle gebracht werden. Darum werden auch viel Tausende nicht mehr versucht. Sie haben die Waffen gestreckt, und die Fahne übergeben. Darum beten sie auch nicht mehr „Führe uns nicht in Versuchung;“ denn sie merken sie nicht und fürchten sich nicht mehr vor ihr.

Es ist ein Zeichen, daß die Festung noch nicht erobert ist, wenn man unter Zittern sieht, wie der Feind die glühenden Kugeln hineinwirft. Es ist ein Zeichen, daß der Herr noch etwas an uns zu verlieren hat, wenn wir merken, daß die Versuchung naht. Wohl dem, der noch versucht wird und es schmerzlich empfindet! Es ist ein Zeugniß, daß der Herr in ihm noch nicht gestorben, daß noch etwas in ihm ist, das wider die Sünde streitet! Vergesset diesen tröstlichen Gedanken nicht, meine Theuern - vergesset es nicht, über dem schaurigen Bilde der Versuchung, das ich euch entrollen, will - vergesset es nicht, daß alle heiligen Männer Gottes solche schlimme Versuchung erfahren haben. So stehet Abraham in Versuchung, als er in Egypten zu seiner Rettung zur Lüge greift; so stehet Hiob, der im Uebermaß der Leiden den Tag seiner Geburt verflucht, so stehet David, der im dunkeln Augenblicke der Lust zum Mörder und Ehebrecher wird, so Petrus, der in des Hohepriesters Pallaste den Herrn verläugnet; so muß Paulus kämpfen mit dem Pfahl im Fleische. Ja noch mehr: willst du Einen zum Troste haben, der versucht wurde um deinetwillen gleich wie du allenthalben - Einen der gestanden ist als Sieger, während Alle fielen: Siehe den Herrn Jesum in der Wüste vom Teufel versucht!

Und wir allein sollten nicht versucht werden? Hat der Fürst der Welt, der Teufel, etwa noch keinen seiner Anläufe gemacht? Wohl weiß ich es, daß Viele von solcher Versuchung nichts hören wollen, daß ihnen das bloße Wort und der Name des Versuchers schon etwas Unerträgliches ist. Es zeugt davon, daß man wenig die Schrift, und wenig sein Herz kennen muß, wenn man solche Versuchungen läugnet. Hier stehet Jesus, der Mund der Wahrheit, der von dem Versucher spricht: „Er ist ein Lügner und Mörder von Anfang, und ein Vater der Lügen, und nach eures Vaters Willen wollet ihr thun.“ Die heiligen Apostel rufen im Chore: „Der Teufel gehet umher wie ein brüllender Löwe und suchet wen er verschlinge, dem widerstehet fest im Glauben,“ und abermal: „Wir haben nicht mit Fleisch oder Blut zu kämpfen, sondern mit den Geistern, die in der Luft herrschen,“ Je mehr ein Christ Acht auf sich selbst hat, und die Tiefen seines Herzens kennt, um so mehr wird er erkennen, daß von einer geheimen, verborgenen Macht aus sicherem Verstecke die Pfeile gegen ihn abgeschossen werden. Oder sagt, hattet ihr nie es im Gebet gefühlt, wie da die Gedanken zu Hauf gezogen kommen und die Seele abziehen, ja wie Gedanken und Bilder aufsteigen, die man im Innersten verwirft und denen man entfliehen möchte? Dr. Luther sagt einmal: „Der Teufel ließe ihn kein Vaterunser ausbeten, schon bei der zweiten Bitte, wo es sich um's Reich Gottes handelt, fange er an ihn zu stören.“ Welches von deinen Gebeten kannst du ausbeten? Seine alte Fechtkunst braucht der Feind der Seele allenthalben. Er kommt als ein Engel des Lichtes. Mit dem alten Worte: „Sollte Gott wohl gesagt haben“ rückt er vor. Gottes heiligen Ernst verdächtigt er dir, Gottes Wort macht er dir zweifelhaft, Stellen der Schrift aus ihrem Zusammenhange gerissen, stellt er dir vor die Seele, die dir Das und Jenes zu erlauben scheinen; das erste Mal scheuchst du ihn von dannen, das zweite Mal wird dir die Sache etwas plausibel, und das dritte Mal hat er dich gefangen. Oder er stellt dir den und jenen Christen vor Augen und spricht: „Siehe doch wie der's treibt und der ist doch auch ein Christ, das ist dir auch erlaubt!“ Oder er hält dir etwa Davids Ehebruch und anderer Leute Sünden vor, die ja doch sonst Männer Gottes genannt werden, und lockt dich es darauf hin auch zu wagen. „Denn wenn der Teufel einen Heiligen fangen will, so hängt er einen Heiligen an die Angel,“ sagt unser Volk. Kurz, er macht dir die Sünde klein, und Gottes Ernst gering, lobt dich über deinen bisherigen Wandel, macht dich sicher, und die Sünde süß und verlockend. Aber nach der Sünde ändert er die Sprache, er gibt dir die Schaam wieder, die er dir genommen hatte. Die Sünde, die er als ein Sandkorn hingestellt, schildert er dir als einen hohen Berg und wälzt ihn dir langsam auf's Gewissen. Und dann spricht er mit Kains Wort: „Deine Sünde ist größer denn daß sie dir vergeben werden könne.“ Er weiß, wo er Jeden zu fassen hat, ob von vornen an der Noth, oder im Rücken am Hochmuth, sei er nun geistlich oder weltlich. Ein treuer Zeuge sagt: „Wie ein kluger Fischer für jede Art von Fischen seinen besondern Köder hat, so angelt auch der Teufel jede Seele mit ihrer liebsten Speise. Dazu hat er die Uhr in der Hand, um die Stunde zu wissen, wann er am besten beikommen kann.“ Dem Einen hält er vor seine Gerechtigkeit um ihn sicher, und dem Andern seine Sünde, um ihn verzagt zu machen, und zuletzt reicht er dem Menschen im Hohn und Spott den Becher der Verzweiflung und den Strick des Selbstmordes. Da hüte sich Jeder. Je reicher ein Christ ausgestattet ist mit Gütern der himmlischen Welt, desto näher steht ihm der Feind. Ein Seeräuber jagt nicht den leeren, sondern den beladenen Schiffen nach. O Seele, von alledem solltest du noch nichts, noch gar nichts erfahren haben? Siehe hier ist Noth zu beten: Führe uns nicht in Versuchung!

Seine Verbündete ist die Welt. Wen die Schrift damit meint, ist euch Allen klar. Es ist die Welt insofern sie Gottes Feindin ist, von Gott los und entfremdet ist. Ihr ist alles, was nach Gott und Gottesfurcht, nach Buße und Glaube schmeckt, widerlich. Darum mag sie's auch an Andern nicht leiden. Sie will's herausreißen. Entweder kommt sie da spielend und mit freundlichen Worten an die Pflanze des innern Lebens, bricht erst ein Blättlein und dann eine Blüthe ab, lockert unten die Erde sachte auf und trennt die feinen Wurzelfasern und verwundet sie, bis die Pflanze verdorrt - oder wenn sie's so nicht vermag, so sucht sie mit rauher Hand die Pflanze mit einem Ruck herauszureißen. Sie erweist uns Gutes und will uns zum Danke verpflichten, mit ihren Wohlthaten uns den Mund stopfen, der gegen sie zeugen will. Sie redet davon, daß auch sie fromm sei, aber die Frömmigkeit habe ihr Maaß und Ziel. Sie kommt mit ihrem gottlosen Sprüchwort und ihrer Lebensweisheit, „daß Einmal Keinmal sei und man die Welt doch nicht anders mache. Man müsse mit dem Strome schwimmen und mit den Wölfen heulen, und den Mantel nach dem Winde hängen.“ So geht Lot hinab zu den Leuten von Sodom; er ist seiner Stärke und seines Glaubens gewiß und meint wohl gar die Leute dort bessern zu können - und siehe sein Ende! So hat Demas die Welt wieder lieb gewonnen, auf die er vielleicht hat einwirken wollen.

Ist's der Welt aber damit nicht gelungen, so kommt sie mit Hohn und Spott und Verfolgung, und hier erreicht sie viel. „In der Anfechtung aber fallen sie ab“ sagt der Herr von denen, die dem steinigten Acker gleichen. Ein leiser Windzug des Spottes - ein Wort davon daß man etwa Amt oder Kundschaft verlieren werde - und Viele sind zu Falle gebracht. Ja wir sind in der Welt, und so lange wir in ihr sind, versucht sie uns. Nicht aus der Welt uns zu nehmen, aber vor der Welt und dem Uebel uns zu bewahren, bittet der Herr den Vater. Und wir sollten nicht wo die Welt sich ringsher lagert und uns reizt und lockt, einstimmen in seine Bitte: „Herr führe uns nicht in Versuchung?!“

Und das um so mehr, weil in uns selbst der bitterste Feind sitzt, der es im Geheimen mit der Welt und ihrem Fürsten selber hält. Hüte dich vor Dem, der mit dir aufsteht, aus einer Schüssel mit dir ißt, aus einem Glase mit dir trinkt, ein Kleid mit dir trägt, in einem Bette mit dir schläft - das heißt vor dir selbst. Unser eigen Fleisch ist unser bitterster Feind. Es ist der geheime Verbündete der Feinde draußen. Wo kein Funke ist, mag der Wind lange blasen, es geht kein Feuer an. Die Asche würde dem Feind in's Angesicht fliegen, wenn kein Funke gottfeindlichen Wesens in uns wäre. So aber ruhen der glühenden Kohlen viele, sei's offenbar, sei's verdeckt in uns. Im tiefen Herzensgrunde, oft überdeckt mit schönen Sprüchen und Gebeten, sitzt etwas, was an der Sünde ein geheimes Wohlgefallen hat. Augustinus, ein Bischof der alten Kirche, sagt in seinen Bekenntnissen von sich: „Ich habe oft gebetet wider die Sünde, daß mich Gottes Hand herausnehme; aber daneben her ging der geheime Wunsch meiner Seele: „Noch nicht.“ O wer hätte das nicht mit erfahren? Sagt's der Herr nicht, daß unser Fleisch schwach ist? Wer hätte nicht tagtäglich einen Riesenkampf mit dem alten Menschen zu kämpfen, der in Hoffart und Eitelkeit, in Lust und Liebe zur Welt den Herrn und den inwendigen Menschen mit Ihm um ein Paar elende Silberlinge verräth und verkauft? Gerade dann aber, wenn wir meinen mit dem Fleische fertig zu sein, wenn wir es gekreuzigt und todt glauben, wenn wir in manchem Kampfe bestanden sind, dann ist die Versuchung nahe. „Denn wer da steht, sehe wohl zu, daß er nicht falle.“ Ach Geliebte, allenthalben über uns, um uns und in uns nichts denn Versuchung! wer will nicht zittern um sein Heil, und nicht mitbeten: Führe uns nicht in Versuchung?!

Wem aber daran noch nicht genug, wer bis hie noch keine Versuchung erblickt, der schaue nur in die verschiedenen Lagen seines Lebens, von denen jede ihm besonders zur Versuchung werden kann. Luther unterscheidet einmal die Versuchungen in solche, bei denen uns wehe, und in solche, bei denen uns wohl ist. Das ist gut und trefflich gesagt. „Ja, wenn wir mit dem täglichen Brod zu kämpfen haben, wenn die Frage nach dem: „Was werden wir essen, was werden wir trinken“ hundertmal verscheucht, hundertmal mit uns aufsteht und schlafen geht; wenn Krankheit im Hause nicht nachläßt, wenn wir die Liebsten dahinwelken sehen, und die Gottlosen sehen, wie es ihnen gut geht, wie sie nicht sind im Unglück wie andere Leute, wenn sie fest stehen wie ein Pallast; wenn die Menschen sich von uns zurückziehen, wenn liebe Freunde uns meiden, ja wenn bittre Kränkung unser Gemüth mit Bitterkeit, mit Zorn und Haß erfüllen will, wenn wir zu Standen vor der Welt, wenn wir vom besten Willen und Thun nichts ernten als Mißtrauen und Verdacht; wenn unser Rath, der vorher gegolten, nichts mehr gilt, wenn, wie ein Zeuge sagt, wir alt und grau werden, matt an Geist und Leib, und übermüthig die Jugend auf unsre wunden Schultern steigt, wenn uns am Ende des Lebens niemand bleibt, der uns tröstet, und keine treue Brust, an der wir ausathmen, keine liebevolle Hand da ist, den kalten Schweiß von unserer Stirne zu trocknen und unser müdes Auge zu schließen - Geliebte, wer das erfährt, denke daran, das ist Versuchung, darunter unsrer Seele wehe wird!“ Da lasset uns die Hände aufheben und rufen: Herr führe uns nicht in Versuchung!

Schwerer aber und gefahrvoller sind die Versuchungen, dabei uns wohl ist. „Wenn der Herr Haus und Scheune füllt mit Vorrath auf viele Jahre, wenn keine Plage sich unsrer Hütte naht, die Kinder alle blühen und sind wie Oelzweige um die Tische her, wenn man uns preist um unser Glück, wenn Hoch und Nieder uns liebt, unsre Freundschaft begehrt, wenn man unsern Rath gerne hört, unsre liebsten und kleinsten Wünsche erfüllt, und unser Leben dahinfließt, so still und unangefochten, als könnte es im Himmel nicht besser sein - auch hier ist Versuchung.“ Auch aus dem heitern Himmel kommt der zündende Strahl, und unter der prächtigsten Blume kann die giftigste Schlange lauern. Aber wer denket daran! Da wiegen die süßen Lieder des Glückes die Seele in sorgenlosen Schlaf. Als David auf der Flucht war vor Saul in tiefer Angst und Noth, da sang er seine herrlichsten Psalmen, da war der Herr seine Burg und sein Hort - als er aber im Glücke war und auf seinem Dache gieng sich zu sonnen, da ward aus dem Freunde Gottes ein Ehebrecher und Mörder. Salomo, der als junger Knabe um Weisheit bat, endigt als Mann im Glücke mit der Thorheit und der Abgötterei. Ja es ist wahr, was ein Zeuge sagt: „Das Glück ist ein schmaler Steg zur Ewigkeit, von Fels zu Fels gelegt, und unten brauset das Unglück. Das Glück ist Ehre bei den Menschen aber Kreuz vom Herrn. Darum freuet euch mit Zittern!“

Auch jede Zeit hat ihre Versuchung. Zeitmeinungen, Zeitvorurtheile ziehen wie ansteckende Seuchen landauf und landab, und stecken auch besonnene Männer an. Jedes Alter hat seine besondere Versuchung. Am Kinde beginnt sie mit dem Ungehorsam und der Lüge, am Jüngling mit dem mächtigen Fleisch und, Blut, mit den Träumen der falschen Freiheit und trügerischem selbstgemachtem Glück; an den Mann kommt sie mit dem Hochmuth und stolzen Vertrauen auf die eigene Kraft; und an den Greis mit Murren und Unzufriedenheit; mit Geiz und Eitelkeit und Eigensinn, mit der Lust zum Leben, die sich nicht alt vorkommt und sich nicht zur Heimreise fertig machen will. Jeder Beruf hat seine besondere Versuchung - ist er hoch so macht er dich leicht vermessen und bringt dich zur Untreue, zur Herrschsucht; ist er nieder erstickt der Herrendienst den Gottesdienst in dir. Jede Gesellschaft kann dir zur Versuchung werden; wie manches pfeilschnell entflogene Wort möchtest du wiederhaben, wie manches unwahre Wort nicht ungeredet wissen! Und flöhst du auch in die tiefste Einsamkeit - auch in der dürren Wüste ist der Feind, der deine Seele stört und verfolgt und du hast dann Niemanden, der mit dir ringt und betet. Ist Jesus nicht in der Wüste versucht worden? Ich schaue Euch meine Theuern und mich an, hat nicht Jedes seinen besondern, eigentümlichen Feind? Die Hand auf's Herz gelegt - ist jedes Herz so verwahrt, daß auch nicht die kleinste Hinterpforte offen stünde, durch welche der Feind aus- und einzieht?

Es rückt der letzte Feind heran: Der Tod, dieser gewappnete Mann, dieser König der Schrecken mit seinem Gefolge und Keiner halte gering von ihm. In den letzten, bangen Stunden haben sich bei vielen treuen Zeugen, die viel überwunden hatten, die Versuchungen wie Fluth auf Fluth, wie Pfeil auf Pfeil gedrängt. Noch einmal gabs einen Kampf auf Leben und Tod mit dem alten Menschen, ein Jakobskampf, bei dem die Hüften brachen, ein Gethsemaneringen bis auf's Blut - ein Angstschrei am Kreuze vom Verlassensein von Gott, bis endlich das Haupt im Frieden sich geneigt hat und verschied. Ja bis dorthinein dringt die Versuchung, wie sie den Herrn bis an's Kreuz verfolgt hat.

Wozu habe ich aber all diese Versuchungen in langer Reihe an eurer Seele vorübergeführt? Euch zu schrecken? O ja, auch das! O solch heilig Zittern und Zagen, solch Betrübtsein bis in den Tod, daß ich's mit euch gelernt hätte! Aber nicht dazu allein habe ich Euch die Versuchungen vorgeführt. Nein, um auch Euch und mir die Lippen zu öffnen, um aus den mächtigen Versuchungen zum allmächtigen HErrn, um aus den tiefen Leiden der Anfechtung zum mitleidigen Hohenpriester rufen zu lernen:

2. Führe uns nicht in Versuchung!

Aber wenn so ringsum Versuchung ist, meine Freunde, was soll denn die Bitte: „Führe uns nicht in Versuchung?“ Wenn die Versuchung also nicht von Gott kommt, sondern von unten her, warum bitten wir denn Gott: „Führe uns nicht in Versuchung?“ Also führt uns doch Gott in die schlimme Versuchung? Laßt mich antworten. Es fehlt leider nicht an Solchen, die am liebsten von sich weg auf den heiligen Gott die Schuld der Sünde und des Falles wälzen möchten. So sucht Adam den Herrn anzuklagen, wenn er spricht: „Das Weib, das Du mir zugesellet hast, gab mir von dem Baum“ - und das ist die Entschuldigung noch heute. Da spricht der Eine: „Was kann ich dafür, daß ich so arm geboren bin, oder im Reichthum geboren, und daß mich das in gefährliche Versuchung verlockt hat? Was kann ich dafür, daß ich ein schlechtes Beispiel gehabt habe an meinen Eltern, oder daß ich eben ein heftiges Temperament habe und mit meiner Natur so viel zu kämpfen habe?“ Was heißt das anders, als den HErrn selbst anklagen und ihn zum Versucher zum Bösen machen?

Die Schrift spricht aber entschieden: „Niemand sage, daß er von Gott versucht werde, sondern ein Jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelocket wird.“ Und dabei bleibt es auch. Denn was Gott nicht hat, kann er auch nicht geben. Er hat kein Böses, keine Finsterniß, er kann sie darum auch dem Menschen nicht geben, und ihn auch nicht hineinbringen. Aber dennoch bitten wir den Herrn: „Führe du uns nicht hinein.“ Und das mit vollem Recht. Denn wiewohl allenthalben Versuchung ist, so ist Gott auch allenthalben; und wiewohl sie nicht von Gott kommt, so steht sie dennoch in seiner Hand, Er beherrscht und leitet sie. Der Teufel, die Welt und unser eigen Fleisch stehet nicht neben oder gar über Gott, sondern unter Ihm. Und darum, weil der Herr auch diese Versuchungen in seiner Hand hält, weil auch Sein lichtes Auge über dieser Finsterniß wacht, weil alle Versuchung unter seiner göttlichen Zulassung steht, darum wendet sich ein Kind Gottes an seinen himmlischen Vater, fleht und bittet nicht um Abwendung, sondern um Bewahrung, um Hülfe in der Versuchung. Siehe in die Schrift hinein, wie es steht mit solcher Zulassung Gottes in der Versuchung. Vom heiligen Geiste wird der Herr wohl in die Wüste geführt, aber nicht der Vater, sondern der Teufel versucht ihn dort. Gott läßt es also zu, daß wir versucht werden, und da wir von ihm uns freiwillig getrennt haben, so verdienten wir es reichlich, daß Er uns dahingäbe und dem Feinde überließe, und wir müßten dann von Stufe zu Stufe fallen. Gerade aber darum bitten wir in diesem Gebet, wie der Katechismus sagt: „Daß uns Gott wolle behüten und bewahren, daß uns nicht der Teufel, die Welt und unser eigen Fleisch betrüge und verführe in Mißglauben, Verzweiflung und andere große Schande und Laster, und ob wir damit angefochten würden, daß wir doch endlich gewinnen und den Sieg behalten,“ Wir bitten also: „Herr, wenn Versuchung kommt, laß uns nicht hineingerathen; wenn Anfechtung kommt, laß uns, barmherziger Gott, nicht darinnen fallen und untergehn; laß Du es nicht zu, daß uns die Versuchung die uns von dir trennen will, uns von dir losreiße, sondern hilf, daß wir fest bleiben, und in aller Anfechtung sprechen: „Dennoch bleibe ich stets an Dir, denn Du hältst mich bei meiner rechten Hand!“

Denn aus heiliger Absicht läßt Gott Versuchung wie Prüfung zu. Es ist einmal eine gerechte Strafe und Zucht Gottes, und dann gibt es auch keinen Sieg und keine Krone ohne Kampf. Auch diese Versuchungen müssen, wie die Prüfungen dazu dienen, uns fest zu gründen, uns immer mehr und inniger anzuklammern an den Herrn und sein Wort, je mehr uns die Anfechtung losreißen will. Wenn die Wetterwolken und der Sturm kommen, drängen sich die Schaafe enger an den Hirten her. Gewitter müssen kommen die Luft zu reinigen, sonst entstehen Krankheiten und Seuchen, und wer wollte die Gewitter wegbeten? Aber um das Eine bitten wir wohl beim Gewitter: Herr laß nicht einschlagen bei uns! So steht es auch mit der Anfechtung. Sie ist ein Gewitter in Gottes Hand, das die Luft des innern Menschen reinigen soll. Gott mag uns in die Grube führen lassen und die Löwen um uns herumsetzen, wir bitten nur: Halte ihnen den Rachen zu, daß sie uns nicht schaden. Ja im Hinblick auf die treue Hilfe des Herrn, wodurch uns alle Versuchung zum Segen wird, sagt Jakobus: „Achtet es für eitel Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtung (Versuchung) fallet. Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet, denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen.“ Darum bitten wir sie nicht weg. Denn der Herr lehret uns nicht bitten: Wachet und betet, daß ihr nicht in Versuchung kommet - sondern daß ihr nicht in der Versuchung fallet! Als wollten wir also sagen: Laß den Feind, wenn er kommen muß, kommen und vor die Herzensfestung rücken, aber Herr behüte mich, daß ich ihm nicht die Thore öffne, und er sie am Ende erstürme! So betet ein demüthig Herz, das sich selbst und seine Schwachheit wohl erkennt und darum singt:

Mit unsrer Macht ist nichts gethan,
Wir sind gar bald verloren!

und sich nach dem rechten Manne umsieht, den Gott hat selbst erkoren. So wappnet sich ein rechter David, der Sauls schweren Panzer und Helm auszieht, das heißt: alle Waffen der eigenen, guten Vorsätze streckt und alle eigene Sicherheit ablegt, aber dafür des HErrn Namen und die Schleuder göttlicher Kraft und göttlichen Wortes nimmt und das Wort des Apostels zu dem seinigen macht: „Wenn ich schwach bin, so bin ich stark,“ Ja darum rufen wir aus der Tiefe: „Herr führe uns nicht in Versuchung.“

Denn ach, es könnten ja Versuchungen kommen, die über unser Vermögen gingen, darin der Glaube uns ausginge. „Es ist wahr, du hast bisher deinem Gott vertraut in vielem Kreuz und Unglück, wie aber, wenn es sich noch mehr häufte? Wenn du Alles verlörst, was dir lieb ist, wenn du arm würdest wie Lazarus, voller Krankheit und keine Hand, die dich tröstete; wenn alle Lieben in's Grab sänken und Keiner dir bliebe, wenn deine Freunde deine Feinde würden, könntest du auch sprechen: „Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gelobt?“ Ach gedenke des Hiob, der im dritten Kapitel seines Leidens also sprach, verflucht im siebenten Kapitel den Tag seiner Geburt! Wie, wenn auch bei dir das siebente Kapitel der Leiden anfinge? Bisher bist du im Glücke zu deinem Gott gestanden, hast nicht den Goldklumpen deinen Trost genannt, hast dich mit Zittern im Glücke gefreut; - wie, wenn noch größeres Glück käme, würdest du bleiben und bestehn? Bis jetzt hast du keinen falschen Eid geschworen; aber wie, wenn auf der einen Seite dir großer Vortheil und höchste Menschengunst dadurch zu Theil würde und du auf der andern nur Schande und Strafe sähest, würdest du bei der Wahrheit bestehn? Du hast bis setzt vergeben, deinen Zorn überwunden - wie aber, wenn du auf's Aeußerste gereizt und erbittert würdest, könntest du auch da die Sonne nicht über deinem Zorne untergehn lassen, oder könnte nicht eine dunkle Stunde kommen, wo du im Zorn thust, was nicht vor Gott recht ist? Du hast bisher die Ehe gehalten heilig und unbefleckt - wie aber, wenn du deinen Gatten hingehen sähest, sein Herz entfremdet von dir, ach vielleicht in völligem Bruch - hieltest du dich dennoch gebunden, würdest du wie Monica 19 Jahre lang um die Seele deines Mannes beten? Würdest du das? Ihr seid fest gestanden bis hieher, liebe Jünglinge und Jungfrauen! Wie aber, wenn die Versuchung stärker, wenn die Schande zugedeckt, wenn lockender die Aussicht auf Reichthum und Wohlleben wäre, würdet ihr auch da mit Joseph sprechen: „Wie sollt ich ein so groß Uebel thun und wider Gott sündigen?“ - Ich schweige von weiterer größerer Versuchung. Es könnte die schwerste und dunkelste kommen, von der der heilige Apostel spricht: „Auf daß ich mich nicht der hohen Offenbarung überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl in's Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlägt; dafür habe ich dreimal den Herrn gesteht, daß er von mir weiche, und Er hat zu mir gesagt: Laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Das ist die furchtbare Anfechtung, da der Boden unter den Füßen uns entweichen will, wo das Herz Gott lästert, während die Lippen beten wollen, wo unser Inneres in Nacht und Dunkel ist, als gäbe es keinen Gott und keine Gnade mehr für uns! Ach siehe darum bitten wir: Führe uns nicht in Versuchung! Herr, laß uns nicht darin umkommen!

Und siehe, dein Gott ist getreu, Er läßt nicht versucht werden über Vermögen, und spricht: „Es hat euch noch keine andere denn menschliche Versuchung betreten.“ Seine Hand hat uns ergriffen und heilige Wacht um uns hergestellt, sie hat Fallstricke zerrissen noch ehe wir es ahnten. Tausendmal würden wir erlegen sein, wenn nicht vorher schon der Herr geholfen. Treue Mahnung, anhaltend Gebet von Eltern, warnende, herz- und markdurchdringende Stimmen im Gewissen, Donnerstimmen aus seinem Worte, hat er zur rechten Zeit gerufen. Ist's nicht Gnade, wenn Er, der dein Herz verstocken und dein inneres Auge blind machen könnte - dein Herz dennoch weich und deine Augen wach erhält, die Versuchung zu merken? Hat Er dir nicht in seinem Worte, im heiligen Abendmahl eine heilige Rüstkammer zur Verfügung gestellt? Haben wir nicht einen treuen Hohepriester, der Mitleid hat mit unserer Schwachheit und versuchet ist allenthalben gleich wie wir? Darum getrost, nur fortgebetet und fortgerungen: „Beten und Schreien sind die besten Arzneien,“ sagt ein altes Wort. Der Herr aber hat solchem Rufen zugesagt: Sollte Gott nicht erretten seine Auserwählten, die zu Ihm rufen Tag und Nacht, und sollte Geduld darüber haben? Ich sage euch, Er wird sie erretten in Kürze. Ja in Kürze! Kurz ist der Kampf und lange die Seligkeit darnach, kurz das tobende Meer und unendlich die Ufer und Gefilde der ewigen Ruhe! Auf daß wir dort landen und nicht noch am Ufer scheitern, rufen wir aus der Tiefe: Herr, führe uns nicht in Versuchung!

Mit diesem seligen Blick in die Ruhe nach dem Streit, konnte ich, Geliebte, diese Bitte und ihre Auslegung schließen, wenn nicht diese Bitte auch eine herzliche Bitte an Euch hätte! Wie die fünfte Bitte eine Mahnung und Bedingung enthält, so liegt auch eine solche still und doch sehr laut in dieser sechsten. Neben dem Beten stehet „Das Wachen.“ „Wachet und betet!“ ruft der Herr. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Wer auf diese Bitte hin sich in die Versuchung selbst begibt, wer da vermeint, er stehe, wird darinnen fallen. Meinest du, du könntest in die Versuchung gehn und etwa dann, wenn es dir beliebt, wieder heraus? Nimmermehr. Der Schmetterling, der des Abends um das Licht kreist, möchte nicht verderben in der Flamme - aber hat er sich einmal zur Flamme gemacht, so zieht ihn eine unheimliche Gewalt hinein. Wenn Lot im Vertrauen auf seine Gottesfurcht zu den Leuten zu Sodom geht; wenn Petrus im Vertrauen auf seine Liebe zum HErrn an's Kohlenfeuer sitzt, wenn Judas sich gedeckt glaubt durch seinen Umgang mit dem HErrn und sich nebenher an's Geld hängt - so ist's um sie geschehen, und beim Einen der Fall schwerer als beim andern. Wer nicht flieht, wo die Versuchung ist die er vermeiden kann, wer an die Orte geht, wo man zu Falle kommt, und meint, ihm schade das nicht, wen sein eigener Geist aus Vermessenheit, in die Versuchung treibt - der wird keinen Halt haben, wenn die unvermeidliche Versuchung kommt. „Als der Herr von dem Versucher aufgefordert ward, im kühnen Wagniß auf die Wundermacht Gottes, sich von der Tempelzinne zu stürzen, da spricht er: „Es stehet geschrieben, du sollst Gott deinen HErrn nicht versuchen.“ Aber derselbe Herr, der vor diesem Sturze entfloh, und dieser Versuchung auswich, der stieg festen Schrittes hinab in die Tiefe der Anfechtung, die er nach des Vaters Willen zu leiden hat. - Es gibt einen geistlichen Schwindel, der uns schon ergreift, wenn wir nur an den Rand des Abgrundes treten, und mit unheimlicher Zaubermacht uns hinabzieht. Wer mit der Sünde spielt, muß immer verspielen. Darum fliehe mit Joseph aus Potiphars Hause, fliehe mit Mose aus Pharaos Pallast, fliehe, so lange zu fliehen ist, verdirbs mit der Welt, damit sie dich nicht verderbe!“ Das ist meine erste Bitte an dich: Führe dich nicht selbst in Versuchung! und die zweite ist: Führe auch die Andern nicht hinein! O theure Eltern! das gehet vornehmlich euch an mit euern Kindern! Ach führet sie nicht in Versuchung! Den Himmel könnt ihr Euch nicht an ihnen verdienen, denn den verdient man sich überhaupt nicht, wohl aber die Hölle. Eure Kinder können eure Edelsteine und euer Schmuck werden, aber eben so gut auch die Mühl^ steine an euren Hals, wenn ihr ihnen Aergerniß gebet und sie in Versuchung führet. Hütet vor ihnen euer Wort, hütet euern Wandel! Hütet euch indem, was ihr ihnen erlaubt, stellet sie an keinen Ort, wo sie gleiten können, wo sie irre werden, sondern stellt um sie die Schaaren eures Gebets wie heilige Mauern! Ihr Väter! lehrt an eurer Seite, mit eurer Erfahrung eure Söhne streiten gegen ihren Seelenfeind, wie einst unsre Vorfahren es thaten im Kampf gegen den Feind des Vaterlandes!

Und eine Bitte noch, die letzte! Freut euch nicht über den Fall eurer Brüder und lernet Milde im Urtheil aus dieser Bitte, aus der Erfahrung der eigenen Ohnmacht. Wie oft, wenn gleiche Versuchung uns getroffen, wie oft wären wir gefallen! Daß uns etwa geringere Anfechtung geworden, daß wir nicht gefallen, ist's nicht Gnade von Gott? Gott urtheilet anders denn wir. Er schauet das Herz, er schauet die Größe der Versuchung an, die wir nicht kennen! Fällt darum Einer zur Rechten und Linken, so laßt uns an unser Herz demüthig schlagen, die Gefallenen einschließen in unser Gebet und sprechen: Herr, sei uns Sündern gnädig und führe uns nicht in Versuchung!

Wir sind am Schlusse. Noch wartet unser die Zeit der großen Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen wird, in der auch der Gerechte kaum erhalten wird. Sturmzeichen, Gewitterschwüle, Blitze und ferner Donner ziehen schon herauf. Zum HErrn darum hin, wer Sein ist, betet um scharfe Augen, um festgewordene Herzen. Kräftige Irrthümer, deren Kraft das Stück Wahrheit ist das darinnen sitzt, Verheißungen von Freiheit und Menschenrechten, von Glück und Wohlfahrt, Propheten des Abfalls in Schaafskleidern, - sie ziehen schon Welt auf und ab. Wohl dem, der den Gott Israels kennt! Der letzte Feind rückt an Jeden heran, das ist der Tor und mit ihm die letzte Anfechtung. Wer aber in vielen Schlachten gewesen, kennt seinen Feldherrn, und fürchtet sich darum nicht. Mit Ihm wird auch der letzte Feind überwunden, und hinein in die Lieder des Todes klingt das Triumphlied des Lebens: „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben durch unsern HErrn Jesum Christum.“

Einst wird diese Bitte völlig erfüllt. Wenn am Ende der Tage der Fürst dieser Welt vernichtet, und der Ankläger unsrer Brüder verworfen sein wird, wenn die Welt sammt ihm ihren Lohn empfangen, und unser sündlich Fleisch verwest ist, dann werden die treuen Kämpfer kommen vor Gottes Thron die Palmen der Ueberwinder in der Hand, manchen Tropfen Schweißes auf der Stirne und manche Thräne im Auge, und manches Wundenmaal sichtbar am Leibe. Aber der HErr wird dann abwischen alle Thränen von ihren Augen, kein Leid noch Geschrei, noch Schmerz, noch Tod wird mehr sein, denn das Alte ist vergangen. Ihnen, die widerstanden haben bis auf's Blut, die sich herausgebetet aus den Versuchungen und hineingebetet in den HErrn, tönt das selige Wort der Offenbarung:

„Wer da überwindet, der soll mit weißen Kleidern angelegt werden, und ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buche des Lebens, ich will seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln, ich will ihm geben, mit mir auf dem Stuhle zu sitzen, wie ich überwunden habe und bin gesessen mit meinem Vater auf seinem Stuhl! Wer aber Ohren hat zu hören, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!“ Amen.

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