Claudius, Matthias - Vom Gewissen - Fünfter Brief

Claudius, Matthias - Vom Gewissen - Fünfter Brief

„Die Speise fördert uns freilich nicht vor Gott. Essen wir, so werden wir darum nicht besser sein; essen wir nicht, so werden wir darum nicht geringer sein.“ Aber Gott gebraucht oft äußere Umstände, auf bessern Weg zu bringen, und begünstigt durch Fügung solcher Umstände einen Menschen vor dem andern. Wenn nun einer, der gerne hergestellt wäre, das siehet und hört, ihm aber in dem gewöhnlichen Leben ein Tag nach dem andern hingeht, ohne daß er dem Ziel näher käme; wenn er in der heiligen Schrift liest, daß die „Christo angehören, ihr Fleisch kreuzigen, sammt den Lüsten und Begierden“; daß „wer am Leibe leidet, aufhöre von Sünden“; daß „Kreuz zu Gott führe“ u.s.w., ihm aber kein Kreuz kommen will; so war es ihm doch zu vergeben, wenn er, anstatt die Fügungen Gottes abzuwarten, selbst fügen und Strenge gegen sich versuchen und fasten und beten wollte.

Viele Leute, Andres, verwerfen alles Fasten; aber darum ist es noch nicht verworfen. Man verwirft gar leicht, was man nicht mag, und Mißbrauch hängt sich allenthalben an. Immer mäßig sein, sagen sie, ist besser als bisweilen fasten. Das mag wohl wahr sein. Da aber die meisten Menschen immer nicht mäßig sind, so ist es doch nicht übel, bisweilen sehen zu lassen, wer Herr im Hause ist, und zu erfahren, was sich etwa, während einer solchen Interimsregierung, Neues darin ereignet. Auch ist der Mensch oft in Gefahr und auf dem Wege, übermüthig und muthwillig zu werden. einem solchen nun ist es nöthig und nützlich, irgend einen Stein auf dem Herzen zu haben. Und, wenn der liebe Gott das Schiff nicht befrachtet, so muß man Ballast einnehmen. Es segelt sich besser und sicherer. Wie oft enthält sich ein Grübler, wie Newton, um seinen Betrachtungen besser nachhängen zu können und darin weniger gestört zu werden. Warum sollte denn ein anderer sich nicht enthalten, um seiner Betrachtungen willen, die doch auch vielleicht nicht zu verachten sind?

Im Essen oder Nicht-essen kann freilich nichts liegen, das begreift sich ohne sonderlichen aufwand von Tief- und Scharfsinn, und ein vorgeschriebener Fasttag, der halb und mit Unlust und Widerwillen gehalten wird, kann freilich keine Wunderdinge wirken. Aber die Priester und Regierungen aller Zeiten und Länder verordnen doch solche Fasttage. Und gewöhnlich, welches sonderbar genug ist, gehen strenge Fasten und Klage vor einem fröhlichen Feste vorher, wie bei den Juden die lange Nacht vor der Laubrüst, bei den Türken der Ramadan vor dem Bairam, bei den alten Syrern die Planctus und Ejulatus vor den Tripudiis am Adonisfest u. s. w.

Die Stifter müssen doch dazu ihre Ursachen gehabt haben, auch etwa dergleichen Tage, nach Vorschrift gehalten, nöthig und nützlich gefunden und gute Folgen davon erwartet haben. Die heilige Schrift führt auch mehrere Exempel an, wo gute Folgen damit verbunden werden 1). Und Christus selbst schreibt die Art und Weise, wie gefastet werden soll, umständlich vor 2) und legt dem Fasten und Beten eine besondere Kraft bei 3).

Nun konnte, um wieder auf unsere Sonderlinge zu kommen, ein Mensch allerdings auch unter Menschen Strenge gegen sich versuchen und in seinem Hause und bei seinem Heerd fasten und beten. Wenn er aber glaubte und überzeugt war, daß die Herstellung in der Einsamkeit und Entfernung von der Welt leichter sei und weniger Schwierigkeiten habe; wenn er „zuvor saß und die Kosten überschlug, ob er's habe, hinauszuführen“, und denn durch Verleugnung aller Art versuchte, die geringere Natur in sich zu unterdrücken und die bessere zu heben: so sollte man ihn doch nicht verachtet haben. Wenigstens hätte man solche Leute doch ehren sollen, als die eigentlichen Pfleger und Förderer der praktischen Psychologie, deren ernsthafte Versuche und Erfahrungen andre Resultate und andern Bescheid versprechen und geben können, als die Tischreden der Philosophen.

Mangel und Entbehrung stehen überhaupt dem Menschen besser an, als Ueberfluß und Fülle. Je weniger der Mensch braucht, sagt Sokrates, desto näher ist er den Göttern. Und es gibt Gedanken und Empfindungen, die auf fettem Boden nicht wachsen.

Auf der andern Seite ist bei diesen Wegen, wenn sie nicht zum Ziel führen, große Gefahr, daß sie verdienstsüchtig und eingebildet machen. Die Natur will nicht umsonst arbeiten und gearbeitet haben, und das nicht allein bei den Einfältigen und Unaufgeklärten, sondern auch, und eben so, bei den Klugen und Aufgeklärten.

Dies mag auch der Fall und Fehler bei den Stoikern gewesen sein. Ihre Gesinnungen und Thaten waren kühn und trefflich, die Opfer groß, die sie auf ihren philosophischen Altar brachten; aber sie wollten das Feuer dazu mit ihrem Stahl und Stein anschlagen; sie wollten sich selbst helfen und geholfen haben, und das kann nicht gelingen.

Indeß, ob sie sich gleich hierin irreten, griffen sie doch die Sache beim rechten Ende an. Sie ließen sich's doch Ernst sein und kosten. Sie stiegen doch zu Pferde und Wagen, oder machten sich zu Fuß auf den Weg, um ins gelobte Land zu kommen, wenn andere es sich bequemer machten und sich, ohne von ihrem Lehnstuhl aufzustehen, hineinspeculiren wollen.

1)
Jonas 3, Act. 10, 30.
2)
Matth. 6, 16. 17. 18.
3)
Mark. 9, 29
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