Claudius, Matthias - Vom Gewissen - Vierter Brief

Claudius, Matthias - Vom Gewissen - Vierter Brief

Allerdings! „Es ist nichts verdammliches an denen, die nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist.“

Aber so wandeln nur, und so können nur die wandeln, die, wie Paulus sagt, „der lebendige Geist in Christo Jesu frei gemacht hat von dem Gesetz der Sünde und des Todes“, die also wirklich hergestellt sind.

Dahin kann der Mensch kommen; und dazu ist er auf Erden.

Aber dahin kommen wenige!

Die Menschen bekümmern sich nicht immer um das bessere Gesetz, und auch die sich darum bekümmern und sich angelegen sein lassen, durch den Geist des Fleisches Geschäfte zu tödten, auch die sind nicht los von dem Gesetz der Sünde und des Todes und sind nicht geistlich gesinnt.

Man glaubt wohl in gewissen Augenblicken geistlich gesinnt zu sein und nur das Unsichtbare lieb zu haben; aber die Täuschung währt nicht lange, und man wird bald wieder inne, daß man eigentlich das Sichtbare und Zeitliche meine.

Wie denn Rath zu einem guten Gewissen? - Andres, für die Gesunden und Starken ist kein Rath, denn die Gerechtigkeit Gottes ist unerbittlich. Aber für die Kranken.

Moses, nachdem er „Himmel und Erde über das Volk zu Zeugen gerufen und ihnen geweissaget hatte, wie sie, wenn sie des Herrn vergäßen, unter die Völker zerstreuet werden, ein geringer Pöbel unter den Heiden sein und den Göttern dienen würden, die Menschenhändewerk sind, Holz und Stein, die weder sehen noch hören“, fährt so fort: „Wenn du aber daselbst den Herrn, deinen Gott, suchen wirst, so wirst du ihn finden, wo du ihn wirst von ganzem Herzen und von ganzer Seele suchen. - Denn der Herr, Dein Gott, ist barmherzig und wird dich nicht lassen noch verderben.“

Als Adam gefallen war und „sich mit seinem Weibe vor dem Angesichte Gottes, des Herrn, unter die Bäume im Garten versteckte“, ließ Gott sich seine Furcht und Reue rühren und versprach ihm, in seinem Verfall, den Helfer, der ihn herstellen sollte.

Als „der verlorne Sohn in sich schlug und sich aufmachte zu seinem Vater zu gehen, sahe ihn der Vater, als er noch ferne war, jammerte ihn, lief, fiel ihm um den Hals, und küssete ihn“.

Sieh, Andres, da, und da allein, öffnet sich Aussicht zu einem guten Gewissen für uns und für alle, die noch nicht hergestellet, sondern nur auf dem Wege zur Herstellung begriffen sind.

Der Sclave kann sich seiner Kette nicht ledigen; aber er kann unter der Kette in sich schlagen und zum Vater gehen wollen.

Nur das ernstliche In-sich-schlagen, das Aufrichtig-zum-Vater-gehen-wollen steht dem Menschen nicht so zu Gebot. Joh. 6, 44.

Dieser reine Sinn liegt im Herzen eines jedweden Menschen; und das Bewegliche kann durch das Unbewegliche überwunden und getödtet werden; aber der Brunn ist tief, und das Schöpfen ist kein leichtes und geringes Werk.

Indeß konnte der Mensch in einer für ihn so wichtigen Angelegenheit nicht unthätig bleiben. Sein Wesen trieb ihn unwiderstehlich, sich nach Hülfe umzusehen und umzuthun.

Religion allein weiß hier von Hülfe. Und da alle Religionen von Einer abstammen, mittelbar oder unmittelbar, mehr oder weniger verstellt: so ist es kein Wunder, daß in diesem Felde alle Thätigkeit der Menschen sich auf Religion bezieht, und alle ihre Einrichtungen und Anstalten in diesem Stück religiösen Charakter, fast durchgehends, an sich haben. Zeno und seine Schule möchten etwa eine Ausnahme machen; denn Pythagoras hatte auch in religiösen Quellen geschöpft.

Doch, wie dem sei, die Menschen konnten in einer für sie so wichtigen Angelegenheit nicht unthätig bleiben. Und zwar bedurfte es hier vor der Hand keiner gelehrten und tiefsinnigen Anleitung. Ein jedweder fühlte offenbar in sich, daß „die fleischlichen Lüste wider die Seele streiten“, daß das sinnliche Gesetz dem verständigen Gesetz in ihm widerstehe. Auch dachte und hoffte er vielleicht, daß durch Schwächung des Widerstandes die Kraft sich heben, und jener reine Sinn zum Vorschein kommen würde, und griff zum Werk.

Und so wurden denn je und immer Gymnosophisten, Jammabos, Stoiker, Mönche, Eremiten, Asceten, Therapeuten, Styliten u.s.w. Der Weg von innen heraus war nicht bekannt, und so suchte der Mensch von außen hinein, und versuchte seine Kräfte.

Es ist sehr interessant, die Geschichte dieser Versuche, die zu allen Zeiten und unter allen Völkern gemacht worden sind, zu studiren; zu sehen, wie die Menschen auf so mancherlei Weise am Schloß gedrückt und gekehrt haben, bald mit mehr Besonnenheit und Ueberlegung, bald mit weniger; aber doch immer in einer Angelegenheit, die uns näher angeht, als manche dinge, die hoch und weit berühmt sind. Und ich erkenne Dich ganz, Andres, daß Du Dich nicht irren läßt, und Ernst dem Kurzweil vorziehst.

Sprich denn immer mit mir von diesen Dingen. Ich bin auch nicht aufgeklärt und suchte auch lieber die Wahrheit in Wüsten und Einöden, als bei den Sophisten. Ich höre auch gerne die Jammabos auf dem Fusi und Fikoosan in der Einsamkeit klingeln; menschliche Stärke und menschliche Schwäche sind immer rührend und lehrreich. Ich will Dir denn folgen, wie Du in Deinen Briefen vorangehst.

Deine Erfahrung, daß ein Entschluß, der Dir sonst Mühe machte, Dir nach einem Besuche im Krankenhause leicht geworden, ist sehr richtig und wahr. Es geht andern Leuten auch so; und darum suchen ernsthafte Gemüther oft, und sonderlich wenn sie mit einer Neigung nicht fertig werden können, solche und ähnliche Eindrücke; und darum sagt die heilige Schrift, daß es besser sei, ins Klag-Haus als ins Lach-Haus zu gehen. Man weiß freilich wohl, daß die Welt ein Jammerthal, und daß darin des Leidens aller Art kein Ende ist; aber der sinnliche Eindruck wirkt gar anders und macht eine Ueberzeugung, die man vorher nicht kannte. Wie denn überhaupt unsere Einsichten und Begriffe allererst eigentliche Einsichten und Begriffe werden, wenn die eigne Erfahrung hinzukömmt.

Was Du bei dem Vor- und Fortrücken in dem Kampf gegen sich selbst vorschlägst, ist nicht für die Anfänger. Die haben vor der Hand zu arbeiten, daß sie sich nur zum Stehen bringen, und das Geringere das Bessere nicht mit sich fortreiße. Denn wie die Eva, als sie sich mit der Schlange in ein Pro und Contra einließ, verloren war, und wie alle Menschen, wenn sie sich mit Fleisch und Blut einlassen und besprechen, so gut als verloren sind: so ist auf der andern Seite viel für sie gewonnen, wenn sie nur ihre sinnliche Natur in kritischen Augenblicken anhalten können und zum Stehen bringen, um mit der bessern Natur in Unterhandlung zu treten.

Ich besinne mich bei der Gelegenheit eines Griffs, den Du mir vor Jahren empfohlen hast: - wenn man von jemand etwas haben, ihn zu etwas bereden will, so verdirbt man oft die Sache, wenn man ihm geradezu und mit Gewalt auf den Leib rückt. Die ganze Natur widersteht dem Druck und bäumt sich dagegen. So bäumt sich der Mensch auch gegen Gewalt, und es gelingt oft viel leichter und besser, wenn man ihm von der Seite kömmt, ihn mit Glimpf, guter Wendung, Vertröstung rc. umgeht. - Dies, meintest Du, sollte man auch bei sich selbst anwenden. Und es thut in gewissen Fällen wirklich gute Dienste, sonderlich dem augenblicklichen Ausbruch zu wehren, auch böse Gewohnheiten abzulegen rc. Gründlich heilen thut es freilich nicht; aber es kann als ein Opiat dienen, bis die Kräfte sich gesammelt haben. - Nun zu Deinem Briefe von gestern.

Du scheinst ein großer Freund der vorläufigen Maßregeln zu sein und nimmst die Leute in Deinen besondern Schutz, die alle Vorfälle im Leben, die kommen könnten, sorgfältig berechnen und sich einen umständlichen Plan machen, wie sie sich in jedem vorkommenden Fall benehmen, und was sie thun und lassen wollen.

Ich kann Dir das nicht tadeln. Der sinnliche Eindruck, sonderlich wenn er unerwartet und unvorhergesehen kömmt, ist sehr gefährlich; und es ist löblich und wohlgethan, sich darauf zu rüsten und einen Plan zu machen. Aber ausgerichtet ist es damit nicht. Ein solcher plan wird zu Hause und fern vom Feinde gemacht, wo die Ausführung nicht so schwer dünkt. Aber im Felde und vor dem Feind ist es anders. Da wird der Plan verrückt, und das macht mißmüthig, und weil es wieder und wieder kömmt, zuletzt niedergeschlagen und scheu vor Gott. Und das ist mißlich und kann von ihm entfernen.

Du meinst zwar, man sollte die Saiten nicht gleich zu hoch spannen und mit dem, was man bestreiten kann, anfangen und nach und nach steigen. Das ist nun wohl sehr wahr; aber bei vielen ist das nach und nach nicht angebracht, und Minerva, als sie den Telemachus von der Calypso losmachen wollte, machte es anders und stürzte ihn von dem Felsen ins Meer.

So haben auch die gedacht, die über ihren sinnlichen Menschen den Stab gebrochen und allem sinnlichen Genuß auf immer entsagt haben. Dem und jenem Genuß entsagt man wohl, wenn die Thür zu andern offen bleibt, oder wenigstens eine Zeit bestimmt ist; aber allem und auf immer, das kann nicht ein jeder.

Es ist zwar der Welt Sitte, diese Leute und überhaupt alle Ordensstifter und Ordensbrüder kurz und gut zu verachten und zu verdammen und sie der Schwärmerei, der Eitelkeit, des Unsinns rc. zu schuldigen. Auch ist nicht ohne, daß bei vielen von ihnen dergleichen mit eingeflossen ist, und daß Menschenkenntniß und Vorsicht bei der Aufnahme den meisten viele Mühe hätten ersparen können und ersparen sollen. Aber Leichtgläubigkeit und überspannte Erwartung an der einen Seite, und Nachgiebigkeit, Eile und Proselytensucht an der andern sind dem Menschen natürlich. Und welche Gesellschaft, selbst die christliche von Anfang an nicht ausgenommen, hätte diese Fehler nicht gemacht und dadurch ihren Verfall bereitet!

Wer so etwas unternimmt und nicht einen entschiedenen Trieb in sich hat und zu erhalten weiß, der bringt nothwendig sich und andre in Verlegenheit und kann nichts anders als Unordnung, Unfug und Unwesen daraus kommen, wie die Erfahrung auch hinlänglich gelehrt und bestätigt hat. Und hier kann es allerdings nützlich und nöthig werden, daß eine weise Regierung zutrete. Denn wenn der Trieb durch die Mühen und Verleugnungen herbeigeführt und geschafft werden soll, so ist die Sache mißlich und geräth selten. Führt aber der Trieb die Mühen und Verleugnungen herbei, daß sie also mit Lust und Liebe gethan werden, so geräth es besser. Der Trieb ist's, der Hunger und Durst nach Gott; „die Werke verzehren sich unter Händen“. Dagegen liegt es am Tage, was ein solcher Hunger und Durst ausrichten und zu Wege bringen kann, und was er in allen Zeiten und unter allen Völkern ausgerichtet und zu Wege gebracht hat. Freilich nur selten, denn die wahren Heiligen sind die Diamanten gegen die ungeheure Menge Feldsteine.

Eigentlich soll niemand einen Orden zur Herstellung anderer Menschen stiften, als der selbst hergestellt ist und also seine Genossen in Wahrheit fördern kann. Und von einem solchen gebührt uns nicht zu richten und zu reden.

Doch wer möchte alle andre Ordensstifter geradezu verachten und verdammen. Mögen sie auch unbesonnen und überspannt zu Werk gegangen sein. Der Most gährt und braust und schäumt auch, ehe er Wein wird. Und haben denn andre Menschen, Philosophen und Nicht-Philosophen, sich immer besonnen, und nimmer überspannt, oder vielmehr, haben sie sich nicht oft besonnen und umgespannt? Zwar viele, die verachten und verdammen, meinen es so böse nicht; sie sprechen nur nach, weil sie sich schämen, weniger als andre zu sein. Wer dieser Scham abgestorben ist, wer nichts ist, und nichts sein will, der gibt sich preis um Nutzens willen, ist billig und kehrt zum Besten.

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