Calvin, Jean – 09. Das neunte Gebot.

Calvin, Jean – 09. Das neunte Gebot.

Abschnitt 212. – 2. Mose 20, 16 = 5. Mose 5, 20.

Dieses Gebot schützt jedermanns Ruf und guten Namen: niemand soll durch Verleumdungen und falsche Anklagen zu Unrecht beschwert werden. Dabei ist es aber wie bei allen Geboten, dass Gott nur ein Stichwort ausspricht, welches noch vieles andere mit unter sich begreift. Wörtlich wäre zu übersetzen: „Du sollst wider niemanden als falscher Zeuge aussagen.“ Es schwebt also zunächst eine öffentliche Gerichtsverhandlung vor, bei der man der Sache eines Unschuldigen nicht durch falsches Zeugnis schaden soll. Des Weiteren soll aber ein gläubiger Mensch sich überhaupt aller falschen Beschuldigungen enthalten: er soll sie weder öffentlich noch im geheimsten Winkel aussprechen. Der Gott, der Hab und Gut schützte, kann doch nicht versäumt haben, für den oft viel wertvolleren guten Ruf zu sorgen. Vor Gott wird also als falscher Zeuge dastehen, wer in irgendeiner Weise den Nächsten durch falsche Nachrede schädigt. Zudem muss auch hier der Übergang vom Verbot zu einem Gebot gemacht werden. Es ist nicht genug, seine Zunge von Schmähungen zurückzuhalten: man soll überhaupt seine Reden freundlich und billig gegen den Nächsten einrichten und dessen Taten und Worte ohne Falsch auslegen; wir sollen auch, so viel an uns ist, falsche Nachreden nicht auf ihm sitzen lassen. Zudem verbietet Gott nicht bloß, einem Unschuldigen geradezu Verbrechen anzudichten: man soll auch nicht aus Übelwollen oder Hass zweifelhafte Reden führen. Es mag sein, dass man diesem oder jenem manches nachreden kann und dass er wirklich ein Verbrechen begangen hat. Aber wenn wir nun in Wut und Jähzorn Schmähreden ausstoßen und in böswilliger Gesinnung Anklagen erheben, wird uns die Ausrede nichts helfen, dass wir nur die Wahrheit gesagt hätten. Es ist eine treffliche Auslegung unseres Gebots, wenn Salomo sagt (Spr. 10, 12): „Hass deckt Schande auf; aber die Liebe deckt zu alle Übertretungen.“ Also nur der ist kein falscher Zeuge, der seines Nächsten Ruf unangetastet lässt: wer aber aus Schmähsucht die Liebe verletzt, handelt wider Gottes Gebot. Alles in allem: unser Gebot will den beweglichen Zungen einen Zügel anlegen, dass sie nicht Schande auf die Brüder speien; es will der Frechheit wehren, die ihren guten Namen zerreißt; es will allen Verdächtigungen entgegentreten, wie sie aus Neid, Eifersucht und anderen verkehrten Gesinnungen hervorgehen. Ja noch mehr: wir sollen nicht misstrauisch sein oder gar zu begierig, Fehler aufzuspüren; eine Neugier in diesem Stück lässt auf üble Abneigung oder gar Böswilligkeit schließen. Die Liebe ist nicht argwöhnisch: wer aber auf nichtigen oder leichten Verdacht hin den Nächsten verurteilt oder übel von ihm denkt, ist ein Übertreter unseres Gebots. Darum soll man auch die Ohren gegen böswillige Verdächtigungen schließen: wer gar zu gern hässliche Reden hört, tut dem Bruder genau so Unrecht, als wer sie ausstreut. Danach mag jedermann ermessen, wie nötig unser Gebot ist. Unter Hundert findet sich kaum einer, der den Ruf des Nächsten ganz ebenso freundlich schont, wie er für die eignen offensichtlichen Fehler Nachsicht beansprucht. Tadelnde Reden sollen wohl gar noch schön sein, weil sie ein ernstes und strenges Urteil verraten! So schleicht sich ein Fehler, den man für eine Tugend ausgibt, auch bei den Gläubigen ein. Man hält es für einen geringen Fehler, wenn man mit glatter Zunge dem Bruder eine tödliche Wunde beibringt, welchem doch die Ehre mehr gilt, als das Leben. Es ist aber auch eine Pflicht der Liebe, dass man recht und billig urteilt und sich von Verdächtigungen frei hält.

Abschnitt 213. – 2. Mose 23, 1. 2. 7. / 3. Mose 19, 16. 17.

2. Mose 23.

V. 1. Du sollst falscher Anklage nicht glauben , buchstäblich: „du sollst falsche Anklage nicht aufheben.“ Dies kann entweder sagen, dass man sie von sich aus nicht erheben, oder dass man sie nicht aufnehmen und leichtgläubig weitergeben soll, wenn ein anderer sie ausspricht; denn dadurch würde man dessen Lüge unterstützen und verbreiten. Beides ist, wie wir so eben schon hörten, ohne Zweifel Sünde. Weil aber die Fortsetzung lautet: dass du einem Gottlosen Beistand tust , entscheide ich mich für die letztere Möglichkeit. Dafür ist auch der Ausdruck ganz besonders passend: eine Lüge, die ein anderer ausgestreut hat, müsste ohne weitere Folgen bald verschwinden, wenn nicht andere sie vom Erdboden aufheben und durch ihre Zustimmung stützen würden. Wir sollen auch insofern nicht zu Genossen der Bösen werden, dass wir die von ihnen erlogenen Schandtaten herumtragen. Nach Gottes Urteil ist ein falscher Zeuge, wer gottlosen Leuten darin die Hand bietet; und es macht wenig Unterschied, ob jemand die Sache anfängt oder fortsetzt. Wenn erst Verleumder anfangen das helle Licht zu verdunkeln, muss die grausame Lüge, die den Nächsten umbringt, die Oberhand gewinnen.

V. 7. Sei ferne von falschen Sachen usw. Da hier ein Meineid vorschwebt, der vielleicht einem Unschuldigen das Leben kostet, so könnte unser Vers auch als Anhang zum sechsten Gebot behandelt werden. Er gehört aber besser an unsere Stelle. Denn Mose verdammt ganz allgemein das falsche Zeugnis und bringt dann erst ein besonderes Beispiel vor, welches die ganze Abscheulichkeit lügenhafter Aussagen ins Licht setzt: ein falscher Zeuge kann mit der Zunge mehr Menschen umbringen, wie der Henker mit dem Schwert. Ist es an sich schon eine verbrecherische Grausamkeit, zum Schaden des Bruders zu lügen, so steigert sich das Verbrechen ins Ungeheure, wenn ein Meineid den Nächsten um das Leben bringt. So kommt zur treulosen Lüge der Mord. Endlich droht Gott, dass er Leute, die mit ihren Lügen Unschuldige in Gefahr bringen, vor seinen Richterstuhl ziehen wird: Ich lasse den Gottlosen nicht recht haben.

3. Mose 19.

V. 16. Du sollst nicht als Verleumder umgehen unter deinem Volk. Das Wort, welches wir als „Verleumder“ übersetzen, heißt buchstäblich „Herumläufer“. Es kann ebenso gut einen Kaufmann bezeichnen, der seinem Geschäft nachgeht, wie einen Zwischenträger, der mit böswilligen Gerüchten von einem zum andern läuft und die Menschen damit in Aufregung bringt. Alles in allem: vor Gott ist schon ein falscher Zeuge, wer durch die Beweglichkeit seiner Zunge den Brüdern Beschwer und Gefahr bereitet.

V. 17. Du sollst deinen Nächsten zurechtweisen. Weil viele Menschen unter dem Vorwand sittlicher Strenge sich als überaus bissige Richter zeigen und mit Eifer die Fehler anderer ans Licht ziehen, so begegnet Mose diesem verkehrten Triebe und zeigt, wie man sich in den rechten Schranken halten kann, wie man den Fehlern des Bruders keineswegs zu schmeicheln oder auch nur sie zuzudecken braucht und doch nicht hinterrücks in Schmähreden verfallen muss: man soll durch persönliche Zusprache den Irrenden auf den rechten Weg führen, nicht aber seine Fehler unter die Leute bringen. Denn wer über die Schande des Bruders Triumphe feiern will, stößt ihn, so viel an ihm ist, ins Verderben. Dagegen wird ein aufrichtiger Eifer vielmehr auf das Wohl dessen bedacht sein, der selbst auf verderblichem Wege wandelt. Darum heißt es: Du sollst deinen Bruder nicht hassen. Denn dies würden wir tun, wenn wir ihn ungewarnt gehen ließen. Ähnlich lautet auch Christi Vorschrift (Mt. 18, 15): „Sündiget dein Bruder an dir, so strafe ihn zwischen dir und ihm allein.“

Abschnitt 214. – 5. Mose 19, 16 – 21.

Weil nicht in aller Herzen die Furcht Gottes so regiert, dass man sich von Schmähsucht freihält, verordnet Gott eine Strafe über meineidiges Zeugnis. Denn solche bürgerlichen Gesetze werden gegen gewissenlose und aufsässige Menschen gegeben, damit, wer Gottes Gericht für nichts achtet, vor ein menschliches Gericht gezogen werde. Im Allgemeinen kommt ein Meineid nur dann zur Kenntnis des Richters, wenn ein anderer, der sich durch das ungerechte Zeugnis beschwert fühlt, Klage erhebt. Aber es versteht sich von selbst, dass, wenn falsche Zeugen jemanden etwa in den Tod gestürzt haben, der Richter nicht unterlassen soll, auch von sich aus gewissenhaft nachzuforschen. Weil aber die Menschen meist mit großem Eifer ihre Unschuld behaupten, legt Gott den Ton darauf, dass auf eine eingebrachte Klage hin die Richter eifrig nachforschen und gegebenen Falls eine entsprechende Vergeltung verhängen sollen. Wenn dabei unter Umständen (V. 21) „Seele um Seele “ gilt, so sehen wir, dass Gott einen falschen Zeugen auf gleiche Stufe mit einem Mörder stellt. Dass aber die Untersuchung nicht von den Priestern vorgenommen werden soll, deutet auf eine ganz besondere Sorgfalt. Ein verborgenes Verbrechen kann nur durch peinlichste Achtsamkeit aufgedeckt werden.

Quelle: Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung. 2. Band. 2. – 5. Buch Mose. 1. Hälfte. Verlag der Buchhandlung des Erziehungsvereins; Neukirchen; Kreis Moers. (Die Auslegung der zehn Gebote wurde übersetzt von Prof. K. Müller in Erlangen.)

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