Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Zweiundzwanzigster Vortrag. Letzte Stunden Jesu mit den Seinen.

Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Zweiundzwanzigster Vortrag. Letzte Stunden Jesu mit den Seinen.

Judas der Verräther ist fort und Jesus mit seinen Getreuen allein. Nur wenige Stunden der schon hereingebrochenen Nacht (s. Joh. 13, 30) und des Menschen Sohn wird überantwortet in der Sünder Hände. Die wenigen Nachtstunden der letzten Gemeinschaft Jesu mit seinen Getreuen offenbaren das Innerste des Herrn mehr als alle frühere Zeit. Den Inhalt dieser kurzen bedeutungsvollen Frist bilden die letzten Reden Jesu an die Jünger, sein großes Gebet und sein letztes Ringen. Oertlich vertheilt sich dieses so, daß die Reden und das Gebet noch dem Aufenthalt in Jerusalem angehören (s. Joh. 18,1. Luk. 22, 39), das Ringen dagegen an dem Oelberg und zwar in einem Hofe Namens Getsemane sich ereignet. Jesus verläßt nämlich auch diesmal für die Nacht Jerusalem, wie er in den letzten Tagen immer gethan, in später Stunde geht er mit seinen Jüngern über den Bach Kidron (s. Joh. 18, 1), wie einst David vor dem Aufrührer Absalom und Ahitophel dem Verräther (s. 2 Sam. 15, 23).

Wir haben gesehen, daß das geheimnißvolle Mahl des neuen Bundes einen neuen Grund der Gemeinschaft zwischen Jesus und den Jüngern gelegt hat, und auf dieser Grundlage ruht der letzte vertrauensvolle Ver- kehr, den Jesus vor der schließlichen Trennung mit den Seinen hat. In dem heiligen Mahle ist die höchste und geistigste Gabe an ein irdisches Element gebunden und ist dadurch eine zwiefache Verirrung für die Auffassung dieses Geheimnisses nahe gelegt. Wenn man von dem allerdings richtigen Gedanken ausgeht, daß Jesus in dem Verhältnisse zu Gott das Ende aller Aeußerlichkeiten ist und der lebensmächtige Anfang der Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit, so kann man dazu kommen, jenes sinnliche Element möglichst zu verflüchtigen und zu beseitigen, damit aber auch, weil hier das Geistige mit dem Leiblichen geeinigt ist, diese geistige Gabe in ihrer Besonderheit und Ausschließlichkeit zu verkürzen. Wenn wir nun dieses die spiritualistische Verirrung nennen, so gibt es andererseits auch eine materialistische, diese ist ein Rückfall in den Standpunkt der alten Welt, welchem Jesus eine Grenze gesetzt hat. Man nimmt nämlich das sinnliche Element als eine wesentlich sächliche Vermittelung göttlicher Einflüsse, dabei mag man denn immerhin noch von geistigen Bedingungen und geistigen Wirkungen reden, sobald das Sinnliche und Sächliche nicht ganz und gar vom Geiste und Glauben getragen und belebt gedacht wird, so macht sich sofort das Naturgesetz der Schwere geltend und zieht alle höheren Intentionen immer weiter hinab und entleert sie immer mehr ihres geistigen Gehaltes. Indem wir das heilige Abendmahl sofort als einen geschichtlichen Factor erkannt haben, der die für das Passa unüberwindliche Kluft zwischen Jesus und den Jüngern aufgehoben und eine neue Lebensgemeinschaft geschaffen hat, haben wir nicht nöthig, die erste Verirrung, nämlich die spiritualistische, noch eigens abzuwehren, sie ist für uns durch die Thatsache selbst gerichtet; daß aber auch die zweite eben so unevangelisch ist, zeigt sich uns gleichfalls thaisächlich. Nämlich nur insofern stützt sich Jesus für die weitere Zukunft der Jünger auf die ihnen mitgetheilte Gabe seines Fleisches und seines Blutes, als er das Vertrauen hat, ihnen ihren versuchlichen und gefährlichen Stand in der bevorstehenden Finsterniß der Welt unverhohlen aussprechen zu dürfen. Im Uebrigen wendet er sich lediglich an ihre innerste Selbstentscheidung, an ihre Treue, ihre Liebe, ihre Beharrlichkeit im Wachen und Beten, und alle seine Tröstungen und Verheißungen haben ausgesprochenermaßen oder stillschweigend diese Voraussetzung ihrer innersten Selbstbetheiligung. Jesus behandelt demnach die von den Jüngern empfangene geheimnißvolle Gabe lediglich als eine sittliche Kraft und in keiner Weise als eine wunderbare Magie.

Was das große Gebet Jesu, welches man das hohepriesterliche genannt hat, anlangt, so hat Johannes allein dieses mitgetheilt (s. Joh. 17) und auch in Bezug auf die letzten Worte Jesu ist vorzugsweise Johannes unser Führer (s. 13, 31-16, 33), dagegen bringen die Synoptiker von diesen Reden nur einzelne besonders hervortretende Aeußerungen über die nächste Gefahr, welcher die Jünger ausgesetzt seien (s. Matth. 26, 31-35. Marc. 14, 27-31. Luk. 22, 31-38), wofür aber die drei Synoptiker allein über den letzten geheimnißvollen Kampf Jesu Bericht erstatten (s. Matth. 26, 36-46. Marc. 14, 32-42. Luk. 22, 39-46).

Die Grundstimmung Jesu nach dem Passa spricht sich deutlich aus in dem Anfange seiner Rede, welche Johannes mitgetheilt hat. Jesus hebt an: „jetzt ist verkläret der Sohn des Menschen und Gott ist verkläret in ihm. Wenn Gott verkläret ist in ihm, so wird auch Gott ihn verklären in ihm selbst und alsbald wird er ihn verklären. Kindlein, eine kleine Weile bin ich noch bei euch“ (s. 13, 31-33). Welch ein Abstand dieser Worte Jesu von jenem Moment beim Passamahl, über den Johannes schreibt: „und als er dieses gesagt, ward Jesus im Geiste erschüttert und bezeugte: wahrlich, wahrlich, ich sage euch, Einer unter euch wird mich verrathen!“ (s. 13, 21). Inzwischen hat Jesus den Judas an sein Werk gewiesen und den Elfen hat er sein Fleisch und sein Blut dargereicht. In Beiden hat er thatsächlich bewiesen, daß er nicht bloß von allem Irdischen und Sinnlichen völlig los ist, sondern daß er auch alles Irdische und Sinnliche an ihm und außer ihm seinem heiligen Willen dienstbar macht, darum kann Jesus nunmehr sagen: jetzt ist des Menschen Sohn verkläret worden und Gott ist in ihm verkläret worden. Mit seinem freien heiligen Entschluß bietet er seinen Leib dem Verräther und Führer seiner Todfeinde dar, und indem er somit seinen Leib zu einem heiligen Opfer geweihet hat, kann er sein Fleisch und Blut als Speise und Spende vom Heiligthum Gottes seinen Hausgenossen überreichen. Die verborgene Verklärung seiner selbst, dien in seinem heiligen Willen vollzieht und durch welche er Gott in sich selber verherrlicht, ist die Grundlage einer anderen Verklärung, welche Gott an ihm vollziehen und offenbar machen wird, und diese zweite Verklärung sieht Jesus auf Grundlage der ersten in naher Aussicht. In dieser freudigen gehobenen Stimmung nennt er die Seinen zum ersten Mal mit dem zärtlichen Namen „Kindlein“. Das Verhältniß der Gemeinschaft, das er mit ihnen eingegangen ist, hat er soeben durch Mittheilung seines Fleisches und Blutes vollendet und auf Grundlage dieser wesenhaften Selbstmittheilung nennt er sie seine Kinder. Wenn nun Jesus sagt: „noch eine kleine Weile bin ich bei euch,“ so sehen wir, wie kostbar ihm die gegenwärtigen Augenblicke sind. Nur eine dünne Scheidewand flüchtiger Augenblicke trennt ihn von dem Zeitpunkt, in welchem er den Feinden überantwortet werden soll, außerdem ist schon späte Nachtzeit und die voraufgehenden Tage waren von großer Aufregung und Anstrengung erfüllt gewesen, aber ehe der Hahn den nächsten Tag mit seinem Wächterruf einweiht, hat sich schon die ganze Gestalt der Welt verwandelt. Darum zählet der Herr jetzt nicht bloß die Stunden, sondern auch die Minuten, er durchwacht die Nacht und indem er in dieser entscheidenden Zeitwende mit voller Ruhe und Klarheit sein tiefstes Innere offenbart, leistet er seinen Jüngern, die es damals waren und die es nachher sein werden bis an das Ende der Tage, einen Dienst, den ihm erst die Ewigkeiten vergelten können.

Weil Jesus vor Allem auf die innere Selbstentscheidung der Jünger einwirken will und wenn er sie auch nicht bewahren kann vor der empfindlichsten Selbsterfahrung ihrer Schwachheit, ihnen doch für ihren dunklen Weg eine Mitgabe überreichen will, an deren Hand sie sich wieder können zurechtfinden, so deckt er ihnen ihre gegenwärtige Schwachheit unverhohlen aus. Er sagt ihnen: „in dieser Nacht werdet ihr euch Alle an mir ärgern, denn es stehet geschrieben: ich werde den Hirten schlagen, und zerstreuen werden sich die Schafe der Heerde. Wenn ich aber auferwecket bin, werde ich euch als Hirte führen nach Galiläa.“ Während sonst die Jünger bei Ankündigungen ähnlicher Art, auch wenn sie auf eine Ferne hindeuten, sich fürchten und erschrecken, finden wir sie jetzt, obgleich die Ankündigung drohender klingt, denn je, völlig getrost und muthig. Petrus antwortete: „wenn sie sich Alle ärgern werden an dir, so werde ich mich doch nimmermehr ärgern.“ Und als Jesus ihm darauf erwidert: „wahrlich, ich sage dir, in dieser Nacht, ehe der Hahn krähen wird, wirst du mich dreimal verleugnen,“ sagt Petrus: „auch wenn ich mit dir sterben müßte, werde ich dich nicht verleugnen,“ und desgleichen sagten alle Jünger (s. Matth. 26, 31-35). Wenn man nun den weiteren Verlauf ins Auge faßt, so ist man leicht geneigt, diese Versicherungen des Petrus und der Uebrigen in die Klasse gewöhnlicher, leichtfertiger und unbedachtsamer Reden, wie wir sie alle Tage hören, hineinzuwerfen, womit man aber dem Petrus und den übrigen Jüngern großes Unrecht thut. Hätten die Worte dieser Männer nicht mehr Gehalt, als wir leider häufig genug in den Versicherungen der meisten Menschen finden, wir dürfen sicher darauf rechnen, wir würden sie nicht in dieser Umgebung finden. Nein, den Maßstab gemeiner Schwachheit und Menschlichkeit darf man an Keinen aus der Zahl der erwählten Zwölf anlegen. Wenn allerdings das Verhältniß der That und des Wortes auch in diesem Fall ein eben so trauriges ist, wie wir es sonst im Leben finden, so sollte man lieber bedenken, daß die hier eintretende Versuchung eine solche ist, daß das gewöhnliche Maß menschlicher Vorstellung und Erfahrung sich eine Ahnung von ihrer Größe und Stärke zu machen bei Weitem nicht ausreicht. Wir haben allen Grund, anzunehmen, daß die Beteuerungen der Jünger wirklich aus dem Grunde muthiger und mannhafter Gesinnung hervorgingen und daß sie deshalb auch in allen anderen Fällen der Gefahr und Noch, ausgenommen den einen, in welchen sie eben geriethen, Stand gehalten hätten. Die gehobene Stimmung und Haltung, in welcher sie gegenwärtig ihren Herrn finden und reden hören, theilt sich ihnen mit und in solcher freudigen Zuversicht denken sie sich das, was Jesus ankündigt, immer anders, als wie es die Wirklichkeit nachher aufweist; sie hören wohl die Worte Jesu von seinem bevorstehenden Leiden, aber was dieses Leiden ist, merken sie erst dann, als es eintritt. Wie wenig sie im Stande sind, Jesum in seinen Andeutungen über die nächste Zukunft zu verstehen, zeigt sich auch in den Fragen und Bitten, welche verschiedene Jünger nach .dem Berichte des Johannes in diesen letzten Augenblicken an Jesum richten. Petrus fragt ihn: „Herr, wo gehest du hin?“ und als Jesus antwortet: „wohin ich gehe, kannst du mir jetzt nicht folgen, später aber wirst du mir folgen,“ sagt Petrus: „Herr, warum kann ich dir jetzt nicht folgen? Meine Seele werde ich für dich einsetzen“ (s. Joh. 13, 36. 37). Thomas sagt: „Herr, wir wissen nicht, wohin du gehst, und wie können wir den Weg wissen“ (s. Joh. 14, 5), Philippus bittet: „Herr, zeige uns den Vater, so genüget uns,“ und muß das Wort hören: „so lange Zeit bin ich bei euch und du kennst mich nicht, Philippe?“ (s. Joh. 14,8. 9). Und endlich fragt Judas Jakobi: „Herr, was ist geschehen, daß du dich willst uns offenbaren und nicht der Welt?“ (s. Joh. 14, 22). Aus diesen unklaren und wirren Reden der Jünger leuchtet unmittelbar ein, wie sehr Jesus Grund hat, wegen der kommenden Versuchung für die Seinen in Sorge zu sein, und wie wenig er sich auf sie selber für diese Stunde der Finsterniß verlassen könne. Aber obgleich er allein sie über diesen Abgrund hinübertragen kann mit seiner göttlichen Kraft, so kann dieses, da es ihm immer nur auf eine sittliche Wirkung ankommt, doch nur so geschehen, daß ihre innere Selbstbetheiligung dabei in Anspruch genommen werden muß. Darum verhehlt er ihnen nicht das Unheimlichste und Schauerlichste, was über sie kommen wird, sondern spricht es offen aus er sagt dem Petrus: „Simon, Simon, siehe der Satan hat eurer begehret, euch zu sichten wie den Weizen, ich aber habe für dich gebetet, daß dein Glaube nicht aufhöre, und du, wenn du dich einst bekehret hast, stärke deine Brüder“ (s. Luk. 22, 31.32). Wir wissen bereits, daß der Herr in Allem, was in nächster Zeit wider ihn geschehen wird, als letzten Urheber den Widersacher erkennt, der die Organe der weltlichen Ordnung, welche Gott gestiftet hat, nach seinem Willen leitet, und inspiriert. La nun die Jünger, wie sich in diesen letzten Stunden unverkennbar ergibt, noch immer in die Welt verflochten sind, so wird die Macht der finsteren Stunde in der Welt auch über sie kommen müssen, ohne daß sie in sich die Kraft haben, ihr Widerstand zu leisten. Dann bleibt Nichts übrig für sie, als die Kraft der Fürbitte Jesu, daß ihr Glaube nicht gänzlich erlösche. Einst haben die Apostel zu dem Herrn gesagt: „gib uns mehr Glauben“ (s. Luk. 17, 5). Wenn Jesus ausdrücklich sagt: „daß er nicht für die Welt bittet“ (s. Joh. 17, 9), so müssen wir uns bei der Zusage seiner Fürbitte für Petrus an jene vorausgehende Bitte der Apostel erinnern, sowie uns gleichfalls das vorhalten, daß Jesus den Petrus im Voraus seiner Fürbitte versichert und ihn auf die Nothwendigkeit seiner einstigen Bekehrung und Wiedererstattung seines Fehlers hinweist, damit er seine Bewahrung und Errettung als durch sein inneres Festhalten an Jesum und nicht durch irgend eine magische Operation bedingt erkennen solle.

Alle Stärkung und Tröstung der Jünger beruht aber vornehmlich darauf, daß sie den unzweideutigen Eindruck von Jesu empfangen, daß er selber unerschüttert und ungebrochen durch das ihm bevorstehende Verhängniß hindurchgeht. Und eben auf diesen Eindruck sind die Reden Jesu angelegt, welche uns Johannes in dem bezeichneten Abschnitt mittheilt und damit der Christenheit für alle Zeiten einen unerschöpflichen Schatz himmlischen Lichtes und göttlicher Kraft vermacht hat. So sehr erscheint Jesu in diesen Reden die vor ihm liegende schaurige Kluft des Leidens und Sterbens von der in ihm ruhenden göttlichen Kraft überwunden, daß er alles Bevorstehende als seinen Gang zum Vater bezeichnet. Wenn er von seinem Frieden spricht (s. 14, 27. 16,33) und von seiner Freude (s. 15, 11), so ist das nicht etwas Vergangenes oder Zukünftiges, sondern eben seine gegenwärtige Stimmung. Es ist der Friede und die Freude dessen, der eine Zeitlang in unwirthlicher Ferne und Fremde gewesen ist und jetzt auf dem Punkte steht, die ersehnte Heimath zu begrüßen. Die Ferne und Fremde für Jesum ist die Welt, die Gott nicht kennt und kennen will, und seine Heimath ist der Himmel, von wo er gekommen und wohin sein nächster Schritt ihn führen wird. Aber alles Herrliche, was er von diesem seinem Stande und Gange aussagt, faßt er in innigster und kräftigster Beziehung zu den Seinen, Er kommt hinein in das Vaterhaus, um dort für die Seinen die ewigen Wohnungen zu bereiten (s. 14, 23). Und wenn er dort angelangt sein wird an dem Ort der höchsten Macht und Lebensfülle, dann wird er thun, was immer die Seinen in seinem Namen bitten werden (s. 14, 13),. vor Allem aber wird er ihnen den heiligen Geist senden (s. 16, 7). Dieser Geist steht mit ihm in Wesensgemeinschaft, darum ist derselbe sein Stellvertreter während seiner örtlichen Abwesenheit und in ihm ist er selbst, obwohl äußerlich abwesend, gegenwärtig und zwar in einem höheren und besseren Sinn, als während seiner irdischen Gemeinschaft mit den Jüngern. Der heilige Geist nämlich wird ihn den Jüngern verklären (s. 16, 14), während seine bloß leibliche Anwesenheit für die Jünger immer noch mit einem dunklen Schleier bedeckt geblieben ist. Der heilige Geist wird sie erinnern an Alles, was Jesus den Jüngern gesagt hat (s. 14,26). Das ist selbstverständlich etwas Anderes als die Erinnerung der natürlichen Gedächtnißkraft, die Erinnerung des heiligen Geistes faßt die Worte Jesu im Zusammenhang mit dem Geiste, aus welchem sie geredet sind, so daß sie nicht mehr erscheinen als einzelne losgerissene Aeußerungen, sondern als die in sich abgeschlossenen, einheitlichen Offenbarungen seiner durch den heiligen Geist verklärten Persönlichkeit. Indem so der heilige Geist nicht von sich selber redet, sondern was er höret redet, und was er mittheilt, von Jesu nimmt, wird er der Führer der Jünger, der die ganze Wahrheit aufschließen wird (s. 16, 13-15). Indem also Jesus mit hellem, freudigem Blick in seine eigene nahe bevorstehende Vollendung hineinschaut, läßt er die Seinen zugleich an seiner eigenen Vollendung Theil haben.

Endlich faßt Jesus Alles, was sein Herz bewegt in Bezug auf seine und seiner Jünger Zukunft, zusammen und trägt es mit gen Himmel erhobenen Augen in voller freudiger Zuversicht seinem himmlischen Vater vor. Denn, auch jetzt, wo er von seiner höchsten Macht und Herrlichkeit redet, will er vor den Jüngern nicht anders erscheinen, als stehend unter dem Vater, von dem er geradezu sagt: „er ist größer, denn ich“ (s. Joh. 14, 28). Aber indem er sich ohne Vorbehalt mit der Zukunft seines ganzen Werkes unter die Macht des Vaters stellt, spricht er andererseits so, daß wir nicht bloß aus einzelnen Aeußerungen, sondern aus dem ganzen Ton seiner Rede abnehmen können, so dürfe Niemand auf Erden mit dem im Himmel Thronenden reden, als wer selber göttlichen Wesens und Geistes ist in ursprünglicher und ewiger Weise. Mit dem vollen klaren Bewußtsein über den gegenwärtigen Zeitpunkt beginnt Jesus: „Vater, gekommen ist die Stunde, verkläre deinen Sohn, damit dein Sohn dich auch verkläre. Ich habe dich auf der Erde verkläret, das Werk habe ich vollendet, was du mir zu thun gegeben hast, und nun verkläre mich, du Vater, bei dir selber mit der Herrlichkeit, welche ich hatte bei dir, ehe die Welt war“ (s. Joh. 17, 1-5). Darauf spricht Jesus mit der ganzen Zärtlichkeit und Innigkeit sein Verhältniß zu seinen Jüngern aus und legt diese seine Geliebten und Getreuen dem himmlischen Vater ans Herz für alle kommenden Gefahren und Versuchungen, indem er zugleich die ganze Zahl derer, die einst durch das Wort seiner Boten an ihn glauben werden, mit den Aposteln in eine Einheit und Gemeinschaft zusammenschließt (s. V. 20), Um dieses so stark hervortretenden fürbittlichen Charakters willen hat man dies große Gebet Jesu sein hohenpriesterliches genannt. Der Hohepriester des alten Bundes trug die Namen der zwölf Stämme auf seiner Brust, zum Zeichen, daß er Alles, was das Volk Gottes angehe, in seinem Herzen bewege und vor Jehova bringe. Dieses Zeichen erhält zum ersten Mal seine Wahrheit und Erfüllung in dieser Fürbitte Jesu, Die Innigkeit seines Gebetes für die Zwölf ist ja das Ergebniß derjenigen unvergleichlichen Liebe, die er ihnen, wie wir gesehen, von Anfang an zugewendet hat. So tief stehen ihm die zwölf Namen auf dem Grunde seines Herzen geschrieben, daß er selbst in diesem Moment der reinsten und höchsten Erhebung den Einen nicht unerwähnt lassen kann, der sich mit teuflischer Ruchlosigkeit von ihm losgerissen hatte. Ja noch mehr, wir erkennen ganz deutlich den Schmerz seiner Seele, wenn er von dem Einen spricht, den er den Sohn des Verderbens nennt. Wenn er nämlich sagt: „welche du mir gegeben hast, die habe ich behütet, und ist Niemand von ihnen verloren, ausgenommen das Kind des Verderbens, auf daß die Schrift erfüllet würde“ (s, V. 12), so sucht er offenbar durch diese Berufung auf die heilige Schrift seinen eigenen Kummer darüber zu stillen. Und alle Zeiten und alle Räume der durch seine Apostel zu stiftenden Gemeinschaft umfaßt er mit seinem Gebet und was er für diese seine Gemeinde erbittet, ist mit einem kurzen Wort ausgesprochen; es ist aber dieses kurze Wort so aus der Tiefe und Ganzheit der Sache, daß die Gläubigen aller Zeiten und aller Orten, je gehemmter und gedämpfter das Leben des Geistes einherschleicht, aus diesem theuren Worte Jesu immer neuen Trost, neuen Eifer und neue Kraft schöpfen. Jesus bittet, daß Alle, welche an ihn glauben werden, „Eins seien, wie du Vater in mir,“ sagt er, „und ich in dir, daß auch sie in uns Eins seien, damit die Welt glaube, daß du mich gesandt habest“ (s. V. 20. 21). Wie Viele gibt es auch in unserer Gegenwart, welche sich ihres kirchlichen Eifers rühmen und wider dieses Wort des hohenpriesterlichen Herzens Jesu freveln! Ueberhaupt ist es in unserer Zeit mit dem Worte Kirche wieder dahin gekommen, daß man mit Luther darauf dringen muß, über dem Worte Kirche nicht das allerwesentlichste Lebensmoment, welchem dieses Wort sein erstes Dasein verdankt, das Moment der Gemeinschaft und der einigenden Liebe zu vergessen. Die höchste Einheit und Gemeinschaft ist das Ziel, welchem der Herr seine Gläubigen immerdar entgegenführt, aber nicht etwa so, daß sie dürften ihren zertrennenden Gedanken und Gelüsten nachgehen und es ihm überlassen, schließlich das herzustellen, was sie an ihrem Theile so viel als möglich gehindert haben. Nein, Niemand kann diese herzliche Bitte Jesu vernehmen und beherzigen, wer nicht sofort sich getrieben fühlt, Alles aufzubieten, daß diese lebensvolle, göttliche Einheit der Gläubigen immer völliger und reiner hergestellt werde, denn nicht im Verborgenen soll sie bleiben, sondern das ist der Wille unseres Herrn, daß die Welt, für die er nicht bittet, die er aber in das Werk seiner Erlösung einschließt, durch den Anblick dieser göttlichen Liebe und Einheit der Gläubigen zum Glauben gelangen solle. Die aufweisbare Gemeinschaft der Gläubigen vor den Augen der Welt ist die wahre Apologie und Polemik des Christenthums, und in dem Maß, als es an diesem Hauptbeweisthum des Glaubens fehlt, ist alles Andere, sei es nun theoretisch oder praktisch, unfruchtbares oder vergebliches Bemühen.

Nach diesen Reden und diesem Gebet geht Jesus in der mondhellen Nacht von Jerusalem über den Bach Kidron nach dem Oelberg und begibt sich dort in einen Hof, wo er sich häufig mit seinen Jüngern zusammenfand (s. Joh. 18, 2). Hier nun angelangt, ist seine Stimmung plötzlich verwandelt. Da wir uns bereits früher überzeugt haben, daß Jesus mit seinem innersten Lebensgrunde in die Welt und in die Zeit eingegangen ist, so werden wir uns über den Wechsel der Stimmungen und namentlich auch über die hier so stark wie nirgends sonst eingetretene Wandelung nicht wundern. Jesus ist angelangt an dem Orte, wo das Leiden im eigentlichsten Sinne des Wortes über ihn kommen wird, er ist eingetreten in die Stunde, in welcher sein Leiden beginnen wird. Daß er sich durch die Vorstellung des Bevorstehenden nicht überwältigen und aus dem Gleichgewicht der Gegenwart nicht herausbringen läßt, wie es lebhaften aber schwachen Gemüthern begegnet, ist uns bereits thatsächlich klar geworden. Eher könnte man sich die Freudigkeit seines Gehorsams, den Muth seiner Seele, die Gewißheit von der ewigen Frucht und der unumgänglichen Notwendigkeit seines Leidens und Sterbens, man könnte sich dieses Alles so groß und so mächtig in ihm denken, daß alles Gefühl des Schweren und Schmerzlichen von vornherein als überwunden erschiene. In der That gibt es Manche, die auf das Leiden und Sterben des Herrn ein großes Gewicht legen und sich dabei seinen Zustand ungefähr so vorstellen, als ob allerdings, was Jesu widerfährt, unter allen Umständen mit dem tiefsten Gefühl des Schmerzes und Wehes verbunden sein muß, bei Jesu aber wegen der vollen Klarheit über den göttlichen Zweck seines Leidens ohne dieses bittere Gefühl hätte sein können oder gar müssen, so daß das Leiden Jesu nach seiner ganzen Außenseite an Schrecklichkeit nicht seines Gleichen hat, nach seiner Innenseite dagegen von dem eigentlich specifischen Charakter alles sonstigen Leidens Nichts weiß. Genau genommen ist nach dieser Ansicht das Leiden und Sterben Jesu ein Schein und wirklich kommt man auch auf diesem Wege dahin, daß man vor dem Bestreben, der Frucht des Leidens Jesu theilhaftig zu werden, die wirkliche, innere Theilnahme für dieses Leiden mehr und mehr verliert. Aber verflucht sei diese scheinheilige Kunst, welche zuerst das Herz unseres Heilandes stumpf und kalt macht, um sodann das heiligste Liebesfeuer der Christenheit mit frommen Redensarten allmälig erlöschen zu lassen! Wir bleiben auch hier unserem Cardinalsatze treu, daß so göttlich, so heilig, so verschieden von allem sonst Menschlichen Etwas in dem Leben Jesu sich begeben und gestalten mag, das Grundmaß bei Allem doch immer wirklich menschliches und geschichtliches Wesen bleiben muß. Ist nun die Situation Jesu im Garten Getsemane am Oelberg, „in der Nacht, da er verrathen ward,“ eine menschliche und geschichtliche, so ist sein letztes Ringen ganz naturgemäß. Vier Güter sind es, deren Verlust ihm unmittelbar bevorsteht. Seine Freiheit soll ihm genommen werden und Niemand ist, der dieses Gut besser zu schätzen und zu brauchen weiß als der, in welchem die Freiheit auf eine ursprüngliche und ewige Weise wohnt, so daß die Menschheit, welche die anerschaffene Freiheit im Laufe der Zeit immer mehr verloren und fast vergessen hat, von ihm erst wieder zu lernen hat, und wirklich von ihm allein wieder gelernt hat, was Freiheit ist. Seiner Thätigkeit soll er beraubt werden, er, der in jeder Stunde die Werke Gottes wirkt, er, der nicht ermattet und nicht ruhet, so lange ihm das Licht des Tages scheint, er, der niemals seine Glieder in den Dienst eines ungöttlichen, finsteren und unfruchtbaren Werkes begeben hat. Seine Ehre soll in tiefste Schande und Schmach verwandelt werden, während er sich der höchsten Ehre würdig weiß, „auf daß sie Alle,“ hat er gesagt, „den Sohn ehren, gleich wie sie den Vater ehren“ (s. Joh. 5, 23), während er erfahren hat, daß Jemand nur so weit wirken könne, als er die ihm gebührende Ehre genießt. Endlich soll Jesus sein Leben lassen und dieses sein Leben ist das einzige in der ganzen Zeit und Welt der Menschheit, welches nicht unter dem Banne des Todes steht, das einzige auf Erden, welches dem Willen Gottes gemäß ist. Allerdings weiß Jesus seit lange nicht bloß, daß ihm dieses bevorsteht, sondern auch, daß in der Hingabe dieser Güter das einzige Heil der verlorenen Welt beschlossen ist, ja er ist von Anfang an entschlossen, dieses Opfer aller dieser ihm theuren Güter für die Rettung der Welt darzubringen. Er weiß, daß die Menschheit alle diese Güter von Gott getrennt und darum gemißbraucht hat, und daß sie deshalb nur so können wiederhergestellt werden, daß er mit freiem Willen auf den Besitz und Genuß derselben verzichtet, indem er sich an Gott allein hält. Aber wenn diese Hingabe, diese Opferung nicht in dem Grunde des eigensten Selbstlebens, in dem Gefühl seiner selbst erfolgt, so fehlt alle Wahrheit und aller Ernst darin und kann dann auch keine Frucht und Folge davon erwartet werden. Jenes Wissen Jesu von seinem Ausgang und dessen ewigen Folgen, jene Entschlossenheit zu leiden und zu sterben, setzt demnach immer das volle, unverkürzte Gefühl des ganzen Gewichtes, welches in dem Leiden liegt, voraus und ist es eine leere Selbsttäuschung, wenn man meint, auf einem anderen Wege, als dem der Selbstversenkung in dieses Gefühl Jesu die Frucht seines Leidens und Sterbens gewinnen zu können. Wir müssen uns nun selbstverständlich dieses Gefühl seines Leidens über das ganze Leben Jesu vertheilt denken, aber eben so begreiflich wird es uns sein, wenn dieses Gefühl, welches sich für gewöhnlich nicht ausspricht und kund gibt, eben an dem bezeichneten Ort und in jenem entscheidungvollen Moment in seiner ganzen Stärke sich kund gibt. Die volle Selbstständigkeit des Lebens Jesu bringt es mit sich, daß er von Nichts, was über ihn kommt, überrascht und überwältigt werden kann, darin liegt weiter, daß er das ihm bevorstehende Schwere nicht bloß kenne, sondern vorher durchlebt und in sich überwunden haben muß, um mit voller Freiheit und Siegesgewißheit hineingehen zu können. Die Möglichkeit dieses vorgreifenden Selbsterlebens beruht auf der ungetrübten Klarheit und Kraft seines Denk- und inneren Anschauungsvermögens. Daraus erklärt sich die Möglichkeit und zugleich die sittliche Nothwendigkeit, daß Jesus in der kurzen Frist vor seiner Gefangennehmung, mit welcher sein Leiden beginnt, das ganze Maß der über ihn verhängten Noch fühlt und innerlich durchlebt.

Das Erste, was Jesus im Garten von Getsemane vornimmt, ist dieses, daß er die drei vertrautesten Jünger, Petrus und die beiden Zebedäiden von den übrigen absondert und zu sich nimmt; den Uebrigen sagt er: „sitzet euch hier, bis ich hingehe und bete“ (s. Matth. 26, 37. 38. Marc. 14, 32. 33). Dem weiteren Kreise der Jünger deutet er den Ernst des gegenwärtigen Augenblicks im Allgemeinen und von Ferne an, den drei Vertrauten, welche auch Zeugen seiner Verklärung waren, gibt er sich unverhohlener hin. Als er mit diesen sich abgesondert, fängt er an zu trauern und zu zagen, oder wie Marcus noch stärker sagt, „sich zu entsetzen und zu zagen.“ Mit dem Ausdruck: „fing er an,“ den sowohl Matthäus als Marcus braucht, soll auf den plötzlich eingetretenen Wechsel aufmerksam gemacht werden und es bestätigt sich damit, daß die Stimmung Jesu bis dahin eine wesentlich andere gewesen ist. Die starken Ausdrücke über die Betrübniß Jesu deuten übrigens an, daß sich diese verwandelte Stimmung sofort auch äußerlich zu erkennen gab, und darin liegt der nächste Grund für die Aussonderung jener drei. Die tiefe Betrübniß und Angst Jesu, welche den Jüngern ein ganz neuer und unbegreiflicher Anblick war, wollte er nur den Eingeweihtesten zeigen. Aber warum verbirgt er diesen Anblick nicht lieber ganz und gar? Daß er dieses nicht thut, beweist sein rein menschliches Gefühl: obwohl er die Schwachheit aller seiner Jünger, die drei Vertrautesten mit eingeschlossen, sehr wohl kennt und durchschaut, wünscht er doch in seiner Betrübniß und Angst den Trost ihrer Gemeinschaft und Nähe zu genießen. Darum spricht er sich ihnen auch unverhohlen aus, „meine Seele,“ sagt er, „ist bis zum Tode betrübt.“ Wir müssen annehmen, daß dieses Wort im Munde Jesu nicht eine starke und übertriebene Redensart ist, sondern volle Wahrheit. Er weiß, daß das ihm unmittelbar bevorstehende Leihen ihn in den Tod führen wird. Aus der Eigenthümlichkeit seines Lebens, welches er in der Welt führt, weiß er, was der Tod für ihn ist. Seines ewigen Seins bei Gott hat er sich entäußert und ist in die Weise des weltlichen Seins eingegangen, von nun an ist ihm jeder Augenblick seines Seins und Lebens in der Welt die Vermittelung der Gemeinschaft mit Gott, und eine andere Gemeinschaft mit Gott lebt er dermalen nicht, als die ihm durch die Welt in jedem Augenblick vermittelte. Dann aber muß Jesus den Tod fühlen als die Aufhebung dieser Gemeinschaft mit Gott, als die Trennung von Gott und somit als den Zorn Gottes. So ist von Anfang an der Tod von Gott gesetzt und gemeint, und weil der Tod so von Gott ursprünglich gesetzt und gemeint ist, so gibt es auch keinen Tod, in welchem nicht davon ein Eindruck vorhanden wäre, aber völlig so gefühlt und erfahren kann der Tod nur da werden, wo das Leben Nichts ist als die bewußte Gemeinschaft mit Gott, und weil dieses Leben nirgends ist, so ist auch nirgends die ungetheilte und ungetrübte Erfahrung des Todes. Die weitere Folge ist dann, daß der Tod, der nicht erlebt und erfahren wird als reine Trennung von Gott, mithin nicht so aufgenommen wird, wie Gott ihn gestiftet hat, den Menschen in seiner Macht behalten muß, und mithin, wenn nicht etwas Anderes dazwischentritt, zu einem ewigen Tod sich auswirken muß. Darum, wenn die Schrift sagt, Jesus habe den Tod geschmeckt (s. Hebr. 2, 9), so meint sie damit das Trinken aus dem unvermischten Kelch des göttlichen Zornes (vgl. Offenb. 16, 19); und wir müssen sagen, daß noch niemals Jemand den Tod so gefühlt und empfunden hat, als Jesus. Durch einen alttestamentlichen Vergleich können wir uns dieses Todesgefühl Jesu noch deutlicher machen. Der Amalekiterkönig Agag ging getrost in den Tod hinein und sprach: „also muß man des Todes Bitterkeit vertreiben“ (s. 1 Sam. 15, 32); dagegen wissen die frommen Könige Israels David und Hiskia nicht Worte genug zu finden, um die Schrecken des Todes und Grabes auszumalen. Welches ist der Grund dieser auffallenden Verschiedenheit? Die Könige Israels kannten und genossen das Leben als eine Gabe und Gnade Jehovas, der Amalekiter kannte das Leben nur als ein natürliches Gut. Da nun Jesus sein Leben mit jedem Athemzuge aus der Hand seines Vaters im Himmel empfängt, so ist das Grauen und Erschrecken seiner Seele vor dem Tode noch weit stärker, als bei den heiligen Sängern Israels oder vielmehr alle Worte, mit denen jene die Ströme und Stricke des Todes, die grauenvolle Oede, Leerheit und Schweigsamkeit des Grabes beschreiben, haben in der Seele Jesu ihre volle Wahrheit und Gegenwart. Dazu kommt nun noch die besondere Art und Gestalt des Todes, dem Jesus entgegengeht. Dieser Tod ist offenbar die Wirkung der Sünde der ganzen Well, welche ihre Todesfeindschaft gegen das Leben Jesu zur Ausführung bringt, und Jesus weiß und fühlt es, daß der letzte Urheber dieser Todesfeindschaft und dieser Wirkung der ist, welcher die Menschheit im Anfang verführt und auf Grund dieser Verführung die Organe der Menschheit nach seinem Willen gebraucht. Die Trennung von Gott, welche er im Tode erfahren soll, ist ihm also zugleich das Ueberlassenwerden an das Reich der widergöttlichen Gewalten. Allerdings weiß Jesus, daß auf diesem seinem lauteren Erleiden des Todes die Ueberwindung des Todes und der schließliche Sieg über den Teufel beruht, und weil er dieses weiß, so will er auch das Erleiden, aber jenes Wissen wäre ein leeres, wenn es das Gefühl des Erleidens, also die eigentliche Wahrheit desselben ausschlösse, und dieses Wollen hätte keinen Inhalt, wenn es sich nicht als die Negation eines in ihm vorhandenen Willens, auf dessen Wirklichkeit die Möglichkeit eines Leidens ruht, auswiese. Das Hervortreten dieses Gefühls und dieses anderen Willens ist eben die Eigenthümlichkeit des gegenwärtigen Momentes.

Als Jesus vor wenigen Tagen auf dem Tempelberge in der Vergegenwärtigung des ihm bevorstehenden Ausganges das Bekenntniß aussprach: „meine Seele ist erschüttert,“ legte er sich selbst die Frage vor, ob er den Vater bitten solle um Bewahrung vor der bösen Stunde. Damals drängte er diese Bitte zurück (s. Joh. 12, 27), Jesus steht unter dem Gesetz der Zeit und des Raumes, jetzt, wo er örtlich und zeitlich seinen Leiden unmittelbar nahe gerückt ist, fühlt er jene Erschütterung noch weit tiefer und heftiger, eben deshalb frägt er nicht erst, ob erden Vater bitten solle, sondern er kann gar nicht anders und thut es sofort. Im Allgemeinen hat er seinen Zustand der Gesammtheit der Jünger ausgesprochen, weiter hat er sich aufgeschlossen vor der auserlesenen Dreizahl, aber das Allerinnerste kann er auch diesen nicht sagen, das darf nur sein Vater im Himmel hören Eben weil Jesus wirklich betet, so spricht Jesus im Gebet, was er sonst nicht sagen kann. Ein solches Beten, wie es jetzt häufig vorkommt, in welchem man Dinge spricht, die man ebensogut oder noch besser den Menschen oder sich selber sagt, kennt unser Heiland nicht. Jesus trennt sich von den drei Jüngern mit dem Worte: „bleibet hier und wachet mit mir.“ Ihre unmittelbare Nähe ist ihm eine Störung seiner vertraulichen Rede mit dem himmlischen Vater, aber doch wünscht er ihre begleitende Theilnahme. Nachdem er sich einen Steinwurf weit von ihnen entfernt hat (s. Luk. 22, 42), fällt er auf sein Angesicht und betet dreimal zu seinem Vater, indem er den untersten Grund seines Herzens und seines Gefühls vor Gott laut werden läßt. Das Gefühl des Leidens ist vorhanden und droht wie eine Wasserfluth die Seele Jesu zu versenken, vorhanden ist der Wille des Nicht-Leidens, des Nicht-Sterbens, das ganze Lebens- und Freiheit-Gefühl sträubt sich gegen Gebundenheit und Tod. Diese vorhandenen Mächte drängen Jesum zu einer Bestimmung, zu einem Entschluß. Er ist aber nicht gekommen seinen Willen zu thun, sondern den Willen dessen, der ihn gesandt hat (s. Joh. 5, 30), und von keiner anderen Macht, auch nicht von seinem eigenen Selbstgefühl läßt er sich bestimmen. Während nun sonst sein Selbstwille und das Gefühl seines Selbstlebens in ruhiger und steter Unterordnung unter der Herrschaft des göttlichen Willens gehalten wird, tritt hier das Gehorchende und das Leitende momentan auseinander und das Erste erfüllt die Seele so, daß das Zweite als nicht wirkend erscheint. Aber diese Erfüllung der Seele von dem Gefühl und dem Nichtwillen des Leidens bildet keinen Act, sondern nur den Ansatz zu einem Entschlusse, zu einem Acte. Diese Spannung findet ihren vollen und reinen Ausdruck in dem ringenden Gebete Jesu. Schon dem Entschlusse des Gebetes liegt der Wille Jesu zu Grunde, daß es zu einem Acte nicht anders kommen soll als nach dem Willen des Vaters, insofern liegt auch hier die Grundrichtung des ganzen Lebens Jesu vor. Ueberall nämlich, wo ein ähnlicher Zustand im Menschenleben vorkommt, geht die Richtung in die Welt hinaus und auf diesem Wege kommt es zu einem Acte ohne Gott, hier aber erhebt sich die ganze Seele zu Gott, so daß es zu einem Acte ohne Gott nicht kommen kann. Aber eben weil das Gebet, noch ehe es redet, diesen Sinn hat, kann und muß es auch das ganze vorhandene Widerstreben als eine wirkliche Gegenwart aussprechen und diesem gegenüber sich an die unbegrenzte Macht des Vaters wenden, „nach welcher alle Dinge möglich sind“ (s. Marc. 14, 38), also auch das Vorübergehen des Leidenskelches. Aber schon in dem ersten Gebete setzt Jesus als das eigentlich Entscheidende ausdrücklich nicht die unbegrenzte Macht, sondern den Willen des Vaters, und zwar so, daß er seinen Willen dem Willen des Vaters ausgesprochenermaßen unterordnet (s. Matth. 26, 33). Damit ist das, was dem Gebete von Anfang an stillschweigend zu Grunde liegt, auch zu Worte gekommen und die Macht des Leidensgefühles und des Selbstwillens in die gehorchende Sphäre zurückgedrängt. Von dem zweiten Gebete sagt Lukas, daß es noch heftiger gewesen sei und sein Schweiß wie Blutstropfen zur Erde gefallen sei (s. 22, 44); woraus wir sehen, daß der leibliche Organismus in die Heftigkeit des Seelenkampfes hineingezogen wurde. Zugleich erhellt daraus, daß die Stärkung des Engels, welche nach Lukas auf den ersten Act des ringenden Betens folgte, nicht den Sinn hatte, ihn des Kampfes zu überheben, sondern ihn zu neuem Kampfe stärken sollte. Die steigende Heftigkeit des Ringens bewirkt einen Fortschritt in dem Gebete, wie aus dem Bericht des Matthäus deutlich erhellt. Das zweite Gebet spricht von vornherein den göttlichen Willen als das allein Bestimmende und Entscheidende aus. Als Jesus dann zum dritten Mal dasselbe Gebet sprach, war der Kampf ausgerungen und der allein entscheidende Wille des Vaters in voller Klarheit und wirksamer Kraft wiederum zum leitenden Lebensprincip erhoben und mit diesem sieghaften Entschluß kommt der Moment, der mit dem Zagen und Trauern anhebt, zu einem diesen Augenblick des Kampfes vollendenden Acte.

Mit dem Willen, den Jesus den seinen nennt und den er dem Willen des Vaters unbedingt unterwirft, ist es gerade so beschaffen, wie mit seiner Beziehung zu den Gütern, welche ihm in der Versuchung vorgehalten wurden. Dieser Wille an sich ist durchaus untadelig und unsündlich, denn Jesus hat zum Leben, zur Ehre, zur Thätigkeit und zur Freiheit durchaus kein anderes Verhalten, als welches dem menschlichen Dasein von Gott selbst vorgeschrieben ist. So steht die Sache, sobald Jesus in sich betrachtet wird. Jesus ist aber nicht in sich, sondern er ist der Christ und will als der Christ vollendet werden. Und eben weil Jesus der Christ ist, also sein individuelles Sein zu dem israelitischen und allgemein menschlichen Sein, wie es dermalen ist, zu erweitern hat, darum ist es nothwendig, daß er jenen seinen unsündlichen Willen in das Gegentheil verwandele. Israel nämlich und zuletzt das Menschengeschlecht hat zu den vier genannten Gütern, vor Allem aber zum Leben selbst eine widergöttliche Stellung. Nun hat sich immer deutlicher gezeigt, daß selbst der Sohn Gottes auf diesen tiefsten Grund aller Sünde in der Welt durch seine höchste Kraftanstrengung vergebens einwirkt und eben deshalb schließlich nichts Anderes übrig bleibt, als daß er sich in diesen Grund der Verderbniß selbst versenke, also um Israel und der Menschheit willen seinen reinen Willen des Lebens in einen Willen des Todes verwandele. Daß sich dieses nicht logisch, sondern ethisch vollziehe, wie wir es haben vor sich gehen sehen, gehört durchaus zur Geschichtlichkeit Jesu und ist ein wesentlicher Grund, warum der Apostel sagt: „Gott hat Jesum zum Herrn und Christ gemacht“ (s. Apostelg. 2, 36) und weshalb Jesus sagt: „er werde vollendet werden“ (s. Luk. 13, 32. vgl. Hebr. 2, 10. 5, 9). Ueberhaupt sehen wir in keinem Momente des Lebens Jesu so deutlich, daß hier Alles auf das wirkliche Geschehen, auf die eigentlich geschichtliche Bewegung ankommt, wie in diesem nächtlichen Kampfe in Getsemane; woraus mit Nothwendigkeit weiter folgt, daß kein Heiligthum für Alle, welche lediglich ihre Gedanken und ihre Phantasie, nicht aber ihren Willen in Bewegung setzen, so sehr verschlossen ist, wie dieses geheimnißvolle Ringen Jesu.

Sobald Jesus seinen Willen ohne Vorbehalt dem Willen des Vaters unterworfen hatte, wird es ihm durch die augenblickliche Weltgestalt vollkommen ersichtlich, daß die letzte Möglichkeit alles Wirkens in der Welt vollständig erschöpft ist. Die drei vertrautesten Jünger hat er um den Liebesdienst gebeten, mit ihm zu wachen, aber ebensowenig als sie mit offenen Sinnen der Verklärung Jesu auf dem Berge beizuwohnen vermochten, vermögen sie jetzt den schwersten Kampf der Selbstentäußerung Jesu mit wacher Theilnahme zu begleiten. Auch daß Jesus sie mit Rückbeziehung auf seine früheren Warnungen auf ihre eigene Gefahr hinweist, ändert Nichts, sie sind aus ihrer Schlaftrunkenheit, Niedergeschlagenheit und Verwirrtheit nicht herauszureißen, jedesmal wenn Jesus zu ihnen zurückkehrt, findet er sie abwesend, sie lassen ihn trotz aller Bitten und Ermahnungen in seinem nächtlichen Ringen ganz allein und beweisen nur, daß die Schwachheit ihres Fleisches weit stärker ist als die Willigkeit ihres Geistes. Darum als er sie zum dritten Mal schlafend findet und Jesus weiß, daß noch ein kleiner Augenblick bis zum Eintreffen der feindlichen Schaar übrig ist, so spricht er zu ihnen nach Marcus 14, 41: „schlafet immerhin und ruhet euch aus.“ Nicht als ein Wort des Verdrusses, wohl aber der Wehmuth müssen wir uns diese Aufforderung Jesu denken. Er spricht mit diesem Worte sein Endurtheil aus, und zwar auf Grundlage einer Arbeit und Bemühung ohne Gleichen, daß er durch sein Wirken das Menschengeschlecht, wie es dermalen ist, nicht aus seiner verderblichen Bahn hinauszusetzen vermöge. Er hat es versucht, zuerst in Jerusalem mit dem Zeichen und dem Wirken seiner königlichen Vollmacht, aber anstatt der Begeisterung fand er Zweifel, dann hat er sein Prophetenthum in Galiläa mit göttlicher Kraft und Wahrheit entfaltet, aber dem verkehrten und ehebrecherischen Geschlecht bleibt nur das Zeichen des Propheten Jona; endlich bringt er zwar Jerusalem bei seinem letzten Einzug in Begeisterung, aber es zeigt sich bald, daß die nachhaltige Feindschaft der Oberen weit mächtiger ist als der Enthusiasmus des Volkes, und somit war der Herr beschränkt auf seinen auserwählten Kreis, aber da die Dinge jetzt auf die Spitze gehen, so wiederholt sich auch hier sehr bald dieselbe Erfahrung. Zuerst reißt sich Einer aus der Zahl der Zwölf mit ruchlosem Frevel los; sodann muß er Acht an der Pforte des Gartens zurücklassen, weil er weiß, daß sie den Anblick seiner schwersten Anfechtung nicht ertragen würden, und von den übrigen Dreien kann er mit allem Bitten und Ermahnen nicht erreichen, daß sie nur eine Stunde mit ihm wachen, während er seine schwersten Leiden zu bestehen habe. Der Schmerz Jesu über die völlige Vergeblichkeit seines Wirkens an dem Menschengeschlecht vollendet ihm die Klarheit über den gegenwärtigen Augenblick. Er sieht sich völlig auf sich selbst gestellt, seine Getreuesten und Geliebtesten sind außer Stande ihn zu verstehen oder beizustehen; jetzt hat seine Liebe keine andere Aufgabe, als durch Leiden das zu erreichen, was dem Wirken unmöglich blieb. Die augenblickliche Weltlage gibt ihm das schließliche erfahrungsmäßige Verständniß über den Willen seines Vaters, der über ihn Leiden und Sterben verhängt. In dieser völligen Klarheit und Ruhe seiner Seele vollzieht er seinen letzten Act, in welchem er der Welt thatsächlich beweist, was er in einem tiefen Geheimniß inneren Erlebens errungen hat, daß er nämlich in völlig freiem Entschluß seinen Leiden entgegengeht. Nachdem er seine schlafenden Jünger bei dem dritten Mal seiner Rückkehr eine kurze Weile ihrer Ruhe überlassen hat, richtet er an seine Schaar die Aufforderung: „es ist aus, die Stunde ist gekommen, siehe überantwortet wird des Menschen Sohn in die Hände der Sünder, stehet auf, lasset uns gehen, siehe, der mich verräth, ist nahe“ (s. Marc, 14, 41. 42).

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