Arndt, Friedrich - Das Leben Jesu - Fünfte Predigt. Jesu erste Predigt zu Nazareth.

Arndt, Friedrich - Das Leben Jesu - Fünfte Predigt. Jesu erste Predigt zu Nazareth.

Text: Luc. IV., V. 16-31.
Und er kam gen Nazareth, da er erzogen war, und ging in die Schule, nach seiner Gewohnheit am Sabbathtage, und stand auf, und wollte lesen. Da ward ihm das Buch des Propheten Jesaias gereichet. Und da er das Buch herumwarf, fand er den Ort, da geschrieben stehet: Der Geist des Herrn ist bei mir, derhalben er mich gesalbet hat, und gesandt zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, und zu predigen das angenehme Jahr des Herrn. Und als er das Buch zuthat, gab er es dem Diener, und setzte sich. Und aller Augen, die in der Schule waren, sahen auf ihn. Und er fing an zu sagen zu ihnen: Heute ist diese Schrift erfüllet vor euren Ohren. Und sie gaben alle Zeugniß von ihm, und wunderten sich der holdseligen Worte, die aus seinem Munde gingen, und sprachen: Ist das nicht Josephs Sohn? Und er sprach zu ihnen: Ihr werdet freilich zu mir sagen dies Sprichwort: Arzt, hilf dir selber! denn wie große Dinge haben wir gehöret zu Kapernaum geschehen? Thue also auch hier in deinem Vaterlande. Er aber sprach: Wahrlich, ich sage euch: Kein Prophet ist angenehm in seinem Vaterlande. Aber in der Wahrheit sage ich euch: Es waren viele Witwen in Israel zu Elias Zeiten, da der Himmel verschlossen war drei Jahre und sechs Monate, da eine große Theurung war im ganzen Lande. Und zu deren keiner ward Elias gesandt, denn allein gen Sarepta der Sidonier zu einer Witwe. Und viele Aussätzige waren in Israel zu des Propheten Elisa Zeiten; und deren keiner ward gereiniget, denn allein Naeman aus Syrien. Und sie wurden voll Zorns alle, die in der Schule waren, da sie das höreten. Und standen auf, und stießen ihn zur Stadt hinaus, und führeten ihn auf einen Hügel des Berges, darauf ihre Stadt gebauet war, daß sie ihn hinab stürzeten. Aber er ging mitten durch sie hinweg und kam gegen Kapernaum in die Stadt Galiläa, und lehrete sie an den Sabbathen.

Was wir bisher von Jesu öffentlichem Auftreten vernommen haben, war ein heiteres, hoffnungsvolles Bild. Ein Erfolg war dem anderen gefolgt, Viele waren in Judäa und Samaria zum Glauben an Seinen Namen gelangt, und mit gesegneten Erfahrungen bereichert, konnte Er in Seine Heimath zurückkehren. Und siehe, auch dort, wird Er, wo Er erscheint, freudig aufgenommen. Die Kunde von der Reinigung des Tempels und den Wundern, die Er in Jerusalem am Osterfeste verrichtet, hatte sich durch die Festzüge schnell über das ganze Land verbreitet; Jesus war schon eine allgemein bekannte Person geworden, Sein Lob schwebte auf allen Lippen, Er war das stehende Tagesgespräch der Juden in allen Provinzen. So ist Er denn allüberall eine willkommene Erscheinung, und Galiläa begrüßt, als Er jetzt wieder heimkehrt, ihren Landsmann mit Empfindungen der Begeisterung und Bewunderung. Nach dreivierteljähriger Abwesenheit trifft Er wieder in Seiner Vaterstadt Nazareth ein, auf dem heimathlichen Boden, wo Er groß geworden, wo Er Seine Jugend verlebt, wo Er jeden Einzelnen kannte und jedem Einzelnen bekannt war, wo tausendfache Erinnerungen und süße Lebensbilder aus Seiner Kindheit Ihn auf Schritt und Tritt begleiteten. Da tritt Er alsbald ebenfalls öffentlich auf, geht am Sabbath in's Gotteshaus und hält Seine erste Predigt. Die erste Predigt Jesu zu Nazareth, wie inhaltreich muß sie gewesen sein, und welchen Eindruck muß sie gemacht haben?! Unser Text beantwortet beide Fragen.

I.

Bisher hatte Jesus eigentlich noch nicht gepredigt. Was uns die Evangelisten von Ihm erzählt haben, sind lauter Gespräche gewesen, die Er an den verschiedenen Orten mit den verschiedensten Personen, bald öffentlich, bald unter vier Augen, gehalten hat. In Nazareth predigte Er zum Erstenmale in der dortigen Synagoge, dem Bethause, in welchem die Einwohner am Sabbath zum Gottesdienste zusammenkamen.

In der Regel entscheidet der Anfang über den Fortgang und die Vollendung. Im ersten Werk liegt Keim und Geist aller späteren Werke. Insbesondere ist die erste Predigt, die ein Diener Gottes hält, von unendlicher Bedeutung. Keine Predigt ist so schwer, als diese: wie viele Vorbereitungen, Gebete und Seufzer gehen derselben voran! Tausendmal wird sie überdacht, erwogen, verändert, von neuem durchgegangen. Tagelang ist sie vom Morgen bis zum Abend die einzige, ausschließliche Beschäftigung. Man kann nicht sagen, daß die Stimmung, in der das Alles geschieht, eine besonders freudige ist; - eine gehobene, feierliche allerdings, aber keine freudige, vielmehr eine ängstliche und gespannte. Sie ist wie die Stimmung des Gemüths bei Sonnenaufgang. Sie ist wie die Stimmung am Lager eines Sterbenden, der den entscheidenden Schritt thut aus der Zeit in die Ewigkeit. Keine spätere Predigt nimmt so sehr das ganze Herz und Leben in Anspruch, als die erste, und es ist daher kein Wunder, wenn Manche den Wunsch geäußert haben, daß es ihnen nach der ersten Predigt doch vergönnt sein möchte, sogleich zu sterben. Das macht, die späteren Predigten geben mehr Einzelnes, die erste aber gibt das Ganze. Was man erlebt und erfahren hat, was man weiß und hat und ist, man gibt es; seinen ganzen Glauben, man spricht ihn aus; seine ganze Stellung zum Herrn und zum Leben, man offenbart sie vor der Welt, und das Alles mit einer Bewegung und Empfindung, wie sie in der Folgezeit niemals wiederkehrt. Lange hat man gezögert, den ersten, bedeutungsvollen Schritt zu thun, oft wohl von ihm gesprochen und nach ihm sich gesehnt; aber dann immer wieder gewartet, als sei man noch nicht reif und würdig genug, und als müsse erst Größeres im Gemüthe vollbracht werden. Endlich ist er da, man feiert einen Höhepunkt im Leben, wie er mit dieser Gluth der Begeisterung und Ueberwältigung niemals wiederkehrt.

Gewiß war dem Herrn auch feierlich zu Muthe, als Er am Sabbath in das Bethaus Seiner Vaterstadt trat, um Seine erste Predigt zu halten. Wie oft hatte Er diesen Ort betreten in den dreißig Jahren Seines bisherigen Lebens! Es heißt: „Er ging in die Schule nach Seiner Gewohnheit am Sabbathtage.“ Er war also jeden Sabbath im Bethause gewesen, und hätte es nicht über's Herz bringen können, auch nur einen außerhalb desselben zuzubringen. Wohin Er blickte, trafen Seine Augen auf bekannte Gesichter. Hier war Er wie zu Hanse, hier sprach Ihn Alles so gemüthlich und freundlich an. Und doch war es heute ein Anderes, als sonst. Er war nicht gekommen, um zu hören und sich erbauen zu lassen; Er war gekommen, um zu lehren und Andere zu erbauen. Er war ein Anderer, somit war auch Ort und Umgebung eine andere.

Die Sitte brachte es mit sich, daß, wenn ein Gesetzeslehrer einen Vortrag in der Synagoge halten wollte, er sich durch Aufstehen meldete; der Vorsteher ließ ihm dann das Alte Testament reichen, aus welchem er darauf die auf den Tag fallende Stelle aus dem Gesetz und den Propheten vorlas und darüber redete. Diese Sitte beobachtend, stand daher auch Jesus auf. Das Lesen geschah nämlich, aus Achtung gegen das göttliche Wort, stehend. Es ward Ihm das Buch des Propheten Jesaias gereicht: aus dem Jesaias war der Wochenabschnitt jenes Tages; wie denn auch wirklich die vorgeschriebenen Wochenabschnitte in der Zeit nach dem Laubhüttenfeste bei den Juden aus dem Propheten Jesaias genommen sind. Und, wunderbar genug, handelte die Stelle an dem Tage gerade vom verheißenen Messias. Sie lautete nämlich also: „Der Geist des Herrn ist bei mir, derhalben er mich gesalbet hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, und zu predigen das angenehme Jahr des Herrn.“ Diese Stelle war der Text, über welchen der Herr Seine erste Predigt halten wollte. Wir können uns denken, wie aufmerksam die Menge an Seinen Lippen hing! Er, der vorher nur ein Mitbürger und Handarbeiter unter ihnen gewesen war, stand jetzt in ihrer Mitte als ein Prophet des Herrn. Der dreißig Jahre hindurch die Zurückgezogenheit geliebt, war jetzt auf dem öffentlichen Schauplatz erschienen und hatte Sein langes Stillschweigen gebrochen. Auf allen Blicken war daher die Frage zu lesen: Was wird Er über diese Worte sagen? welche Deutung wird Er ihnen geben? welche Anwendung von ihnen machen? Noch nie hatte in der Synagoge zu Nazareth bei einem Gottesdienst eine solche Stille und Aufmerksamkeit geherrscht, als an diesem Tage. Lucas zeichnet uns das kurz mit den wenigen, aber gehaltreichen Worten: Und Aller Augen, die in der Schule waren, sahen auf Ihn. Und was sagt der Herr? Wie legt Er die prophetischen Worte aus? Da vom Messias die Stelle handelt, und Er der verheißene Messias ist, so kann Er sie von Niemand anders deuten, als von sich. Und Er fing an zu sagen zu ihnen: „Heute ist diese Schrift erfüllet vor euren Ohren!“ Dieser Gedanke war das Thema Seines Vortrags. Unstreitig sprach der Herr mehr als diese Worte, Er hielt ja eine ganze, wenigstens halbstündige, Predigt; Er ging sie Wort für Wort durch, Er schloß ihre Tiefen auf, wie nie ein Mensch vor Ihm gethan, wie nie Einer nach Ihm thun kann; Er zeigte, wie sie buchstäblich auf Ihn gemeint waren und wie nun die große Zeit ihrer Erfüllung gekommen sei.

In der That, Geliebte, die Worte enthalten auch das volle Evangelium von Christo. Sie schildern zunächst die Lage, in der uns der Herr Alle findet von Natur. Die Armen, die Zerstoßenen oder Verwundeten am Herzen, die Gefangenen und Unterjochten, die Blinden, wie sie der Text hintereinander nennt, sind wir, um unserer Sünde willen. Die Sünde hat uns arm gemacht an den Gütern des Himmels, an der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, an den Tugenden und guten Werken, durch welche die Gemeinschaft mit Gott sich offenbart, Die Sünde hat uns am Herzen verwundet, zerstoßen und zerschlagen; ach, und diese Wunden sind oft unheilbar, oft tödtlich, immer aber sehr schmerzlich und langwierig. Die Sünde hat uns unterjocht und gebunden, hat uns zu Gefangenen und Sklaven gemacht; denn wer Sünde thut, der ist der Sünde Knecht, und keine entehrendere Sklaverei gibt es in der Welt, als die Sünde. Die Sünde hat uns blind gemacht, so blind, daß wir unfern eigenen Schaden nicht einmal wahrnehmen und uns für gesund halten, während wir sterbenskrank sind, aber auch den Arzt nicht sehen, noch sehen wollen, der uns allein heilen kann. Welche traurige, herzzerreißende Lage, in der wir uns von Natur befinden! Denkt euch: arm, verwundet, gefangen, blind zugleich, - welche Kette von Elend! Eins allein wäre schon genug, um zu verzweifeln; und nun Alles zusammengenommen! - Dem Armen kann gewiß nichts Angenehmeres verkündigt werden, als: deine Armuth hat ein Ende, freue dich, deine Schulden sind bezahlt, für deine Zukunft ist gesorgt, laß fahren deine Sorgen und Kümmernisse. Dem Verwundeten kann kein willkommneres Geschenk gemacht werden, als lindernder, heilender Balsam. Für den Gefangenen, der Jahre lang Sonne und Sterne nicht gesehen und von seinen Ketten wund gedrückt ist, gibt es keinen erwünschteren Boten, als der ihm die sichere Nachricht bringt: Du sollst frei fein, dein Kerkerthor ist offen, gehe hinaus! Dem Blinden kann keine Wohlthat größer sein, als wenn ihm das Augenlicht wieder gegeben wird. - Diese größte aller Wohlthaten hat uns aber Christus vom Himmel auf die Erde gebracht. Er hat es thun können; denn der Geist des Herrn war bei Ihm, der Herr selbst hatte Ihn gesalbt und gesandt, mit unmittelbaren, himmlischen Kräften war Er erschienen. Und Er hat es wirklich gethan. Die Armen sind durch Ihn unermeßlich reich geworden, sie sind Herren geworden über Leib und Seele, über Welt, Sünde und Tod, über Himmel, und Erde; Alles ist ihrer, sie aber sind Christi, und Christus ist Gottes. Die Verwundeten sind durch Ihn geheilt und wiederhergestellt worden, die Sünden sind ihnen vergeben, ihre Seele ist genesen, ihr Gewissen beruhigt, sie sind bei Gott in Gnaden, und es ist nichts Verdammliches mehr an denen, die in Christo Jesu sind. Die Gefangenen sind frei geworden, die Banden ihres inwendigen Menschen hat Er zerrissen mit Seines Geistes Kraft und in ihnen einen neuen Sinn und Willen gewirkt, der Sein eigener heiliger Wille ist und doch auch der ihrige; es ist kein saures Müssen mehr, Ihm zu folgen in Heiligkeit und Gerechtigkeit, sondern ein fröhliches Wollen, das nun erst von Herzensgrund gehet, in dem sie sich frei und selig fühlen; denn welche der Sohn frei macht, die sind recht frei. Und die Blinden sind durch Ihn wunderbar erleuchtet, und sehen die Sonne der Geister und in ihrem Lichte überall Licht. Kurz, das angenehme Jahr des Herrn, das wahre, allgemeine Jubel- und Erlaßjahr der Menschheit ist mit Ihm angebrochen. - Mit Recht konnte der Herr die prophetischen Worte auf sich und Seine Erlösung deuten; mit Recht erklären: Heute ist diese Schrift erfüllet vor eueren Ohren, heute ist der erste Tag des angebrochenen, großen Freijahres für Nazareth!

Aber wie wunderbar, daß gerade an dem Tage die seit Jahrhunderten vorgeschriebene Schriftstelle von Ihm handelte und von Seiner Bestimmung, von der neuen, lang ersehnten Zeit, der Jubelzeit der Welt, die mit Seiner Erscheinung anheben sollte! Wie herrlich und köstlich, daß Jesus Seine Laufbahn nicht mit dem Gesetz eröffnet, wie das alte Testament, sondern mit der Verkündigung des Heils und der Gnade Gottes, mit lauter holdseligen, lieblichen Worten, wie sie für Arme und Verwundete, Gefangene und Blinde Bedürfniß waren! Und wie freundlich mag Er ausgesehen haben, der liebliche Herr, als Er in so lockenden Worten zu Nazareth redete! Von Seinem freundlichen Wesen hatten Ihm ja die dortigen, besser gesinnten Einwohner den Namen der Freundlichkeit gegeben, und es hieß sprichwörtlich, wenn man zu Ihm gehen wollte: Laßt uns zur Freundlichkeit gehen. Wie herzgewinnend mußte der Anblick Seiner Person die Kraft Seiner Worte unterstützen! Pflegen wir sonst zu sagen: wie der Mann, so die Predigt - so stimmte hier in einem Grade, wie sonst nirgends, Mann und Predigt, Person und Wort überein. O die beneidenswerthen Zuhörer in der Synagoge zu Nazareth, die das sehen und hören konnten!

II.

Gewiß wird der Eindruck ein gewaltiger gewesen sein, kein Auge wird da haben trocken, kein Herz wird da haben kalt und empfindungslos bleiben können, Jahre lang noch wird Nazareth von dieser Predigt haben sprechen müssen, auf dem Sterbebette noch werden Hunderte in diesen Worten Trost und Kraft gefunden haben. Der Eindruck war in der That auch ein mächtiger; denn sie gaben Alle Zeugniß von Ihm, und wunderten sich der holdseligen Worte, die aus Seinem Munde gingen. Sie konnten die Richtigkeit der Auslegung nicht in Abrede stellen, sie staunten und verwunderten sich über die schöne Darstellung der Gnade Gottes. Aber lange währte diese erste, flüchtige Aufwallung der Bewunderung nicht, sie währte kaum so lange, als Er redete. Bald gewann ihre böse Natur, Neid und Stolz, in ihnen wieder die Oberhand. Sie hatten Jesum in der Hütte eines gemeinen Handwerkers aufwachsen sehen, und ärgerten sich daher in ihrer neidischen Gesinnung, daß dieser Zimmermannssohn größere Gaben der Rede besitze, als sie, die sie doch zum Theil viel reicher und vornehmer waren, als Er. Sie hatten von den Wundern gehört, die Er anderswo verrichtet, und ärgerten sich nun in ihrem kleinstädtischen, bettelhaften Stolze, daß Er nicht vor Allem Seine Vaterstadt Nazareth durch Seine Thaten berühmt gemacht habe.

Sie erstickten durch ihren Neid und Stolz bald wieder alle guten Eindrücke, welche anfänglich Jesu liebliche Worte in ihnen hervorgerufen hatten; ja, suchten ein Aergerniß, um einen Vorwand zu haben, sich der gehörten Wahrheit zu entziehen. Spottend und höhnisch fragten sie: Ist das nicht Josephs Sohn? Des Zimmermanns Sohn? Wie kann der so Großes von sich aussagen? - Sonderbare Frage! Ist denn Weisheit, Gottesfurcht, Schrifterkenntniß, Rednergabe nur Eigenthum eines besonderen Standes, Besitz nur einer privilegierten Zunft? Hat nicht Gott von der messianischen Zeit verheißen: sie solle alle von Gott gelehrt sein? Hatte Er nicht Seine Propheten im alten Bunde aus allen Ständen, dem Fürsten-, Priester- und Hirtenstande berufen, den Elisa vom Pfluge, den Amos von den Herden? Hieß es nicht (Spr. 2,3-7.): „So du mit Fleiß nach der Weisheit rufest und darum betest, so du sie suchest wie Silber, und forschest sie, wie die Schätze, alsdann wirst du die Furcht des Herrn vernehmen und Gottes Erkenntniß finden. Denn der Herr gibt Weisheit, und aus Seinem Munde kommt Erkenntniß und Verstand. Er läßt's den Aufrichtigen gelingen und beschirmet die Frommen.“ Aber wenn der Mensch einmal nicht hören und glauben will, dann findet Er alsbald Entschuldigungen und Vorwände überall, dann ist der Prediger bald zu mild und bald zu scharf, bald zu kurz und bald zu lang, bald zu vornehm und bald zu gering, bald der Inhalt, bald der Vortrag seiner Rede nicht recht und ansprechend.

Jesus hörte ihre Aeußerungen, sah ihre Gedanken, und antwortete „Wohl laßt ihr mich aus eurem Benehmen merken, als sagtet ihr zu mir: Arzt, hilf dir selber, befreie dich erst selbst von der Niedrigkeit deiner Familienverhältnisse; denn du bist auch nur so Einer, wie mancher Arzt, der Anderen helfen will und für sich und sein Haus nichts kann; denn wie große Dinge haben wir gehöret zu Kapernaum geschehen, thue auch also hier in deinem Vaterlande; ich aber sage euch: Wahrlich, kein Prophet ist angenehm in seinem Vaterland.“ Es ist einmal also die Thorheit der Menschen, daß sie das begaffen und bewundern, was in der Ferne liegt und aus der Ferne kommt, das aber übersehen und verachten, was ihnen nahe liegt. Nazareths Bewohner machten's auch so. Der Grund war, weil sie in Jesu nur immer den Menschen sahen und nicht den Propheten Gottes; das, worin Jesus ihnen gleich war, und nicht das, worin Er sich von ihnen unterschied. Bei solcher Gesinnung hätte Jesus noch so viel Zeichen thun können, sie würden doch Seinen Thaten ebenso wenig geglaubt haben, als Seinen Worten, sie hätten sich immer wieder an Seiner äußeren, niedrigen Erscheinung gestoßen, immer nur wieder den Zimmermannssohn gesehen, und nichts Anderes. Zur Bekräftigung der ausgesprochenen Wahrheit führt Jesus dann noch zwei Beispiele aus der früheren israelitischen Geschichte an, wo es gerade ebenso gegangen; das eine von Elias, der im Reiche Israel auch keinen Glauben finden konnte, wohl aber in Sarepta bei einer heidnischen Witwe, deren Sohn er nachher auch von den Todten auferweckte; das andere von Elisa, der unter den vielen Aussätzigen im Lande Keinen heilte, wohl aber den heidnischen Hauptmann Naeman aus Syrien. Gott ist einmal an keinen Ort und an keine Person gebunden. Wollen Ihn die Juden nicht, wandert Er zu den Heiden. Wollen Ihn die Hausgenossen nicht, sucht Er die Fremden auf. Hören wir Protestanten nicht, hören wir insbesondere in der Hauptstadt des evangelischen Festlandes nicht, so baut Er Seinen Tempel in Afrika. Keiner hat von Natur ein Anrecht an die göttlichen Liebeserweisungen, das er geltend machen könnte; sie sind alle nur Gnade und göttliches Erbarmen. „Die Predigt des Evangelii“, sagt Luther, „ist wie ein fahrender Platzregen, der dahin läuft; was er trifft, das trifft er; was fehlet, das fehlet; er kommt aber nicht wieder, bleibt auch nicht stehen, sondern die Sonne und Hitze kommt hernach und leckt ihn auf. Das gibt auch die Erfahrung, daß an keinem Orte der Welt das Evangelium lauter und rein geblieben über eines Mannes Gedenken, sondern so lange die geblieben sind, die es aufgebracht haben, ist es gestanden und hat zugenommen; wenn dieselben dahin waren, so war das Licht auch dahin; folgten sobald darauf Rottengeister und falsche Lehrer.“ Daran schließt er dann die kräftige Ermahnung: „Lieben Brüder, kauft, dieweil der Markt vor der Thür ist; sammelt ein, weil es scheinet und gut Wetter ist. Brauchet Gottes Gnade und Wort, weil es da ist. Es ist bei den Juden gewesen, aber hin ist hin, sie haben nun nichts. Paulus brachte es in Griechenland, aber hin ist hin, nun haben sie den Türken. Rom und Italien hat es auch gehabt, hin ist hin, sie haben nun den Pabst. Und ihr Deutschen dürft nicht denken, daß ihr es ewig haben werdet, denn der Undank und die Betrachtung wird es nicht lassen bleiben.“ - Die Einwohner von Nazareth hatten also kein Recht, zu fordern, daß Jesus an ihrem Orte die größten Heils- und Wunderwerke thun sollte; sie mußten es sich gefallen lassen, so behandelt zu werden, wie es der Herr für gut fand. Wo Er Glauben sah, verrichtete Er Wunder; wo man Ihn aber verachtete, konnte Er keine Wunder thun, um ihres Unglaubens willen. Gerade ihr Trotz auf ihr vermeintliches Vorrecht machte sie unwürdig und unfähig der göttlichen Gnade, ja, verlustig des Heils und wandte es den Heiden zu. Was Jesus prophetisch hier andeutete, erfüllte sich später in der Wirklichkeit: das Reich Gottes wurde den Juden genommen und den Heiden gegeben, daß sie seine Früchte brächten. - Dennoch, obgleich der Herr diesen Erfolg vorher wußte, hörte Er nicht auf, unter den verlorenen Schafen Israels fort und fort das Evangelium zu verkündigen, als ob der günstige Erfolg gar nicht zweifelhaft wäre und als ob Er lauter heilsbegierige Herzen vor sich hätte. In der Ewigkeit werden wir erst ganz ermessen können die Größe der Selbstüberwindungen und Kämpfe, welche der Herr fortwährend hienieden zu bestehen hatte, und die göttlichen Siege, die Er in diesen Kämpfen davontrug.

Kaum hatte der Herr den Leuten zu Nazareth die Wahrheit gesagt, da geriethen Alle, die in der Versammlung waren, in Wuth. Ihr Neid und Stolz stieg aufs Höchste. Was? dachten sie, mit dem heidnischen Weibe zu Sarepta, mit dem aussätzigen Naeman wagt Er uns zu vergleichen? Uns, die rechtgläubigen Juden, stellt Er unter die Heiden, unter die Leute in Sidon und Syrien? Nein, das konnten sie nicht ertragen. Statt sie zu erleuchten, hatte das Licht der Wahrheit sie geblendet. Statt sich zu demüthigen und über ihre Gesinnung Buße zu thun, fühlten sie sich erbittert. Religionseifer mußte ihrem Neid und Stolz den Anstrich von Rechtmäßigkeit geben. Ihn wie einen falschen Propheten behandelnd, erheben sie sich Alle in wildem Getümmel gegen Ihn und stoßen Ihn aus der Synagoge hinaus, stoßen, treiben Ihn aus der Stadt hinaus, stoßen und treiben Ihn immer weiter bis auf die steile Spitze des Berges, an dem die Stadt gebaut ist, um Ihn da hinabzustürzen und Ihn, wo möglich, auch aus dem Leben hinauszustoßen und zutreiben„1). Das war der Enderfolg Seiner ersten Predigt. So schmählich mußte sich der Herr in Seiner Vaterstadt behandeln lassen! Ach, und das war ein Bild von dem Erfolge, der Ihm bald überall im ganzen Lande, ja auf der ganzen Erde, bevorstand. „Er kam in Sein Eigenthum; aber die Seinen nahmen Ihn nicht auf,“ sagt Johannes. Wie lange hast du deinen Herrn warten lassen vor der Thür deines Herzens, ehe du Ihm aufgethan? und wer weiß, wenn nicht besonders schwere Umstände dringender und zwingender Art in deinem Leben eingetreten wären, ob du heute an Ihn glauben würdest? Wie oft hast du Ihn ausgestoßen aus deinem Herzen, und es nicht zu Seinem Tempel geheiligt, Ihm darin keinen Altar aufgebaut! Wie oft hast Du Ihn ausgestoßen aus deinem Hause: an jedem Morgen, wo du ohne Gebet an's Tagewerk gingest, an jedem Mittag, wo du ohne Preis und Dank Speise und Trank aus Seiner gnädigen Hand annahmst, an jedem Abend, wo du ohne Aufblick zu Ihm dich niederlegtest, in jeder Stunde, wo du Ihn nicht bekanntest, Ihn vielmehr verläugnetest, den Geist der Hölle aufnahmst und dem Geiste Jesu Christi die Thüren verschlössest, hast du Ihn aus deinem Hause hinausgetrieben! Wie oft hast du Ihn, besonders im letzten Jahre, hinausgestoßen aus deiner Stadt und deinem Vaterlande, und hast den Sabbath nicht, wie Er, in heiliger, seliger Gewohnheit geheiligt, hast statt der Bibel die Zeitung gelesen, statt der Kirche die Volksvereine besucht, statt dem Herrn das Regiment zu geben, es den Kindern des Abgrundes eingeräumt, den Staat aus einem christlichen in einen heidnischen verwandelt! Auf Seinen Namen bist du getauft, Seine Wohlthaten genießest du alle Tage, deine ganze Bildung und Sitte hast du Ihm zu verdanken; und nun muß Er es hören aus deinem Munde, aus dem Munde von Hunderttausenden in unseren Tagen: Ich kenne des Menschen nicht!

Recht sehr waren aber Nazareths Einwohner zu bedauern, einerseits wegen der Heftigkeit ihrer Leidenschaften, mit der sie, die den Sohn Gottes morden wollten, dennoch sich einbildeten, besser zu sein als die Witwe zu Sarepta und als Naeman der Syrer, weil diese Heiden, sie aber rechtgläubige Juden waren; zu bedauern andererseits wegen der Folgen, welche ihre Feindschaft für sie selbst hatte. Jesu konnten sie nämlich keinen Schaden thun. Bis an den Rand des Abgrundes ließ Er sich ruhig fortführen; da aber stand Er plötzlich still, wandte sich um, und ging, innerlich unerschüttert und äußerlich von Gott geschützt, wehrlos und unschuldig wie ein Kind, und erhaben und furchtbar wie ein Engel, und mit einer Würde und Ruhe, daß sie wider Willen vor Ehrfurcht und Erstaunen wie versteinert dastanden, rechts und links Ihm unwillkürlich Platz machten, mitten durch sie hindurch und ließ sie betäubt auf der Spitze des Felsens stehen. Sich selber bereiteten sie den größten und alleinigen Schaden; denn in Folge dieser Ausweisung verließ nun Jesus die undankbare Vaterstadt für immer, und verlegte Seinen Wohnsitz fortan in eine andere Stadt Galiläas, in die an dem reizenden Ufer des Sees Genezareth gelegene Stadt Kapernaum, welche seitdem Seine Stadt heißt. (Matth. 9,1.) Hier lebte Er lange in Sicherheit und Achtung bei dem Volke, hier verrichtete Er die meisten Seiner Thaten, hier fand Er am meisten Jünger und Anhänger, die Er, besonders zur Winterzeit, hier unterrichtete, von hier aus unternahm Er Seine Wanderungen nach Galiläa und Seine Festreisen nach Jerusalem. Durch das Alles ward Kapernaum wirklich das, was ihr Name besagt, eine Stätte des Trostes und des Friedens. Auch Maria verließ später einen Ort, der so feindlich sich gegen ihren Sohn betragen hatte und vielleicht auch ihr nun zu leiden gab. Ach, wenn Jesus ein Herz, ein Haus, eine Stadt, ein Land verläßt: dann verläßt alles Gute dasselbige, jede gute Zucht und Sitte, jede Ordnung und Heilighaltung des Gesetzes, jeder Gehorsam und jeder Segen! Und was behalten wir dann übrig? Nur uns selbst, d. h. unsere Sünde und unser Elend. Wer Jesu schaden will, schadet sich selbst! So ging es Nazareth, so ist es theilweise uns schon gegangen: möge durch fortgesetzte Verläugnung und Verstoßung des Herrn es uns nicht noch ärger gehen!

Hilf uns, Herr, dann ist uns geholfen; dann haben wir Dich gefunden und in Dir unser besseres Selbst wieder, das verlorne göttliche Ebenbild, die Herrlichkeit des Paradieses. Wer seine Seel' zu finden meint, wird sie ohn' Dich verlieren; wer sie in Dir verlieren scheint, wird sie in Gott einführen. Wer nicht sein Kreuz nimmt und folgt Dir, ist Dein nicht werth und Deiner Zier. Amen.

1)
Noch heute wird den Fremden etwa eine halbe Meile von Nazareth eine über die Ebene Esdrälon hervorragende Felsklippe als der Berg des Herabstürzens gezeigt; jener Felsabhang ist über dem ersten Absatz 80 und bis auf den Grund gegen 300 Fuß hoch, und liegt auf dem Wege nach Samarien, woher der Herr eben gekommen war.
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