Anselm von Canterbury – Buch der Betrachtungen - Erste Betrachtung. Über die Würde und das Elend des menschlichen Zustandes.

Anselm von Canterbury – Buch der Betrachtungen - Erste Betrachtung. Über die Würde und das Elend des menschlichen Zustandes.

I. Dass wir nach Gottes Bild und Ähnlichkeit erschaffen worden.

Wache auf, meine Seele, wache auf; beschäftige deinen Geist, erwecke das Gefühl, treibe aus die Trägheit tödlichen Stumpfsinns, greif zur Bekümmernis um dein Heil. Hinweg mit dem Umherschweifen unnützer Gedanken, zurück mit der Trägheit, herbei mit der Sorgfalt. Verlege dich auf heilige Betrachtungen, hänge dich an göttliche Güter, habe Bedacht auf das Ewige, verlasse das Zeitliche. Was wirst du nun Nützlicheres, was Heilsameres bei so göttlicher Geistesbeschäftigung denken können, als die unermesslichen Wohltaten des Schöpfers mit süßestem Nachdenken überlegen? Erwäge nun gleich beim Beginn der Schöpfung, welche Erhabenheit, welche Würde er dir erteilt hat; und überdenke, mit welcher Hochachtung er zu verehren ist. Nachdem er bei der Schöpfung und Einteilung aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge die Erschaffung der menschlichen Natur festgesetzt hatte, ging er gewiss über die Würde deiner Beschaffenheit mit höchster Klugheit zu Werke, beschloss er ja, sie zu höherer Ehre zu bringen als die übrigen Geschöpfe, die in der Welt sind. Siehe also die Erhabenheit deiner Erschaffung und denke an die Schuldigkeit der Liebesvergeltung. Lasst uns (sprach Gott) den Menschen nach unserem Bild und unserer Ähnlichkeit machen (1. B. Mos. 1,26). Was soll ich sagen, wenn du bei diesem Ausspruch deines Schöpfers nicht aufwachst, wenn du bei so unaussprechlicher Güte, womit er dich gewürdigt hat, nicht ganz in Liebe zu ihm entbrennst, wenn du im Innersten nicht zur Sehnsucht nach ihm entflammt wirst? Soll ich dich für schlafend oder vielmehr für tot ansehen? Erwäge also sorgfältig, was es heißt, du seiest nach Gottes Bild und Ähnlichkeit erschaffen. Du hast hiermit ein süßes Unterpfand frommer Betrachtung, um dein Nachdenken daran zu üben. Erkenne nun, dass zwischen Ähnlichkeit und Bild ein Unterschied ist: z. B. ein Pferd, ein Ochse und die übrigen ähnlichen Geschöpfe können eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Menschen haben; das Bild des Menschen aber hat nur wieder ein Mensch. Es kaut der Mensch, auch das Pferd kaut: siehe, eine gewisse Ähnlichkeit und Gemeinschaft unter verschiedenen Naturen! Das Bild des Menschen stellt sich aber nur wieder im Menschen von eben der Natur, dessen Bild er ist, dar. Das Bild ist also würdiger als die Ähnlichkeit. Wir werden daher eine Ähnlichkeit mit Gott auf diese Art haben können, dass wir erwägen, wie er gut ist, uns aber deshalb befleißen, gut zu sein; dass wir erkennen, wie er gerecht ist, und uns deshalb bemühen, gerecht zu sein; dass wir betrachten, wie er barmherzig ist, und uns deshalb Mühe geben, barmherzig zu sein. Wie aber nach seinem Bild? Merke auf. Gott gedenkt stets seiner, versteht sich, liebt sich. Somit wirst auch du nach seinem Bild sein, wenn du nach deinen schwachen Kräften unermüdet Gottes eingedenk bist, Gott verstehst, Gott liebst; weil du das zu tun bemüht bist, was Gott stets tut. Sein ganzes Leben muss der Mensch darauf richten, dass er das höchste Gut im Gedächtnis behält und versteht und liebt: darauf muss jeder Gedanke, jeder Herzschlag bezogen, geschärft, gerichtet werden, dass du mit unermüdlicher Hingabe Gottes eingedenk bist, Gott verstehst, Gott liebst, und die Würde deiner Schöpfung, wodurch du zum Bild Gottes geschaffen bist, heilsam an den Tag legst. Was sage ich, du seist nach dem Bild Gottes geschaffen, da nach dem Zeugnisse des Apostels du Gottes Bild selbst bist? Der Mann, sagt der Apostel, soll sein Haupt nicht verhüllen, da er Gottes Bild und Herrlichkeit ist (1 Kor. 11,7).

II. Dass wir dazu erschaffen worden, dass wir Gott unaufhörlich loben.

Reichen diese so unermesslichen Wohltaten des Schöpfers bei dir nicht hin zu beständiger Danksagung und unausgesetzter pflichtschuldiger Liebe, wenn du in Betracht ziehst, dass du aus dem Nichts oder vielmehr aus dem Kot durch seine Güte zu so großer Erhabenheit schon beim Beginn der Schöpfung erhöht worden bist? Wende also einen Ausspruch der Heiligen auf dein Leben an, und merke, was über einen Heiligen gesagt wird. Worin besteht nun das Lob des Heiligen? Aus seinem ganzen Herzen lobte er den Herrn. Siehe, wozu du erschaffen bist, siehe, was du als Diener zu tun hast. Würde dich denn Gott durch eine so herrlich bevorzugte Erschaffung erhöhen, wenn er nicht wollte, dass du unaufhörlich seinem Lob obliegen solltest? Zum Lob deines Schöpfers also bist du erschaffen, damit du in der Hingabe an sein Lob sowohl hier stets näher zu ihm durch das Verdienst der Gerechtigkeit gelangen als auch jenseits glücklich leben möchtest. Denn sein Lob erteilt hier sowohl Gerechtigkeit als auch dort Seligkeit. Wenn du aber lobst, so lobe aus ganzem Herzen, so lobe durch Lieben. Denn das ist die Vorschrift, die sich die Heiligen beim Loben vorsetzen: Aus seinem ganzen Herzen lobte er den Herrn, und liebte den Gott, der ihn erschuf (Eccl. 47,10). Lobe also, und lobe von ganzem Herzen und liebe, den du lobst; denn dazu bist du erschaffen, dass du lobst und liebst. Denn der, welchem Glücksumstände schön tun, dass er Gott preist, den aber das Unglück vom Geschäfte des Preisens abbringt, lobt, aber er lobt nicht von ganzem Herzen. Auch der, welcher beim Lob Gottes nach etwas anderem als nach ihm durch sein Lob trachtet, lobt, aber er liebt nicht. Lobe also, und lobe würdig, dass keine Sorge in dir, kein Streben, kein Gedanke, keine Geistesbekümmernis, soweit es in deiner Kraft steht, ohne Lob Gottes sei. Von seinem Lobe soll dich kein Glück dieses Lebens abbringen, keine Widerwärtigkeit abhalten. Denn so wirst du von ganzem Herzen den Herrn loben. Wirst du ihn aber von ganzem Herzen loben, und in Liebe loben, so wirst du von ihm nichts Anderes als ihn selbst begehren, dass er selbst das Endziel deiner Sehnsucht ist, er der Lohn der Mühe, er der Trost dieses dunkeln Lebens, er der Besitz jenes seligen Lebens. Dazu also bist du erschaffen, dass du ihn ohne Ende lobest: und das wirst du fürwahr dann vollkommener einsehen, wenn du zu seiner seligen Anschauung erhoben durch seine alleinige und unverdiente Güte sehen wirst, wie du, als du nicht warst, aus dem Nichts so selig und zu so unaussprechlicher Seligkeit erschaffen, berufen, gerechtfertigt, verherrlicht worden bist. Denn solche Betrachtung wird dir die unermüdliche Liebe verleihen, ihn ohne Ende zu loben, aus dem, und durch den, und in dem du dich freuen wirst, beseligt durch so große und so unwandelbare Güter.

III. Dass wir, wo immer wir sind, in ihm leben, uns bewegen, und sind, während wir ihn in uns haben.

Aber nach jener künftigen Glückseligkeit wirf einen kurzen Blick auch auf die Größe der Gnade, womit er dich auch in diesem flüchtigen Leben bereichert hat. Er selbst, der in den Himmeln wohnt, der über die Engel herrscht, vor dem Himmel und Erde samt Allem, was darin ist, sich neigen, überließ sich dir zur Wohnung, hielt seine Gegenwart für dich bereit: wie denn der Apostel Paulus lehrt: in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir (Apstlg. 17,28). Süßes Leben, liebenswürdige Bewegung, erwünschtes Sein! Denn was gibt es Süßeres, als das Leben in dem zu haben, der seliges Leben selber ist? Was gibt es Liebenswürdigeres, als jede Bewegung unseres Wollens oder Tuns auf den und in dem zu richten, der uns in beständiger Festigkeit erhalten mag? Was gibt es Wünschenswerteres, als durch Wunsch und Unterhaltung beständig in dem zu sein, in welchem allein oder vielmehr der allein das wahre Sein ist, ohne den es Niemanden wohl sein kann? Ich, sagt er, bin der ich bin (2. B. Ms. 3,14). Wie schön! Denn er ist es wahrhaft allein, der unwandelbares Sein hat. Er also, dessen Sein so ausgezeichnet, so einzig ist, dass es allein in Wahrheit ist; mit dem verglichen alles Sein Nichts ist, wo solltest du nach seiner Bestimmung sein, als er dich zu einer Erhabenheit erschuf, dass du die Herrlichkeit deiner Würde nicht einmal zu begreifen vermagst? O welchen Aufenthaltsort bereitete er dir? Vernimm, was er selbst im Evangelium sagt: Bleibet in mir, und ich in euch (Joh. 15, 4). O unschätzbare Herablassung, o selige Wohnung, o herrlicher Tausch! Welche Herablassung des Schöpfers, dass er will, dass sein Geschöpf in ihm wohne! Welch' unbegreifliche Seligkeit des Geschöpfs, in seinem Schöpfer zu bleiben! Welch' große Verherrlichung des vernünftigen Geschöpfes ist es, durch so glücklichen Tausch sich mit dem Schöpfer zu einigen, dass er in ihm, und es in ihm seine Wohnung behält! Nach seinem barmherzigen Willen sollen also wir, die so herrlich Erschaffenen, in ihm bleiben; er, der über Allem, wie der Lenker von Allem, ohne Kümmernis existiert; Alles, als Grundlage von Allem, ohne Mühe trägt; Alles, wie der Allervortrefflichste, ohne Stolz überragt; Alles, als der, der gleichsam Alles enthält, ohne Weitläufigkeit umfasst; Alles, wie er die Fülle von Allem ist, ohne in sich beengt zu werden, ergänzt. Der also erwählte sich in uns ein ergötzliches Reich, während er überall ist, wie das Evangelium zeigt, wo es heißt: Das Reich Gottes ist innerhalb euch (Luk. 17,21). Aber wenn das Reich Gottes innerhalb uns ist und Gott in seinem Reich wohnt, bleibt er nicht selbst in uns, da sein Reich innerhalb uns ist? Allerdings: denn wenn Gott die Weisheit ist, und die Seele des Gerechten der Sitz der Weisheit ist; so hat der, der wahrhaft gerecht ist, Gott bleibend in sich. Denn der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr (1. Kor. 3,17), sagt der Apostel. Auch du verlege dich also mit unermüdlichem Eifer auf die Heiligkeit, damit du nicht aufhörst, ein Tempel Gottes zu sein. Er selbst sagt von den Seinigen: Ich will unter ihnen wohnen und wandeln (2. Kor. 6,16). Und du sollst nicht zweifeln, dass, wo immer heilige Seelen sind, er bei ihnen ist. Denn wenn auch du in allen Gliedern, die du belebst, überall ganz bist; wie vielmehr ist Gott überall ganz, der dich und den Körper erschaffen hat? Äußerst sorgfältig ist also zu erwägen, mit welch' großer Vernunft und Ehrfurcht wir unsere Sinne und die Glieder unseres Leibes bewegen müssen, da die Gottheit selbst den Vorsitz über sie führt. Geben wir also, wie es würdig ist, einem so großen Inwohner alle Herrschaft über unser Herz, dass nichts in uns ihm widerstrebt; sondern alle Gedanken und Willensäußerungen, alle Worte und unsere sämtlichen Werke seines Winkes gewärtig sind, seinem Willen dienen, nach seiner geraden Richtschnur gestellt werden. Denn so werden wir in Wahrheit sein Reich sein, und er in uns bleiben, wie wir in ihm und dadurch glücklich leben werden.

IV. Dass wir Alle, die wir auf Christum getauft worden, Christum angezogen haben.

Ermuntere dich doch, meine Seele, dass das Feuer der Liebe von Oben in deinem Inneren entbrenne, und um die dir von dem Herrn deinem Gott erteilte Schönheit klug zu begreifen, so begreife und liebe, liebe und verehre mit dem Gehorsam eines heiligen Wandels. Kleidet, schmückt und ziert nicht der, der dir eine Wohnung in sich selbst gegeben, und sich gewürdigt hat, in dir zu wohnen, dich mit sich selbst? So viel von euch, sagt der Apostel, auf Christus getauft sind, haben Christum angezogen (Gal. 3,27). Welches Lob nun, welche Danksagung willst du dem in würdiger Weise geben, der dich mit so großer Schönheit gekleidet, mit so großer Ehre erhöht hat, dass du mit fröhlichstem Herzensjubel sprechen kannst: Der Herr hat mich bekleidet mit dem Gewand des Heils, mit dem Kleid der Freude hat er mich umgeben? (Ps. 61,10.) Der Engel Gottes höchste Freude ist es, Christum zu betrachten und siehe, mit höchster Herablassung von seiner Seite neigt er sich so tief zu dir herab, dass er dich mit sich selbst bekleiden will. Mit welch' anderem Kleid, als worüber der Apostel sich mit den Worten rühmt: Christus ist uns von Gott zur Weisheit und Gerechtigkeit und Heiligung gemacht? (1. Kor. 1,30.) Mit welchem Kleiderschmuck könnte er dich mehr zieren, als dass er dich glänzend im Gewand der Weisheit, im Schmuck der Gerechtigkeit, in der Schönheit der Genugtuung darstellte?

V. Dass wir Christi Leib sind.

Und was soll ich sagen, dass Christus sich für dich zum Kleid machte, da er sich so sehr einigte, dass du nach seinem Willen in der Einheit der Kirche von seinem Fleisch sein sollst? Höre, wie der Apostel das Schriftzeugnis erklärt: Und es werden zwei in einem Fleisch sein. Ich aber, sagt er, meine damit Christus und die Kirche (Eph. 5, 32). Überdies betrachte auch, wie innig er sich mit dir verbunden hat. Der Apostel bestätigt es, du seiest der Leib Christi: Ihr seid, sagt er, der Leib Christi, Glieder von Gliedern (1. Kor. 12, 27). Wahre also Leib und Glieder mit gebührender Würde, damit du nicht, wenn du sie mit beliebiger Neigung zum Leichtsinn schmählich behandelst, du um so härterer Strafe unterworfen wirst, wenn du sie unwürdig missbrauchst, je größer der Lohn für ihre würdige Behandlung gewesen wäre, mit dem man dich krönen würde. Deine Augen sind Christi Augen. Du darfst also die Augen Christi nicht auf den Anblick irgend einer Eitelkeit richten, weil Christus die Wahrheit ist, von der alle Eitelkeit das Gegenteil ist. Dein Mund ist Christi Mund. Du sollst, ich sage nicht zu Verkleinerungen, ich sage nicht zu Lügen, sondern auch nicht zu müßigen Reden den Mund öffnen, der dir nur für das Lob Gottes und die Erbauung des Nächsten aufgehen soll. So denke von den übrigen deiner Obhut anvertrauten Gliedern Christi.

VI. Dass wir Eins in Christo sind, und wir mit ihm ein Christus sind.

Aber dringe noch tiefer zu der Erkenntnis, wie innig du mit ihm verbunden bist. Höre den Herrn selbst für die Seinigen zum Vater flehen. Ich will, sagt er, dass wie ich und du Eins sind, so auch diese in uns Eins sind (Joh. 17,21). Ich bin dein Sohn von Natur; auch jene mögen deine Söhne und meine Brüder durch die Gnade sein. Welche Erhabenheit ist es, dass es ein Christenmensch soweit in Christo bringt, dass auch er selbst gewissermaßen Christus heißt! Daran dachte jener wahrhaft treue Verwalter der Kirchenfamilie, der gesagt hat: Wir Christen alle sind in Christo ein Christus; und kein Wunder, da er das Haupt ist, und wir sein Leib; er der Bräutigam, er die Braut; Bräutigam in sich, Braut in heiligen Seelen, die er durch das Band ewiger Liebe mit sich verbunden hat. Wie einem Bräutigame, heißt es, setzte er mir eine Kopfbinde auf, und wie eine Braut zierte er mich mit Schmuck. Hier also, meine Seele, hier also überdenke seine Wohltaten, entbrenne in seiner Liebe, entzünde dich zur Sehnsucht nach seiner seligen Anschauung. Rufe also laut mit jener liebevollen Zuneigung voll Feuer und ganz in Sehnsucht nach ihm aufgelöst, brich aus in das Wort der treuen Braut: Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes (Hoh. 1,1). Jede Ergötzung, die außer ihm ist, weiche von meiner Seele; keine Zuneigung zum gegenwärtigen Leben, kein Trost schmeichle mir, so lange mir seine selige Gegenwart versagt ist. Er umfasse mich mit den Armen der Liebe, er küsse mich mit dem Munde jener Lieblichkeit von Oben, er rede mit mir mit jenem unaussprechlichen Gespräch, womit er den Engeln seine Geheimnisse offenbart. Das vertrete die Stelle des Wechselgesprächs zwischen Bräutigam und Braut, dass ich ihm mein ganzes Herz eröffne, und er mir die Geheimnisse seiner Süßigkeiten enthülle. Von diesen und ähnlichen Betrachtungen nun belebt, strebe, Seele, voll heiliger Liebesneigung, deinem Bräutigam nachzufolgen, und sprich zu ihm: Ziehe mich dir nach, so werden wir laufen zum Wohlgeruche deiner Salben (Hoh. 1,3). Aber sage es, und sag es treulich, nicht mit vorübergehendem Schall, sondern mit unermüdlicher Sehnsucht. Sprich so, dass man dich hört; wünsche so, angezogen zu werden, dass du nachfolgen kannst. Sag also zu deinem Erlöser und Heiland: Ziehe mich dir nach. Nicht die Süßigkeit der Welt ziehe mich, sondern die Lieblichkeit deiner seligsten Liebe. Einst zog mich meine Eitelkeit; nun aber ziehe mich ganz nach sich deine Wahrheit. Ziehe, weil du gezogen hast; behalte, weil du ergriffen hast. Du hast durch Erlösung gezogen, ziehe durch Rettung. Du hast gezogen durch Erbarmen, ziehe durch Beseligung. Du hast ergriffen durch deine Erscheinung unter den Menschen, als du für uns Mensch geworden, behalte durch deinen Vorsitz im Himmel, da du über die Engel erhöht bist. Es ist dein Wort, deine Verheißung. Du verhießest mit den Worten: Und ich, wenn ich von der Erde erhöht sein werde, will Alles mir selbst nachziehen (Joh. 12,32). Ziehe nun, bereits in deiner mächtigen Erhöhung, den du zu dir in deiner barmherzigen Erniedrigung gezogen hast. Du stiegst auf, möchte ich es fühlen; du herrschst über Alles, möchte ich es erkennen. Erkenne ich es denn nicht, dass du herrscht? sicher erkenne ich es und sage Dank. Aber ich möchte mit vollkommener Liebe erkennen, was im frommen Gefühle von dir ich erkenne. Ich möchte durch Sehen erkennen, was ich durch Glauben anerkenne. Binde an dich mit unauflöslichen Liebesbanden die Wünsche meines Herzens, wo bei dir die Erstlinge meines Geistes sind. Es einige uns die Einigkeit der Liebe, da uns die Liebe der Erlösung verknüpft hat. Denn du hast mich geliebt, hast dich selbst für mich hingegeben. Nach dir im Himmel stehe also mein beständiges Verlangen, mit mir auf Erden sei beständig dein Schutz. Hilf dem, der von sehnsuchtsvoller Liebe zu dir brennt, der du den Verachtenden geliebt hast. Gib dem Suchenden, der du dich dem nicht Kennenden gegeben hast. Nimm auf den Rückkehrenden, der du den Fliehenden zurückgerufen hast. Ich möchte lieben, um geliebt zu werden; ja, weil ich geliebt werde, möchte ich mehr und mehr lieben, um mehr geliebt zu werden. All mein Denken sei nur bei dir, mein einziges und besonderes Streben sei nach dir, wo mit dir unser von dir barmherzig angenommenes Wesen bereits selig herrscht. Anhängen möchte ich dir untrennbar, dich anbeten unermüdlich, unausgesetzt dir dienen, dich treulich suchen, dich glücklich finden, dich ewigen besitzen. Mit solchen Reden, o meine Seele, rede Gott an und entzünde dich dadurch, komme in Flammen, entbrenne und strebe danach, ganz feurig in Sehnsucht nach ihm zu werden.

VII. Vorhalt unserer Sünden, über die wir die meisten Gewissensbisse haben, durch die wir das Alles eingebüßt haben.

Erwägst du aber, wie weit und zu wie großen Gütern du es durch seine Gnade gebracht hast, so halte dir auch vor, was und welch große Güter du durch deine Schuld eingebüßt hast, und in welches Böse schuldbelastet du gestürzt bist. Löse unter Ächzen das Böse auf, das du boshaft verübt hast; und denke seufzend an das Gute zurück, das du wegen eben desselben Bösen jämmerlich verloren hast. Denn welches Gut hat dir dein vortrefflichster Schöpfer durch seine Güte nicht verliehen? Und mit welchem Bösen hast du ihm nicht vergolten, mit einem Leben voll fluchwürdiger Bosheit? Das Gute büßtest du ein, das Böse gewannst du; ja das Gute warfst du weg, das Böse lasest du auf; und nach dem Verluste oder vielmehr dem Wegwerfen der Gnade des Schöpfers kamst du jämmerlich unter seinen Zorn. Du kannst mit nichts deine Unschuld beweisen, da dich dein Böses haufenweise wie ein unermessliches Heer umgibt, von der einen Seite die Schande böser Werke vorhaltend; von der anderen Seite die unermessliche Menge unnützer, und was noch verdammenswerter ist, verderbensvoller Worte vorführend; von einer dritten Seite die unendliche Last böser Gedanken aufzeigend. Das ist es, weshalb du unschätzbare Güter eingebüßt hast; deshalb warst du ohne des Schöpfers Gnade. Daran denke unter Seufzen zurück, seufze, indem du ihm entsagst, entsage, indem du verdammst; verdamme, indem du dein Leben besserst. Ringe mit dir in deiner Seele, um nicht von nun an auch nur einen Augenblick irgend einer Eitelkeit, sei es mit dem Herzen, oder mit der Zunge, oder, was das am meisten Verdammenswerte ist, tatsächlich Beifall zu geben. Ein täglicher, ja ein beständiger Streit sei in deiner Seele, um entfernt nicht mehr mit Fehlern ein Bündnis zu halten. Genau prüfe dich selbst beständig, durchforsche das Innerste, und was immer Verwerfliches du in dir findest, das vernichte mit strenger Ahndung, wirf zu Boden, zertritt, reiß aus, entwurzle, wirf weg und vernichte es gänzlich. Schone deiner nicht, schmeichle dir nicht, sondern am frühen Morgen, das heißt bei der Betrachtung des letzten Gerichts, welches auf die Nacht des gegenwärtigen Lebens wie das Morgenlicht folgt, töte alle Sünder der Erde, das heißt, die Vergehungen und Sünden irdischen Umgangs, um aus der Stadt Gottes, die du in dir selbst erbauen sollst, alle zu verderben, die Bosheit verüben, das ist die teuflischen Eingebungen, die Gott verhassten Vergnügungen, todbringende Zustimmungen und verkehrte Werke. Von all diesem musst du als Stadt Gottes gereinigt werden, damit der Schöpfer in dir eine ihm wohlgefällige Wohnung finde, behalte, besitze. Gehöre nicht zu jenen, deren Hartnäckigkeit Gott selbst zu beklagen scheint, mit den Worten: Niemand ist, der es zu Herzen nehmen, und sprechen mag: Was tat ich? (Ps. 57,1.) Wenn jene dafür verworfen werden, dass sie über ehemaliges Böses nicht erröten und sich strafen wollten, wirst du es unterlassen, dich selbst zu verklagen, zu richten und mit strenger Buße zu bessern, um zur Zahl der Auserwählten zu gelangen? Denke also fleißig zurück an die unermesslichen Wohltaten des Schöpfers, mit denen er dich ohne irgend ein Verdienst von deiner Seite erhöht hat, und rufe dir ins Gedächtnis zurück das unzählige Böse, womit deine Bosheit die unwürdige Erwiderung auf eben desselben Wohltaten gegeben hat, und rufe unter Erweckung eines großen Schmerzens: Was habe ich getan? Gott habe ich erbittert, meinen Schöpfer habe ich zum Zorn herausgefordert, seine unendliche Wohltaten mit unzähligem Bösen vergolten. Was habe ich getan? Aber indem du so sprichst, zermalme schmerzlich dein Herz, lass Seufzern den Lauf, vergieße Tränen. Denn wenn du hier nicht beweinst, wann wirst du beweinen? Wenn dich Gott mit seinem von dir abgewendeten Angesicht, woran deine Sünden Schuld sind, nicht zur Zerknirschung anregt, so mag deine Härte wenigstens das Entsetzliche der Höllenstrafen brechen, das eben deine Sünden über dich herausgefordert haben. Kehre also, kehre ein, Sünderin, in dein Herz und ziehe den Fuß von der Hölle zurück, um dem verdienten Bösen zu entgehen und das verlorene Gute, dessen du mit Recht beraubt bist, wieder erwerben zu können. Denn wenn du auf dein Böses zurückblicken magst, so hast du alles Gute, das er dir verliehen hat, eingebüßt. Du musst also beständig darauf und hauptsächlich auf das, worüber dich das Gewissen am schwersten anklagt, den Blick zurückwerfen, damit jener seinen Blick wegwende. Denn wenn du den Blick auf deine Sünden mit einer der Genugtuung würdigen Absicht wendest, so wendet er von ihnen den Blick der Rache weg. Vergisst du, so erinnert er sich.

VIII. Die Betrachtung der Menschwerdung des Herrn, durch die wir das Alles wieder gewonnen haben.

Um also hievon befreit zu werden, richte deine Aufmerksamkeit auf deines Erlösers Erbarmungen gegen dich. Du warst ja blind durch die Schuld der Erbsünde, konntest die Erhabenheit deines Schöpfers nicht sehen. In Wolken von Sünden eingehüllt strebtest du ins Dunkle, und eiltest zur ewigen Finsternis, getrieben von reißenden Lasterfluten. Und siehe dein Erlöser legte auf deine erblindete Augen die Salbe seiner Menschwerdung, damit du, die du Gott im Glanze seiner verborgenen Majestät nicht sehen konntest, Gott im Menschen erscheinen sehen, durch Sehen erkennen, durch Erkennen lieben, in Liebe mit höchstem Eifer zu seiner Herrlichkeit zu gelangen streben möchtest. Er ward Mensch, um dich zum Geistlichen zurückzurufen. Er ward Genosse deiner Wandelbarkeit, um dich zum Genossen seiner Unwandelbarkeit zu machen. Er ließ sich zu deiner Niedrigkeit herab, um dich zu seiner Höhe zu erheben. Von der unversehrten Jungfrau ward er geboren, um die verdorbene Sündennatur zu heilen. Er ward beschnitten, um den Menschen zu lehren, wie er alle überflüssige Sünden und Fehler von sich wegschneiden müsse. Er ward im Tempel aufgeopfert, und von der heiligen Witwe auf die Arme genommen, um seine Gläubigen daran zu mahnen, das Haus Gottes fleißig zu besuchen, und sich würdig zu machen, ihn aufzunehmen mittels des eifrigen Strebens nach Heiligkeit. Von dem greisen Simeon ward er auf die Arme genommen und gepriesen, um an den Tag zu legen, wie er ein würdevolles Leben und rechtschaffenes Betragen liebe. Er ward getauft, um die Geheimnisse unserer Taufe zu heiligen. Als er im Jordan unter der Hand des Johannes zur Taufe sich neigte, vernahm er die Stimme seines Vaters und empfing den heiligen Geist in einer Taube, um uns zu zeigen, wie wir in Geistesdemut (das bedeutet der Jordan: denn, Jordan heißt so viel als ihr Hinabsteigen) beharren sollen, und dabei mit dem Zuspruch des Vaters von Oben beehrt, von dem es heißt, seine Unterhaltung finde mit den Einfältigen statt (Spr. 3,32), und durch die Gegenwart des Heiligen Geistes erhoben werden, der auf den Demütigen ruht. Und zwar unter der Hand des Johannes, der Gottes Gnade heißt; damit wir alles, was wir von Gott bekommen, eben dieser Gnade, nicht unsern Verdiensten zuschreiben möchten. Indem er nach Vollendung eines vierzigtägigen Fastens den Teufel mit seinen Versuchungen überwand, ward er durch den Dienst der Engel verherrlicht, und belehrt uns, wie wir die ganze Zeit des gegenwärtigen Lebens die Ergötzlichkeiten zeitlicher Dinge vermeiden und dadurch die Welt mit ihrem Fürsten unter unsere Füße treten und uns so mit dem Schutz der Engel wahren lassen sollen. Als Reich Gottes verweilt er unter Predigen am Tage beim Volk, und erbaut die zusammenströmende Menge durch Wunder und Worte; Nachts besucht er einen Berg und liegt dem Gebet ob, indem er uns die Mahnung gibt, zu schicklicher Zeit bald den Nächsten, unter denen wir leben, durch Wort und Beispiele nach unserer schwachen Kraft das Leben zu zeigen; bald durch Eingehen in die Geisteseinsamkeit und Besteigung des Berges der Tugenden nach der Süßigkeit himmlischer Betrachtung zu trachten, und unser Streben mit unermüdlicher Zuneigung nach Oben zu richten. Auf einem Berg wird er vor Petrus und Jakob und Johannes verklärt, womit er uns nahe legt, dass wenn wir wie Petrus (was anerkennend bedeutet) unsere Schwachheit demütig anzuerkennen, wenn wir Laster zu-Fall-bringer (so heißt Jakobus) zu werden, wenn wir Gottes Gnade uns treulich zu unterwerfen uns bemühen, wir zur Anschauung der Herrlichkeit Jesu jenen himmlischen Berg glücklich besteigen werden, wobei eben dieser unser König unser Führer ist. In Bethanien (was Haus des Gehorsams bedeutet) erweckte er den Lazarus, womit er anzeigt, dass Alle, welche im Eifer des guten Willens für diese Welt sterben und im Schoß des Gehorsams ruhen, zum ewigen Leben von ihm auferweckt werden werden. Im geheimnisvollen Abendmahl gab er seinen Leib und sein Blut seinen Jüngern und wusch ihnen demütig die Füße, wodurch er die Lehre gab, die heiligen Dienstverrichtungen seien durch reine Werke und fromme Geistesdemut zu feiern. Um durch die Herrlichkeit heiliger Auferstehung erhöht zu werden, ließ er sich den Hohn der Ungläubigen, harte Worte, die Schmach des Kreuzes, die Bitterkeit der Galle und zuletzt den Tod gefallen, wodurch er die Seinigen ermahnt, dass die, welche nach dem Tod zur Herrlichkeit zu gelangen bemüht sind, Not und Mühe des gegenwärtigen Lebens und die Bedrückungen der Bösen nicht bloß mit Gelassenheit ertragen, sondern alles Harte dieser Welt um der ewigen Belohnungen willen lieben, wünschen und mit Freude auf sich nehmen sollen. Wenn du dich nun bemühst, diese so vortreffliche, so unermessliche Wohltaten deines Schöpfers gegen dich würdig zu bedenken, andächtig zu erfassen, mit brennender Liebe nachzuahmen; so wirst du nicht bloß die durch die ersten Eltern verlorenen Güter wieder erwerben, sondern noch weit herrlichere durch die unaussprechliche Gnade deines Heilandes ewig besitzen. Denn er selbst, dein Gott, durch das Geheimnis der Menschwerdung dein Bruder geworden, welch' unnennbare Freude mag er dir vermittelt haben, indem du eine Natur über jedes Geschöpf erhaben in ihm erblickst.

IX. Dass man beten müsse, um aus dem See von Elend gerissen zu werden und aus dem Kot der Unreinigkeit.

Was bleibt nun noch übrig, als dass du das Alles würdig erwägst und auf alle Weise den Geist für die Erbschaft so großer Güter befeuerst, und den, der dich zu einem andern Besitztum erschaffen hat, mit unausgesetztem Flehen angehest, dass er dich aus dem See des Elends und dem Kot der Unreinigkeit entreiße und dich in den Besitz so großer Seligkeit setze? Was ist aber der See des Elends anders als die Tiefe der Weltlust? Und was anders ist der Kot der Unreinigkeit als der Gestank fleischlichen Vergnügens? Denn das sind die zwei Hacken, durch die das menschliche Geschlecht durch beweinenswerte Not verhindert wird, dass es nicht zur seligen Freiheit himmlischer Anschauung gelangt, Begierlichkeit nämlich und Wollust. Denn in Wahrheit ist Weltlust ein See des Elends, welche den Geist, den sie ihrer Herrschaft unterwirft, durch unzählige Gelüste, wie durch eine Art von Banden in den Abgrund der Laster zieht, und ihm durchaus keine Ruhe mehr gestattet. Denn der Geist des Menschen ergießt sich unter dem Joch der Lust durch die Liebe zu sichtbaren Dingen außer sich, und wird durch die verschiedenen Leidenschaften der Seele gerissen. Es verwüsten ihn die Mühe beim Erwerben, die Bangigkeit beim Vermehren, die Freude beim Besitzen, die Furcht vor Verlust, der Schmerz beim Verlust, und lassen ihn durchaus nicht sehen, in welch' großen Gefahren er sich befinde. Das ist der See des Elends, den Weltlust unaufhörlich mit so großem Übel anfüllt. Über die Errettung aus diesem See wünschte der selige David sich Glück, als er mit Dank sprach und sagte: Er hat mich herausgeführt aus dem See des Elends und dem Kot der Unreinigkeit (Ps. 39,3). Was ist der Kot der Unreinigkeit? Die Freude an unreinem Vergnügen. Rufe also kräftig mit dem seligen David aus und sag zu deinem Schöpfer: Reiß mich aus dem Kot, dass ich nicht stecken bleibe (Pf. 68, 15). Reinige dein Herz von jeder Befleckung fleischlicher Lust, verschließe deine Seele unreinen Gedanken, wenn du diesem schmutzen Kot zu entrinnen wünschest. Wenn du aber durch Buße, Bekenntnis, Weinen, und eifrige Beschäftigung deines Herzens mit heiligen Gedanken entronnen bist, so werde nicht mehr rückfällig, sondern seufze von ganzem Herzen vor Gott, flehe `seine Barmherzigkeit an, dass er deine Füße auf einen Felsen stelle, das heißt, die Anmutungen deines Herzens durch die Kraft Christi befestige, dass sich dein Sinn auf die Feste der Gerechtigkeit stelle mit standhafter Anhänglichkeit an Christus, von dem es heißt, er sei für uns gemacht von Gott zur Weisheit, und Gerechtigkeit, und Heiligung (1. Kor. 1,30). Bete auch, dass er deine Schritte lenke, dass sie sich nicht zu den Lastern zurückwenden; sondern in den himmlischen Geboten mit unbeugsamer Beharrlichkeit vorwärts kommen, und zum seligen Vaterland der Engel mit aller Anstrengung eilen. Aber erhoben durch solche Richtung sei nicht träge im Lobe des Schöpfers; sondern flehe seine Güte an, er möchte ein neues Lied in deinen Mund legen, damit du mit würdiger Hingabe das Fleisch unserm Gott absingest. Denn es ist würdig, dass du mittels eines neuen Lebens mit Gott verbunden ein neues Lied zu seinem Preise ertönen lässt, mit Verachtung des Zeitlichen, mit alleinigem Verlangen nach dem Ewigen; und nun nicht mehr aus Furcht vor der Strafe, sondern aus Liebe zur Gerechtigkeit dem göttlichen Gesetz folgsam. Das heißt nämlich Gott ein neues Lied singen, die Bestrebungen des alten Menschen vernichten, und auf den Pfaden des neuen Menschen, die der Sohn Gottes der Welt gezeigt hat, mit allem Herzensbemühen aus alleiniger Sehnsucht nach dem unvergänglichen Leben einhergehen. Auch der singt ein neues Lied ab, der jene Freuden des himmlischen Vaterlandes im Gedächtnis seines reinen Geistes behält, und eben dahin zu gelangen ängstlich bemüht ist, unterstützt durch das Bewusstsein eines heiligen Lebens und mit der Hilfe der Gnade von Oben.

X. Die Erwägung der Jämmerlichkeiten dieses Lebens.

Indessen erwäge aber die Jämmerlichkeiten des gegenwärtigen Lebens und überlege mit wachsamem Herzen, wie vorsichtig du in demselben leben musst. Bedenke, dass du zu jenem Gelichter gehörst, von welchem die Schrift sagt: Dem Mann, dessen Weg verborgen ist, und den Gott mit Finsternis umgeben hat (Job. 3,23). Denn wenn du nicht weißt, wie Gott deine Werke wägt, und nicht weißt, was für ein Ende du nehmen wirst, so bist du wahrlich in tiefe Unwissenheitsblindheit eingehüllt. Der Mensch, sagt Salomo, weiß nicht, ob er des Hasses oder der Liebe würdig ist, sondern alles Ungewisse wird auf das Ende aufbewahrt (Eccle. 9, 1.). Stelle dir vor, du sehest ein tiefes Tal, voll Finsternis, mit aller Art von Folterwerkzeugen in seiner Tiefe. Denke dir eine Brücke darüber, in weitem Bogen ausgespannt, in der Breite nur das Maß eines Fußes haltend. Müsste nun irgend Jemand über diese so schmale, so hohe, so gefahrvolle Brücke gehen, würden ihm die Augen verbunden, dass er keinen Schritt sähe; würden die Hände ihm auf den Rücken gebunden, dass er nicht einmal mit einem Stab seinen Weg berühren und regieren könnte, welche Furcht, oder welche Bangigkeit meinst du würde er in seiner Seele tragen? Gäbe es für ihn irgend eine Stelle der Freude, der Annehmlichkeit oder der Ausgelassenheit? Ich meine nicht. Da würde aller Stolz aufhören, eitler Ruhm schwinden, nur des Todes finstere Nacht im Geist sich aufhalten. Denke dir noch Ungeheuer von grausamen Vögeln, die um die Brücke herum fliegen, und den Hinübergehenden in die Tiefe zu ziehen wünschen, wird das die Furcht nicht vermehren? Wie wenn beim Hinübergehen einem beständig die Bretter unter den Füßen weggezogen werden möchten? Wird das dem Hinübergehenden nicht größere Bekümmernis einjagen?

Aber erkenne, was ein Beispiel der Art sagen will, und erfülle deinen Geist bekümmert mit der Furcht vor Gott. Unter dem tiefen und finsteren Tal verstehe die Hölle, die unermesslich tiefe und schauerlich finstere von dickem Dunkel. Dort findet sich jede Art von Foltern. Dort fehlt es an jeder Beruhigung; dagegen ist Alles vorhanden, was schreckt und quält, und Angst einjagen kann. Die gefahrvolle Brücke, von welcher der, der unglücklich über sie schreitet, herabstürzt, ist das gegenwärtige Leben, in welchem der, der schlimm lebt, herabfällt und zur Hölle stürzt. Die Bretter, die hinter den Hinübergehenden weggezogen werden, sind die einzelnen Tage unseres Lebens, die so vorübergehen, dass sie niemals zurückkehren, sondern indem ihrer immer weniger werden, uns zum Ende drängen und gewaltsam mit Eile zum Ziel treiben. Die um die Brücke fliegenden und den Hinübergehenden nachstellenden Vögel sind die bösen Geister, die einzig darauf bedacht sind, die Menschen von der Bahn des rechten Weges herabzuwerfen und in die Tiefe der Hölle zu stürzen. Wir selbst sind die Hinübergehenden, blind vor Unwissenheitsfinsternis und durch das Hindernis im guten Handeln wie von einer schweren Kette gebunden, so dass wir die Schritte heiligen Lebens nicht frei zu Gott richten können. Habe nun acht, ob du nicht angelegentlichst in solcher Gefahr zu deinem Schöpfer schreien solltest, um unter seinem Schutz unter dem Haufen von Widersachern zuversichtlich zu singen: Der Herr ist mein Licht und mein Heil, vor wem soll ich mich fürchten? (Ps. 29,1.) Licht hilft nämlich für die Blindheit; Heil für die Schwierigkeit. Denn das sind die zwei Übel, in die unser Stammvater uns stürzte, Unwissenheit und Schwierigkeit, so dass wir weder sehen, wohin wir streben, noch was zu tun ist; und wenn wir auch einigermaßen sehen, so verhindert uns die Schwierigkeit an der Erfüllung selbst dessen, was wir richtig erkennen. Das überlege, meine Seele, das bedenke; daran übe sich täglich dein Geist. Darauf bedacht entferne er sich von den Sorgen und Gedanken an unnütze Dinge, und entzünde sich ganz mit dem Feuer heiliger Furcht und seliger Liebe, um diesen Übeln zu entrinnen und die ewigen Güter zu erfassen.

XI. Vom Leibe nach dem Weggang der Seele.

Zu dir kehre ich nun zurück, süßester Schöpfer und gütigster Erlöser, mein Bildner und Umbildner, demütiger deine Liebe anflehend, dass du mein Herz mit lebendiger Furcht und heilsamem Schrecken betrachten lehrst, in welch garstigem und traurigem Zustand mein Fleisch nach dem Tod, weil getrennt von dem Geist, der es jetzt belebt, der Fäulnis und den Würmern zum Fraß überlassen wird. Hat es irgend eine Schönheit, worauf es stolz ist, wo wird sie dann sein; ihre ausgesuchten Ergötzlichkeiten, von denen sie jetzt überfließt; die weichlichen Glieder? Wird dann an ihr nicht wahrhaft in Erfüllung gehen jener prophetische Ausspruch: Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Herrlichkeit wie die Blume des Grases? (Jes. 40,6.) Die Augen werden sich schließen zurückgewandt nach dem Inneren des Hauptes, an deren eitlem und verderblichem Umherschweifen ich mich oft ergötzte. Sie werden daliegen von schrecklicher Finsternis überzogen, deren Freude es jetzt ist, statt des Lichtes Eitelkeit einzusaugen. Die Ohren werden offen stehen, um alsbald von Würmern angefüllt zu werden, die jetzt die Stimmen der Verkleinerung und weltliches Geräusche mit verdammenswertem Wohlbehagen aufnehmen. Die Zähne, jämmerlich geschlossen, die Fressgier lockert, werden zusammengepresst sein. In Fäulnis wird die Nase übergehen, die sich jetzt an mannigfachen Wohlgerüchen ergötzt. Von garstigem Schmutz werden die Lippen starren, die so oft ihre Freude daran hatten, im törichten Lachen sich zu öffnen. Vom Verwesungseiter wird die Zunge gebunden sein, die so oft leere Fabeln vortrug. Verengt wird die Kehle sein und der Bauch mit Würmern gesättigt werden, welche so häufig von verschiedenen Leckerbissen ausgedehnt worden. Wozu soll ich des Einzelnen erwähnen? Jene ganze Leibesverfassung, für dessen Gesundheit, für dessen Bequemlichkeit, für dessen Vergnügen beinahe ausschließlich man sorgt und wacht, wird sich in Fäulnis, Würmer, zulegt in den schlechtesten Staub auflösen. Wo ist der aufrechtstehende Nacken? Wo prahlerische Reden, Kleiderschmuck, mannigfaltige Leckereien? Wie ein Traum sind sie verschwunden. Alles ging dahin, um nicht zurückzukehren, und verließ seinen Liebhaber im größten Elende.

XII. Von der Seele nach ihrer Trennung vom Körper.

Guter Gott, was schaue ich doch! Siehe es überkommt mich Furcht über Furcht, Schmerz über Schmerz. Wird die Seele nach ihrer Trennung vom Körper nicht von einer Menge ihr begegnender Dämonen, die Klagen auf Klagen gegen sie häufen werden, sich umgeben sehen, und über alles bis auf die geringste Nachlässigkeit ausgeforscht werden? Kommen wird der Fürst dieser Welt mit seinen Trabanten rasend vor Wut, schlau zum Betrug, fertig zu Lügen, boshaft zum Anklagen, Alles mögliche Wahre aus dem begangenen Bösen wider sie vorbringend, vieles Falsche erdichtend. O furchtbare Stunde, o schreckliche Prüfung! Hier der strenge Richter zum Richten; dort Widersacher voll Begierde zum Anklagen. Allein ohne Tröster wird die Seele stehen, allein daraus Trost schöpfend, wenn sie das Bewusstsein guter Werke verteidigt. Aber in so großer Verlegenheit, wo Alles in seiner Nacktheit erscheinen wird, wer kann sich rühmen ein reines Herz zu haben? Wenn kaum der Gerechte Rettung finden wird, wo wird der Sünder und Gottlose sich sehen lassen? (1 Ptr. 4,18.)

Dann wird es mit dem Rühmen vorüber sein, keine Schmeichlerzunge sich vernehmen lassen, von eitlem Ruhm es sich zeigen, wie er verführerisch gewesen. Fliehen wird törichte Freude, vertrieben eitler Prunk der Würden, sehen wird man, wie der Ehrgeiz voll Betrug gewesen. Selig jene Seele, die bei solcher Not Schutz im Bewusstsein der Unschuld, Verteidigung in der Erinnerung der Heiligkeit findet; wenn sie, so lange sie noch im Fleisch war, das Wasser frommer Zerknirschung zum Öfteren abgewaschen, fleißige Beichte geziert, Nachdenken über das heilige Gesetz erleuchtet. hat; wenn sie Demut sanft, Geduld ruhig, Gehorsam frei vom Eigenwillen gemacht und die Liebe eifrig zur Vollbringung jeder Tugend gemacht hat. Eine so beschaffene Seele wird sich vor jener furchtbaren Stunde nicht fürchten, noch wird sie zu Schanden werden, wenn sie mit ihren Feinden im Tore reden wird (Ps. 126,6). Denn sie wird denen beigesellt werden, von welchen die Schrift sagt: Wenn er seinen Lieblingen Schlaf gibt, siehe so ist es ein Erbteil des Herrn (Ps. 126,4.).

XIII. Erwägung des Gerichtstages, wo die Böcke zur Linken gestellt werden werden.

Wer vermöchte nun aber etwas vorzubringen über den Schrecken jenes letzten Gerichts, wo die Schafe zur Rechten, die Böcke zur Linken gestellt werden werden? Welch ein Schrecken wird stattfinden, wo die Himmelskräfte erschüttert werden werden? Welche Verwirrung der Dinge, welches Seufzen, welches Geschrei der Heulenden, wenn jenes furchtbare Wort denen, die sich nicht darum bekümmerten, entgegengeschleudert werden wird: Hinweg von mir, Verfluchte, ins ewige Feuer! (Matth. 25,41.) Wahrlich ein Tag des Zorns jener Tag, ein Tag der Trübsal und Bedrängnis, ein neblicher sturmvoller Tag, ein Tag der Posaune und Trompete. Wahrlich wird dann das Wort des Tages ein bitteres, der Starke dort in Bedrängnis kommen. Denn wer stolzen Geistes den Willen Gottes verachtet, und jetzt sich der Vollführung des eigenen Willens rühmt, den wird alsdann beständiges Feuer einhüllen, das niemals erlöschen wird, und ein Wurm an ihm nagen, der nicht sterben wird, und der Rauch ihrer Qualen wird in alle Ewigkeit aufsteigen.

XIV. Erwägung der Freude, wo die Schafe zur Rechten gestellt werden werden.

Während aber diese trauern und vor Geistesbangigkeit schreckliches Herzensgebrüll ausstoßen, welche Freude und Wonne meinst du werden jene Seligen haben, die zur Rechten Gottes gestellt jenes glückseligste Wort vernehmen werden, womit man zu ihnen sagen wird: kommt, Gesegnete meines Vaters, nehmt das Reich in Besitz, das euch seit dem Ursprung der Welt bereitet ist? (Matth. 25,34.) Dann wird in Wahrheit die Stimme der Wonne und des Heils im Zelt der Gerechten weilen. Dann wird der Herr das Haupt der Demütigen erheben, die es jetzt nicht verschmähen, ihm zu lieb gering und verworfen zu sein. Er wird die Herzenszerknirschten heilen und mit beständigen Freuden die trösten, die auf dieser Pilgerschaft aus Sehnsucht nach ihm trauern. Der unaussprechliche Lohn derer wird an den Tag kommen, die sich freuen werden, aus Liebe zu ihrem Schöpfer den eigenen Willen verworfen zu haben. An jenem Tag wird die Häupter der Gehorsamen eine Krone umgeben und die Herrlichkeit der Geduldigen wird in unbesprechlichem Glanze leuchten. Dort wird die Liebe ihre Streiter mit der Gesellschaft der Engel bereichern und die Herzensreinheit ihre Liebhaber mit der glückseligsten Anschauung des Schöpfers beseligen. Dann wird sich Gott allen seinen Lieblingen zeigen, und mit ewiger Ruhe auf immer erhöhen. Dann wird in Wahrheit von allen Auserwählten gesungen werden: Selig, die in deinem Hause wohnen, Herr, von Ewigkeit zu Ewigkeit werden sie dich loben (Ps. 83,3). Möge der uns in Gnaden dieses Lobes teilhaftig machen, der mit dem Vater und heiligen Geist als Gott lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

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