Ahlfeld, Friedrich - Das Alter des Christen - VI. Die Gefahren des Alters.

Ahlfeld, Friedrich - Das Alter des Christen - VI. Die Gefahren des Alters.

Das Alter ist ehrlich nicht das, das lange lebt und viele Jahre hat; Klugheit unter den Menschen ist das rechte graue Haar, und ein unbeflecktes Leben ist das rechte Alter (Weish. Sal. Cap. 4, V. 8 u. 9).

Das ist ein schlechter Bettler, der, wenn er sechs Tage durch das Land gegangen ist, am Sonnabend Nichts nach Hause bringt als einen leeren Sack. Und das ist ein schlechter Christ, der aus der ganzen Wanderung durch's Leben für den Feierabend, für den Sabbatsteil Nichts mitgebracht hat als ein leeres Herz. Er ist schlimmer daran, als jener Bettler. Mit dem leeren Sacke kann es seine Richtigkeit haben, der kann leer sein; das Herz aber kann nicht leer sein. Sind keine Schätze für das ewige Leben darin so sind Schalen, Sand, Schutt und Staub und Dornen und Disteln darin. Siehe ja zu, was du in deinem Herzbündlein hast, ehe es dir Gott in deiner letzten Stunde vor die Füße schüttelt! Dann kannst du nichts Neues mehr in dasselbe hineinsammeln. Wie das Sterben nicht hinreicht, um selig zu werden, so reicht auch das Alter nicht hin, um sterben zu können.

Es gibt ein gottseliges und ein gottloses Alter. Weiße Haare tun es lange noch nicht, die bekommt ein alter Wolf auch. Und ein anderes Sprüchwort sagt: „Das Alter ändert am Wolf Nichts als die Haare.“ Und noch eins lautet: „Alter schützt vor Torheit nicht.“ Welches sind denn die Fallstricke, in denen sich die Seele der Alten am Häufigsten verwickelt? Voran steht kalte Selbstsucht. Die Liebe, die, aus Gott geboren, doch ewig jung bleiben soll, ist in Vielen erkaltet. Sie selbst wollen den Mittelpunkt ausmachen, um den sich Alles drehet. Alles soll so geschehen, wie sie es gerade haben wollen. Mit Eigensinn bestehen sie auf kleinern oder größern Wünschen. Und diesem Eigensinne fehlt es noch dazu oft an Einheit und Charakter; heute wollen sie es so und morgen wieder anders haben. Das ist eben Eigensinn, dass man seinen Willen ausgeführt sehen will, obgleich man selber nicht recht weiß, was man will. So sitzen sie oft in der Familie wie Kranke, von denen man nicht weiß, wie man sie anfassen soll. Alles tut ihnen weh, und sie klagen nur zu oft über Undank und Rücksichtslosigkeit. Sie sprechen es wohl aus, dass sie den Ihren eine Last seien. Und gerade mit solchem Aussprechen malt man erst den Teufel an die Wand. Die Kinder wagen es, undankbar und rücksichtslos zu werden; und der Gedanke, dass ihnen die Alten zur Last sein können, wird ihnen nicht selten von diesen selbst erst eingepflanzt. Von ihnen selbst wird dieser Schnitt in den bisher ganzen Faden der kindlichen Liebe gemacht. Die Kinder hatten es nicht zu denken gewagt. - So können die Alten sich und den Ihrigen in der Tat zur Last werden. Sehr bedenklich, ja gefährlich ist oft ihre Stellung gegen das ganze nachfolgende Geschlecht. Sie verstehen die jüngern Leute in ihrer Art, in ihrem Thun und Lassen nicht mehr. Recht angesehen liegt in diesem Nicht- Verstehen eine große Barmherzigkeit Gottes. Wenn der Alte in ganzer Breite mit Kindern und Enkeln fortleben könnte, würde er sich bis an sein Ende in der Welt Händel verstricken, es gäbe für ihn keine Feierabendstunden, der Tod fände alle seine Lebenswurzeln noch in die Erde eingesenkt. Er soll das Geschlecht, welches bereits droben ist, desto besser verstehen, mit ihm soll er fleißig umgehen, ihm soll er schon angehören. Aber wie so oft wird auch hier Gottes Weisheit in Torheit verkehrt und zum Schaden gemißbraucht! Ein kalter Stolz gegen alle Bestrebungen der Jüngern setzt sich in den Herzen der Alten fest. Was Hiob (Cap. 12, 2) höhnend zu seinen Freunden sagt: „Mit euch stirbt die Weisheit aus,“ das haben Viele von sich selbst schon gedacht. Die vergangene Zeit lobend sind sie kalt durch die gegenwärtige gegangen.

Sie haben wieder sich und Andern damit Schaden getan. Sie selbst verbrachten den letzten Teil ihres Lebens als kalte Kritiker; die Jüngeren aber stießen sie von sich zurück und waren wohl selbst mit Schuld daran, wenn das nächste Stück Geschichte in ihrer Familie, in ihrem Orte und weiter hinaus sich nicht in ruhiger Fortentwicklung, sondern im Widerspruche gegen manches bisher Bestandene gestaltete. Ferner haben die Alten bei aller Schwäche des Gedächtnisses für gewisse Dinge oft ein furchtbares Gedächtnis. Während die Zeit vieles Andere herausgewaschen oder blass gemacht hat, stehen die Kränkungen, die ihnen Zeit ihres Lebens zugefügt sind, mit festen feuerroten Buchstaben geschrieben noch frisch da. Es ist überhaupt ein schlimmes Zeugnis für die Menschennatur, dass sich das Register der wirklichen oder vermeinten Verletzungen viel tiefer eingräbt als das der erfahrenen Wohltaten; dass der Ärger mit festerem Griffel schreibt als der Dank. Es gibt Alte, die nicht allein jeden scharfen Tadel aus der Kindheit und Schulzeit, sondern jedes im ganzen Leben über sie gefällte herabsetzende Urteil noch haarscharf im Gedächtnis haben. Wenn sie ihre jüngern Jahre durchmustern, stehen diese Erlebnisse wie Dornbüsche, deren Stacheln immer spitz bleiben, in ihrem Garten. Wenn sie die Nacht auf ihrem Lager, wie es der Alte so gerne tut, durch diesen Garten gehen, bleiben sie oft lange an diesen Dornen hängen. Möchten wir doch lieber der vielen Liebe gedenken, die wir unverdient auch von Menschen erfahren haben! Dabei wüchse Liebe und Dank gegen Gott und Menschen in unsern Herzen.

Solche Bitterkeit gegen Menschen ist übrigens ein gewisses Anzeichen, dass man auch mit den Führungen Gottes nicht zufrieden ist. Wer den Menschen lange nachhadern kann, der grollt und murrt in den Tagen der Trübsal auch gegen Gott. Nur zu häufig hört man bei den Alten die Fragen: „Warum muss ich denn so Viel leiden? Womit habe ich denn das verdient?“ Er hält die Last, welche er selbst trägt, für die schwerste, ohne die des Andern nach ihrem innern Drucke zu kennen. Und weiter heißt es: „Ich wollte, dass Gott, anstatt mich so zu quälen, meinem Leben lieber ein Ende machte!“ Sie klagen, dass sie nicht mehr genießen, eilen, trinken und schlafen können wie vordem. Sie erkennen die Liebe Gottes nicht, die ihnen das Kreuz zur Reinigung von den Schlacken schickt. Anstatt die alten Schlacken herausschmelzen zu lassen, tragen sie vielmehr noch neue in sich hinein. Die Gott für seine freundliche Führung durch ein ganzes langes Leben danken, die damit nicht fertig werden sollten, hadern mit ihm um etliche trübe Abendstunden. Und weil der Alte von Tage zu Tage fast immer nur mit sich zu tun hat, kann sich solches Murren so fest setzen und ihm so zur andern Natur werden, dass er weit, ja unrettbar weit von dem Herzen Gottes wegkommt. Wie ganz anders sieht ein Angesicht aus, aus dem mitten unter dem Kreuze Glaube, stille Hingebung in Gottes Führung und Friede herausleuchten, wo über allem Weh das goldene Wort geschrieben steht: „Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen (Röm. 8, 28). Ich danke Gott für Alles.“ Die stillen Alten sind in der Regel die besten, aber das schlechteste Rad knarrt am Meisten. Und bei aller Verstimmung gegen Gott und das mühsame Greisenleben ist es doch mit dem Sterben kein Ernst. Gesunde und Kranke hangen oft mit unbegreiflicher Zähigkeit an der armen Erde. Etliche reden oft vom Tode und seufzen wohl an jedem Geburtstage oder beim Beginn jedes neuen Jahres oder Winters: „Das wird wohl mein letztes Jahr“ oder „mein letzter Winter sein!“ Aber sie wünschen Nichts weniger als dieses. Andere wollen lieber gar nicht an den Tod denken, mögen ihn gar nicht nennen hören. Wie im Jahre 1866 in Leipzig in etlichen Geschäften eine Strafe darauf gelegt war, wenn jemand die Cholera erwähnte, so möchten sie die Erwähnung des Todes verpönen. Die Toren! Sie stecken wie der Strauß den Kopf vor dem Jäger in den Strauch. Der Jäger sieht sie doch, wenn sie ihn auch nicht sehen. Er ist damit nicht weg; sie aber entziehen sich mit dieser Scheu und vollendeten Feigheit jeder Vorbereitung auf den Tod und ersticken das letzte Fünklein Mut, mit dem sie ihn begegnen könnten. Wir wollen lieber alle Tage an ihn denken und ihn fest in's Angesicht sehen!

Unsere lieben Alten haben solche mit der Erde zusammengewachsenen Menschen in allerlei Bildern gezeichnet. Sie sind ihnen Fremdlinge, die nicht nach Hause wollen, die in der letzten Herberge vor der Heimat liegen bleiben wollen. Sie sind ihnen alte Schlecker, die im Gastause sitzen bleiben, das Glas bis auf die Neige leeren und dann immer wieder einschenken lassen wollen. Doch hilft da kein Festsitzen. Wenn auch in den Gasthäusern die alten Polizeistunden nicht mehr gelten, wenn auch da die alten Ordnungen aufgelöst sind, in Gottes großem Gastause gelten sie noch, sein Bote klopft noch eben so wie vor Jahrtausenden an die Tür und ruft: „Bestelle dein Haus, denn du musst sterben“ (Jes. 38,1). - Wenn du im hohen November in den Garten hinausgehst, dann sind die Früchte längst abgenommen, auch die Blätter haben die Nachtfröste von den Zweigen gelöst, und Sonnenschein und Wind haben sie heruntergeworfen. Alles ist kahl. Nur hie und da hängt an den Zweigen eine vertrocknete und angedorrte Birne oder Pflaume. Sie ist nie recht reif geworden, sondern vor der Reife verfault und verdorret und mit dem Aste zusammengeklebt. Der Ernter hat sie hängen lassen, sie war ja zu Nichts nütze. Sie bleibt auch hängen, bis sie der Wintersturm vielleicht zusammen mit ihrem Aste in den Koth wirft. Die andern Früchte sind eingesammelt und wohl aufgehoben, sie liegt im Kothe. - Das ist auch ein Bild von solchen mit der Welt verwachsenen Alten. Sie wollen nicht reifen im Scheine der Gnadensonne, sie wollen sich nicht einernten lassen! Hierbleiben können sie aber nicht. So kommt zuletzt denn ein Wintersturm, reißt sie ab und wirft sie hin an ihren Ort. - „Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit; eine Turteltaube, Kranich und Schwalbe merken ihre Zeit, wenn sie wiederkommen sollen“ (Jerem. 8, V. 7.); aber unzählige von Gottes Kindern denken nicht an die Heimkehr zu ihrem Vater. - Von Hiob lesen wir (Cap. 42, 17): „Er starb alt und lebenssatt.“ Von Abraham heißt es (1 Mose 25,8): „Er nahm ab und starb in einem ruhigen Alter, da er alt und lebenssatt war, und ward zu seinem Volk versammelt.“ In demselben Cap. V. 17 heißt es von Ismael: „Er ward 137 Jahr alt, er nahm ab und starb.“ Da steht Nichts von lebenssatt.

Von ältester Zeit her bis auf unsere Tage ist darüber geklagt worden, dass die Alten oft noch Knechte des Geizes würden, oder dass, wenn der Mensch andere grobe Laster niedergekämpft habe und ihnen im Alter abgestorben sei, der Geiz mit um so zähern Wurzeln im Herzen hafte. Cicero (in seinem Buche über das Alter) bespricht diese allem Verstande schnurstracks entgegenlaufende Sünde der Alten und weiß sie sich nicht zu erklären; Augustinus beklagt sie, Gellert geißelt in seinen Fabeln alte Mammonsknechte, und auch wir haben selbst Christen, die in den Jahren der Kraft eine sehr offene Hand hatten, an dieser Klippe straucheln sehen. Wir wissen, wie sauer es Vielen wird, sich bei Lebzeiten von einem Teile ihrer Güter zu trennen oder auch nur eine letztwillige Verfügung darüber zu treffen. Geizige Alte müssen eine ziemlich häufige Erscheinung sein, denn unser Volk geißelt sie mit den Sprüchwörtern:

Die Alten sind zäh,
Geben macht ihnen Weh.
Je reicher, je ärger;
Je älter, je kärger.

-In den Lustspielen sind die Geizhälse stets Greise, die Verschwender dagegen junge Leute. Nach der nordischen Heldensage soll Attila in seinem Alter fast an Nichts als den Besitz des Nibelungenhortes gedacht haben. Hagens Sohn Aldrian, der die Höhle, in welcher er verborgen lag, allein kannte und den Schlüssel dazu hatte, führte den König hinein, verschloß und verschüttete sie von außen und ließ den goldgierigen Mann bei dem großen Schatze verhungern. Alte Sündengenossen dieses Königs haben sich ihre Kasten voll Ringe und Geschmeide noch auf das Totenbett bringen lassen. Der Käfer verkriecht sich, wenn er seinen Tod herannahen fühlt, in die Erde, und das Wild schleicht in seine Kluft. Sie gehören dahin, denn sie sind von Erde. Dass sich aber der Christ, der aus Gott Geborene, an den Pforten der Ewigkeit noch in den Staub verkriecht; dass der Mann, dessen Tage gezählt sind, sich noch hinsetzen und mit Behagen Taler zählen kann; das ist Unnatur und grobe Sünde. Man möchte es auf verschiedene Weise erklären. Man möchte sagen: „Weil er auf so Vieles verzichten muss, weil so viele Freuden für ihn nicht mehr vorhanden sind, will er doch eine Freude haben.“ Oder, „weil er nicht mehr verdienen kann, hält er das Erworbene desto sorgsamer zusammen. Weil er keine eigene Kraft mehr einzusetzen hat, sucht er einen Stellvertreter, der in der Welt Etwas auszurichten vermag.“ Aber immer kommen wir im letzten Grunde auf den Satz zurück: „Er hat den rechten Schatz nicht völlig und fest in sein Herz aufgenommen.“ Mein Christ, in den Tagen wo sich deine Erlösung nahet, sollst du frei und fröhlich in den offnen Himmel schauen. Hüte dich, dass du dann nicht mit dem einen Auge in den Kasten schielst. Nackend bist du von deiner Mutter Leibe gekommen, nackend wirst du auch wieder dahinfahren (Hiob 1,21). Du hast Nichts in die Welt gebracht; darum auch offenbar ist, dass du Nichts hinausbringen wirst (1 Tim. 6,7).

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