Ahlfeld, Friedrich - Das Alter des Christen - II. Das Leben ist ein Ganzes.

Ahlfeld, Friedrich - Das Alter des Christen - II. Das Leben ist ein Ganzes.

Führet euren Wandel, so lange ihr hier wallet, mit Furcht (1 Petri 1,17).

Die griechische Sage, welcher sicher ein historischer Zug zu Grunde liegt, berichtet uns, dass der König Minos von Creta die Athener besiegt und ihnen einen überaus grausamen Tribut aufgelegt habe. Sie mussten nämlich alljährlich 14 Jünglinge nach Creta hinüberliefern, welche dort dem Minotaurus, einem halb aus Menschen halb aus Stier bestehenden Ungethüm, vorgeworfen wurden. Der ionische und insonders attische Nationalheld Theseus machte sich endlich auf, dies Ungethüm zu erlegen und die Stadt von dem blutigen Tribute zu befreien. Es gelang ihm, er kam samt seinen 14 Begleitern wohlbehalten zurück. Der Kern der Geschichte besteht vielleicht darin, dass die Phönicier, diese alten Seefahrer, den Dienst ihres Gottes Moloch nach Creta verpflanzt hatten. Dieser Moloch wurde bekanntlich in der Form eines aufrecht stehenden hohlen Stiers dargestellt, welcher in den Vorderklauen eine Mulde hielt. Er ward von innen geheizt, und in die glühende Mulde wurden ihm Kinder als Opfer gelegt. Es mag sein, dass der Athener Thebens auf Creta diesem greulichen Cultus ein Ende gemacht und dafür den freundlichern Dienst griechischer Götter eingeführt hat. Doch darüber wollen wir hier nicht viel grübeln; uns kommt es besonders auf sein Schiff an. Zwei namhafte griechische Schriftsteller (Plato. im Phädon Cap. 1, und Plutarch im Theseus Cap. 23) erwähnen dieses Schiff. Plato gedenkt seiner bei der Hinrichtung des Sokrates, welche aufgeschoben werden musste, bis dies Schiff, welches das jährliche Dankopfer für jene Errettung nach Delos brachte, von dort zurückgekehrt war. Er bemerkt dabei, nach der Sage der Athener sei dies dasselbe Schiff gewesen, welches den Theseus mit seinen 14 Genossen nach Creta geführt und glücklich zurückgebracht habe. „Es wäre demnach damals etwa 900 oder 1000 Jahre alt gewesen. Plutarch berichtet, dass dies Schiff bis in die Tage des Demetrius von Phaleron vorhanden gewesen sei, also noch 100 Jahre länger. Plutarch erklärt zugleich, wie das Schiff so lange habe bestehen können. Die Athener nahmen nämlich von Zeit zu Zeit die faul und morsch gewordenen Balken und Planken heraus und fügten neue gesunde ganz in derselben Gestalt ein. So blieb das Schiff dasselbe, ob es schon nicht dasselbe war. Die neuen Balken und Planken traten in Verband mit den alten, und so gab es in der Tat unter diesem Holzwerk eine Tradition und Gemeinschaft von den Tagen des Theseus an bis auf den Demetrius von Phaleron. Schon Plutarch bemerkt, dass dies Schiff den Philosophen ein Sinnbild des menschlichen Geistes abgebe, indem die einen sagten, er bleibe dasselbe, die andern aber, er bleibe nicht dasselbe. Spätere Ärzte und Forscher wenden dies Bild auf den menschlichen Leib samt der Seele an. Von Jahr zu Jahr werden neue leibliche und geistige Stoffe eingelegt und alte ausgeschieden. Die Ärzte behaupten, in etwa zehn Jahren hätten sich die ganzen Substanzen unseres Leibes in andere umgesetzt; und in der Seele können große Veränderungen in noch kürzerer Zeit vor sich geben. Das Leben, die Erfahrung und der Unterricht legen neue Stücke in das Seelenleben ein; andere dagegen werden als überlebt und unhaltbar erst still zurückgelegt, und nach und nach sterben sie ganz aus dem innern Haushalte der Seele heraus. Oft können wir schon nach einem einzigen Jahre sagen: „Ich bin nicht mehr derselbe, ich kenne mich nicht mehr.“ Doch ergeht es uns dabei ganz wie dem athenischen Schiffe. Die neuen Lebenselemente haben Anfangs noch mit den alten, wenn auch feindlich, zusammengestanden; und so zieht sich ein ununterbrochener Faden von dem ersten unklaren Denken und Lallen des Kindes bis zu dem letzten Stammeln des Sterbenden hin. Das Leben ist ein Ganzes. Ein Tag bringt allerdings den andern zu Grabe, aber jeder Tag lässt auch dem künftigen ein Erbteil zurück. Jeder Tag hat seine Bedeutung für dein ganzes Leben und für die Ewigkeit. Darum bedenke wohl, was du von Tage zu Tage in deinen Lebensorganismus einlegst! Du kannst die für Seele und Leib verderblichen Elemente nicht nach Belieben wieder herauswerfen. Vergiss nicht, dass es bei dir ein freies Aufnehmen gibt. Der Baum kann nur aufnehmen, was seinen Wurzeln in der Tiefe und was seinem Stamme und seinen Blättern in der Höhe dargeboten wird. Für ihn gilt keine Wahl. Das Tier ist schon freier; es bildet sich in seinen edelsten Classen nicht allein nach seiner Nahrung und nach dem Klima, in dem es lebt, sondern auch nach den andern Tieren, die es umgeben, und nach den Menschen, welche freundlich oder feindlich mit ihm verkehren. Auch wir Menschen nehmen Vieles unfreiwillig in den Haushalt unseres Lebens auf. Nahrung und Land und Klima und die Verhältnisse, in welche wir gepflanzt sind, wirken ohne unser Wollen auf uns ein. Aber unser größester und edelster Besitz ist unserer Freiheit anheimgegeben.

Wir können in das Schiff, mit welchem wir von der Wiege bis zum Grabe segeln, nach freier Wahl gute und schlechte Balken und Planken einlegen. Und kein athenischer Zimmermann oder Schiffbauer kann die schlechten Hölzer herausnehmen und durch gute ersetzen. Sie können nur langsam herausgelebt werden; sie können aber auch alles gute Holz in dem Baue verderben.

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