Ahlfeld, Friedrich - Das Alter des Christen - XIII. Die Alten und das jüngere Geschlecht.

Ahlfeld, Friedrich - Das Alter des Christen - XIII. Die Alten und das jüngere Geschlecht.

Gott, du hast mich von Jugend auf gelehrt, darum verkündige ich deine Wunder. Auch verlass mich nicht, Gott, im Alter, wenn ich grau werde, bis ich deinen Arm verkündige Kindeskindern und deine Kraft Allen, die noch kommen sollen.
(Psalm 71,17 und 18)

Es sage kein Alter: „Ich bin zu Nichts mehr nütze; ich weiß nicht, was ich noch auf der Erde soll.“ Umsonst lässt uns der Herr unser Gott nicht hier; das Leben hat in jedem Falle noch seine Bedeutung für uns und auch für Andere. Zuerst soll jeder Alte für das jüngere Geschlecht fleißig beten. Wir wissen ja, wie oft die Jungen, hingenommen von der Sorge oder Lust der Welt, dies versäumen oder lau und lässig darin sind. Folget darin, ihr lieben Alten, dem Hiob, dem Knechte Gottes im Lande Uz, treulich nach. Von ihm lesen wir (Hiob 1, V. 4 u. 5): „Und seine Söhne gingen hin und machten Wohlleben, ein jeglicher in seinem Hause auf seinen Tag; und sandten bin und luden ihre drei Schwestern, mit ihnen zu essen und zu trinken. Und wenn ein Tag des Wohllebens um war, sandte Hiob hin und heiligte sie, und machte sich des Morgens frühe auf und opferte Brandopfer nach ihrer Zahl. Denn Hiob gedachte: „Meine Söhne möchten gesündigt und Gott gesegnet haben in ihren Herzen.“ Also tat Hiob alle Tage.“ Lass das Feuer des Brandopfers für deine Kinder und Freunde und Andere auf dem Altare nicht ausgeben. Dein Gebet ersetzt zwar das der Andern nicht und kann ihnen nicht als eigenes zugerechnet werden; aber der Gott, welcher Gebete erhört, lässt darum das deine doch nicht auf die Erde fallen. Er arbeitet im heiligen Geist an den Herzen der Deinen, dass sie sich besinnen, wach werden und selbst wieder beten lernen. So sitzt ein frommer Alter im Mittelpunkte eines Netzes, dessen Fäden weit ausgespannt sind. Es ist aber kein Spinnennetz; er spannt seine Fäden nicht, um zu fangen und selbstsüchtig an sich zu nehmen; sie sind vielmehr Telegraphendrähte, durch welche er in Liebe und Fürbitte nach allen Seiten sich hingibt. Da haben die Alten schon Viel zu tun. Sie sollen sich aber auch sonst, so lange sie können, noch etwas zu schaffen machen. Ein völlig müßiges Alter ist gefährlich; der alte Mensch bekommt zu leicht freien Spielraum, wir werden uns und Andern zur Last. Das Schaffen und Arbeiten des Alten Dagegen hat etwas besonders Sauberes, es ist freier. Wenn wir es uns in jungen Jahren sauer werden lassen, denken wir dabei an uns, wir wollen die Früchte unserer Arbeit selbst ernten. Der Alte arbeitet häufig mit größerer Selbstlosigkeit. Für ein anderes Geschlecht pflanzt und pfropft und impft er die Bäume; Kinder, Enkel und Urenkel sollen in ihrem Schatten sitzen und die Früchte genießen. Hört endlich alles Schaffen auf, so kann er darum dem jüngeren Geschlechte doch noch ein Segen sein. Auf den hohen beeisten und beschneiten Bergspitzen wächst weder Korn, noch Wald, noch Gras; aber die Bäche, welche das weite Land wässern, fließen von dort herunter. So kann auch das Wort der Weisheit unter dem weißen Haar hervor noch in die künftigen Geschlechter hinfließen. Soll dies aber geschehen, sollen die Bäche von den weißen Höhen herunter weit durch das Land rinnen und an die Wurzeln bringen, so hast du vor allem Andern um Eins zu bitten und für Eins zu sorgen. Nimm die Liebe und Freundlichkeit mit in das Alter. Man hat von den ältesten Zeiten her über das mürrische Wesen der Greise geklagt. Gerade dieses kann dich um den Einfluss bringen, welchen du auf das jüngere Geschlecht zu üben vermöchtest. Das beste Gericht, aufgetragen in einem unreinen und hässlichen Gefäß, schmeckt nicht; und die gediegenste Ermahnung, der weiseste Rat, gegeben mit saurem und verdrießlichen Angesicht, findet keinen Eingang. Liebe und Freundlichkeit machen den Boden locker für den Samen, der darauf gestreut werden soll. Und gerade die Liebe hat die gewisseste Anlage zum Fortleben im Alter, ja zur Unsterblichkeit. Sie stammt aus dem tiefsten Wesen Gottes, der selbst die Liebe ist. Wenn der Glaube zum Schauen geworden ist, wenn sich die Hoffnung in der Erfüllung vollendet hat, dann lebt die Liebe, sie füllt die Ewigkeit aus. Warum soll sie dein Alter nicht ausfüllen? Sie kann es. Ich habe Alte gesehen, in welchen das Gedächtnis, der Verstand und das Interesse an den meisten Vorgängen des Lebens völlig erstorben war; aber die Liebe zu den Ihrigen und zu Andern blühte wie eine frische Rose auf dieser öden Fläche. Und glaube es, ein Wort aus Liebe geboren und aus dem Munde eines alten Weltauszüglers gesprochen geht nicht verloren. haftet fester, als ein Wort aus dem Munde derer, die noch lange mit uns wandeln und noch oft zu uns reden. Es kann dem jüngeren Geschlechte zu einem heiligen Vermächtnis werden. Darum, wie die Pflanzen mit dürrem Stengel und weißen Köpfen im Herbst ihren Samen ausstreuen, so streue du den deinen auch aus. Es kommt ein Frühling, wo er aufgeht.

Ich kannte vor langen Jahren einen alten Landgeistlichen, der weder Weib noch Kind hatte, aber seine Wirtschaft selbst führte und darum ein ziemlich starkes Personal von Dienstleuten hielt. Ich zähle ihn zu den wenigen Geistlichen, bei welchen die Führung ihres Amtes unter der Landwirtschaft keinen Schaden litt. Als er auf seinem letzten Krankenlager erkannte, dass seine Tage gezählt seien, war es eine seiner Hauptbitten, der Herr möchte ihm die Klarheit des Geistes bis an's Ende bewahren, damit er auch sterbend vor seinen Dienstleuten noch Zeugnis ablegen könne von seiner Gnade und von der gewissen Hoffnung eines Christen. Wie er es sich erbeten, so hat es ihm der Herr geschenkt. Alle Dienstleute waren um sein Sterbebett versammelt. Noch einmal bekannte er seinen Glauben an den Herrn, in welchem wir haben die Vergebung der Sünden, die Auferstehung und das Leben - und dann entschlief er. Solche Aussaat bleibt nicht tot in der Erde liegen. Neben diesem Geistlichen steht mir im Gedächtnis eine alte fromme Gräfin. Ich hatte einst etliche Tage als Gast auf ihrem Schloss gewohnt und mich von ihr und ihrem Gemahl bereits verabschiedet. Indem ich fortging, ließ sie mich noch einmal in ihr Zimmer rufen. Da sprach sie mich etwa mit folgenden Worten an: „Ich weiß, dass Sie unsere Familie lieb haben. Und Sie wissen, wie der Glaube an unsern Herrn und Heiland von Geschlecht zu Geschlecht ihr edelster Schatz gewesen ist. Sie wissen ferner, dass mein Gemahl alt ist. Und weil es dem Herrn gefallen hat, unsern ältesten Sohn vor dem Vater wegzunehmen, geht diesmal die Herrschaft von Großvater auf den Enkel über. In solcher Lücke könnte leicht Etwas von dem alten Hausschatze der Familie verloren gehen. Ich bitte Sie daher, den Herrn mit anzurufen, er wolle doch hüten und wachen, dass der heilige Faden durch diese Lücke keinen Schaden leide und sich unverletzt auf Enkel und Urenkel fortspinne.“ Damit entließ sie mich. Ich habe sie nie wieder gesehen, sie starb bald darauf. Als sie ihr Ende nahe fühlte, ließ sie nebst der Familie das ganze ansehnliche Personal ihrer Behörden und Dienstleute in ihr Zimmer und Nebenzimmer treten, bekannte ihren Glauben, pries die Gnade des Herrn, ermahnte zum treuen Festalten an ihm, segnete die Ihrigen und die ganze Versammlung und entschlief. Ich möchte fragen, wer wohl solches Sterben vergessen könnte, in wem es nicht einen Keim zur Gottseligkeit zurückließe!

Ganz besonders muss ich hier an die Stellung der Großeltern zu den Enkeln denken. Wenn wir zu hohen Jahren kommen, durchleben wir in der Regel die Kindheit dreimal. Zuerst sind wir selbst Kinder, dann wachsen unsere Kinder und endlich die Enkel vor uns auf. Es ist eine Freude, diesen letzten Lenz, diese letzten Frühlingsblumen vor sich zu sehen. Für ihre Entwicklung sind oft die Großeltern von hoher Bedeutung. Während die Eltern im täglichen Berufe zu schaffen haben, wandern die Kinder zu den Großeltern. Die Großmutter ist häufig die Erzählerin; sie bringt Altes und Neues aus ihrem Schatze hervor und legt es dem jungen Geschlechte in die Fächer des Gedächtnisses und Gemütes. Der Großvater schaukelt die Enkel auf den Knieen, singt ihnen ein kindlich Reiterlied oder ein anderes und hat einen heimlichen Schrank, in welchen er in guten Stunden einmal hineingreift. Wenn er dann zugleich in den Schrank des göttlichen Wortes, des Glaubens und der eigenen Erfahrung greift, Früchte aus dem Garten Eden hervorholt, und sie den Kindern mit liebem ernstem Wort in das Herz gibt, dann bleiben sie wohl auf die ganze Lebenszeit da verwahrt. Der Vater ist den Kindern oft mehr der strenge gesetzliche Mann, der Großvater der alte liebe Freund. Das Wort des Vaters scheint ihnen mehr aus dem Amte, das des Großvaters aus der freien Liebe herauszuklingen. Darum wird dieses von den Kindern oft williger und tiefer aufgenommen als jenes. Großeltern können die Verderber der Enkel werden, wenn sie sich zum Schirm hergeben, hinter welchen sich diese vor dem Ernst der Eltern verstecken oder ihre Sünde verbergen. Sie können aber auch die freundlichen Führer der Kleinen zu den Wassern des Lebens werden. Und das ist ein schönes Amt, da sät der Alte heiligen Samen für die Zukunft. Da hat er auch ein Feld vor sich, wo sein Gedächtnis in Ehren bleibt.

Aus dem Liederbuche des Großvaters

Ich kenne zwei liebliche Auen,
Darauf ich mich sinnend ergeh',
Die erste die Aue der Jugend
Mit Berg und Tal und grünem Klee.

Die erste liegt weit dahinten
Mit ihrem entschwundenen Glück;
Doch schauet das alternde Auge
Mit Freud' und Dank auf sie zurück.

Die zweite hoch liegt sie da oben
Über Sturm und Regen und Schnee,
Da blühen die ewigen Blumen,
Gewurzelt an dem ew'gen See.

Die zweite ich sehe sie liegen,
Sie lockt mich mit rosigem Licht;
Ich ziehe ihr fröhlich entgegen,
Mein Hoffen lässt und täuscht mich nicht.

Von beiden les' ich mir die Blumen
In des Herzens Scherben und Glas,
Und erhalte' mit Dank und Bitte
Im dürren Herbst sie grün und nass.

Wohl duften die Blumen der Jugend
Noch frisch aus der Ferne hieher,
Doch tausendmal tiefer und reiner
Die von dem ew'gen Gnadenmeer.

Von beiden verpflanz' ich die Blumen
In die Kinder und Enkelein;
Doch die von der Aue da droben
Drück ich bis in den Grund hinein.

Rechnest du sonst im Hinblick auf das nachkommende Geschlecht auf ein langes Andenken, so täuschest du dich. Da schlägt eine Welle über die andere. Frage auch auf den Friedhöfen kleiner Örter die Leute, wer doch unter diesem oder jenem bemoosten Leichensteine ruhe, so schütteln sie das Haupt und antworten: „Ich weiß es nicht.“ Wir können Alle entbehrt werden, wir werden Alle bald vergessen, die Tränen trocknen in dem scharfen Luftzuge dieser Zeit schnell, und die Freude lässt sich auch durch den Tod in ihrem Tageslaufe nicht lange stören. Es gibt eine neugriechische Sage und ein Volkslied, von welchen uns J. Geibel eine treffliche deutsche Bearbeitung geliefert hat. Drei Riesen hatten sich verschworen in das Reich der Toten einzubrechen. Sie drangen hinunter, sahen, was sie sehen wollten, und schickten sich zum Rückweg an. Da bat sie ein junges Mädchen, sie möchten sie doch mit hinaufnehmen auf die Oberwelt. Sie wollte gern noch einmal die Sonne sehen und die roten Blümlein auf dem Felde. Doch die Riesen weigerten sich des, sie setzten ihr entgegen:

„Deine seidenen Gewänder rauschen,
Deine langen blonden Locken flüstern,
An den Füßen klappern die Pantoffeln:
Charon, unser Fährmann, würd' es merken!“

Aber sie dringt weiter in sie und erbietet sich:

„Meine Kleider will ich von mir legen,
Will vom Haupt die langen Locken schneiden,
Die Pantoffeln lass ich an der Treppe.
Nehmt mich mit hinauf, ihr lieben Riesen,
Sehen möcht' ich meine beiden Brüder,
Wie am Herd sie sitzen mich beweinend;
Meine Mutter möcht ich klagen hören,
Klagen in der rauchgeschwärzten Hütte,
Dass ihr liebstes Töchterlein gestorben.“

Doch die Riesen weisen sie zur Ruhe mit den Worten:

Liebes Mädchen,
Bleib nur unten bei den bleichen Schatten,
Deine Brüder tanzen in den Schenken,
Und dein Mütterlein schwatzt auf der Gasse.

Wir wollen dies eiskalte Wort nur von den wenigsten Müttern und von wenigen Brüdern gelten lassen; aber der Nachruhm im Allgemeinen ist nur zu wahr damit gezeichnet. Man wird über dich dahingehen wie über tausend Andere vor dir. Jeder Mensch ist in dem großen Instrument der göttlichen Weltordnung und des Weltlebens eine Saite. Aus jeder klingt ein Ton heraus, jede hat ihren Platz im Ganzen. Auch ein Kindlein, das wenige Tage nach seiner Geburt dieses Pilgerland wieder verlässt, nimmt seinen Platz in der Geschichte ein. Auch seine Saite klingt zu kurzer Freude und langer Trauer in den Herzen und im Hause der Eltern nach. Bei längerem Leben klingt die eine Saite reiner, die andere unreiner; die, eine stärker, die andere schwächer. Wenn unsere letzte Stunde gekommen ist, schweigen die meisten gleich, etliche tönen noch eine Weile nach. Freilich kann auch dieser Nachklang ein guter und ein schlechter sein. Sorge du nur dafür, dass deine Saite, so lange du lebst, einen reinen Ton gibt. Lass sie täglich stimmen von dem Meister, der allein rein und neu machen kann. Dann klingt sie auch nach deinem Tode gut fort, mag man deinen Namen noch nennen, oder magst du zu denen gehören, die in der Verborgenheit durch stillen gottseligen Wandel mitgearbeitet haben an der Erhaltung und Hebung christlicher Art und Sitte. Du hast für das künftige Geschlecht nicht umsonst gelebt, wenn auch Niemand deinen Namen nennt, wenn auch Niemand aus der großen fortklingenden Harmonie die leisen Töne herausfinden kann, welche du durch deinen stillen Wandel in dem Herrn hineingelegt hast. - Es ist ja schön, wenn die nächsten Geschlechter noch ein gutes Wort von dir reden; baue aber deine Unsterblichkeit nicht in die flüchtige Welle menschlicher Ehre. Es ist genug, wenn du selig stirbst; mögen dann die Leute hier von dir noch reden oder nicht! Es sind viel Selige im Himmel, von denen man nach ihrem Tode auf der Erde kein Wort mehr redete. Und es sind viele Berühmte auf Erden, von welchen man im Himmel nie ein Wort geredet hat noch reden wird. Freue dich, dass dein Name im Himmel angeschrieben ist. Da bleibt er stehen, wenn er auch im Gedächtnis aller Menschen verlischt; und dein Heiland weiß an dem großen Tage der Heilsvollendung, der Auferweckung der Toten, dein Grab wohl zu finden.

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