Zahn, Franz Theodor - Die Bruderliebe die Seele der Inneren Mission.
Festpredigt beim Jahresfeste der inneren Mission über 1. Joh. 3, 16-18
von D. Zahn, Professor der Theologie in Erlangen.
Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und unserm Herrn Jesu Christo.
Innere Mission nennen wir das weitverzweigte Werk, dessen Mitarbeiter und Freunde jetzt in dieser Stadt zur Jahresfeier vereinigt sind. Innere Mission ist der Name, welcher uns heute in dieses Gotteshaus gerufen hat. Was heißt „innere Mission“? Als vor etwa 50 Jahren zuerst dieser Name in Umlauf kam, da war es ein tiefer Eindruck und eine schmerzliche Empfindung von geistlichen Notständen in der evangelischen Christenheit Deutschlands, was den Anstoß dazu gab. Zu den Heiden in fernen Weltteilen wurden seit langer Zeit Boten ausgesandt, um ihnen das Evangelium und die Güter christlicher Gesittung zu bringen. „Aber gibt es nicht Heidentum genug mitten in der Christenheit?“ fragte man. „Sind nicht ganze Schichten unsers Volks dem Evangelium und der Kirche entfremdet? Die Predigt der Kirche erreicht die nicht mehr, welche der Schule entwachsen sind, zumal in den großen Städten und den Mittelpunkten der Industrie. Die äußere Not des Lebens, Armut und Krankheit und Mangel an Luft und Licht in den Wohnungen, scheint die geistliche Not nur zu steigern. Ehedem hieß es: Not lehrt beten; aber den, der überhaupt nie beten gelernt hat, lehrt's auch die Not nicht; den erbittert sie nur. Die Not hat auch wohl manchen arbeiten gelehrt, der es sonst nicht gelernt hätte; aber nicht jeder findet Arbeit, und nicht alle Not lindert die Arbeit. Die Not kennt auch kein Gebot, die Not bricht Eisen und durchbricht die Schranken des Gesetzes und der Sitte. Wer mag den Knäuel von Not und Schuld, von sittlichem Verderben und äußerem Elend, in welchen Tausende verstrickt sind, entwirren! Kein Mensch vermag das, und keiner soll es. Aber die Tatsache liegt am Tage: ohne Gott und ohne Heiland, ohne Glauben und Hoffnung ist ein Geschlecht unter uns herangewachsen, welches selbst den Namen des Christentums nur noch unwillig trägt.“ Die frommen und edlen Männer, denen das zu Herzen ging, haben den Gleichgesinnten zugerufen: „Seht zu, ob das nicht Heidentum inmitten der Christenheit ist. Kommt, wir wollen uns aufmachen, die verirrten und verlorenen Söhne und Töchter unsers Volks zu suchen und, wenn es sein kann, auf den Weg des Lebens zurückzuführen. Wir wollen unsere Kraft daran setzen, diejenigen zu bewahren, die in Gefahr sind verloren zu gehen. Wir wollen zu den alten Mitteln und Wegen neue ersinnen, um mit dem Besten, was Gottes Gnade uns selbst geschenkt hat, an die trotzigen oder verzagten Menschenherzen heranzukommen, dass ein Strahl der Liebe unsers Gottes in ihre Finsternis hineinleuchte. Das heißt auch Mission treiben; das ist Innere Mission.“
Dieser Ruf hat Gehör gefunden. Die Werke der christlichen Liebe nehmen einen neuen Ausschwung; sie haben sich seither auf immer neue Gebiete ausgedehnt, und Gott sei es gedankt, dass es bis heute zu einem Stillstand in dieser Arbeit noch nicht gekommen ist. Ja, es könnte scheinen, gerade jetzt in unsern Tagen vollziehe sich ein gewaltiger Fortschritt zu Gunsten der inneren Mission. Die Not, aus welcher die innere Mission geboren worden, besteht noch immer, ja, sie hat sich gesteigert. Die großen Städte sind, teilweise in unnatürlichem Wachstum, immer größer geworden, und der Kirchen sind nicht viel mehr geworden. Der Groll der Armen gegen die Besitzenden ist bitterer, das Murren der Arbeiter gegen die Arbeitgeber ist lauter geworden, und immer inniger, immer bewusster scheint der heillose Bund zwischen Unzufriedenheit mit der äußeren Lebenslage und Feindschaft gegen das Evangelium sich zu gestalten. Das Heidentum in der Christenheit hat die Aufmerksamkeit immer weiterer Kreise erregt; es ist als eine drohende Gefahr für den Fortbestand der christlichen Gesittung und der bürgerlichen Gesellschaft erkannt worden. Auch die, welche zunächst Hüter der weltlichen Ordnung sind, können sich heute der Erkenntnis nicht verschließen, dass ohne christliche Gottesfurcht auch die staatliche Ordnung zuletzt aus den Fugen geht, und dass ohne die Liebe, welche Christus gelehrt hat, der Friede unter den Gliedern und Klassen desselben Volks nicht bestehen kann. Der erste Kaiser unsers neuen deutschen Reichs hat in seiner schlichten Weise gesagt: „Die Religion muss dem Volk erhalten werden“; und nach Kriegen und Siegen ohnegleichen hat er es als die schönste Ausgabe seines Lebensabends erkannt, im Sinne christlicher Nächstenliebe der Not der ärmeren Volksschichten zu steuern und für den Frieden zwischen den Klassen der Gesellschaft zu wirken. Und in jüngster Zeit haben Kaiser und Papst sich die Hand gereicht, haben Bischöfe und Minister miteinander beraten, wie in den Ländern christlichen Stammes die arbeitenden Brüder gegen Missbrauch ihrer Abhängigkeit zu schützen seien; auch der Sonntagsruhe ist dabei nicht vergessen worden.
Was sagen wir Freunde der inneren Mission zu solchen Erscheinungen der Gegenwart? Nun, welcher Christ wollte sich nicht jedes nützlichen Rats und jeder hilfreichen Tat freuen, die dazu dienen, Streit und Not zu mindern, Friede und Zufriedenheit zu mehren. Und dass bei solchen Bemühungen heute lauter als in andern Zeiten an Gottes Wort und Christo Gebot erinnert wird, wer wollte das tadeln? Aber eins können und sollen wir nicht vergessen, die wir im Namen des Herrn Jesu hier versammelt sind und als in seinem Auftrag an dem Werk der inneren Mission mitarbeiten möchten. Wir können uns nicht verhehlen, dass heutzutage manche von der Unentbehrlichkeit des Christentums für das Heil des Volks und der Völker reden, welche bis dahin für ihre eigene Person wenig Gebrauch vom Christentum zu machen schienen. Es ist ein gut Teil Furcht dabei, Furcht nicht vor der Gottlosigkeit, sondern vor den unangenehmen Folgen der Gottlosigkeit. Es ist nicht zum wenigsten die Angst vor dem drohenden Umsturz der bestehenden Ordnung, was den Ruf nach Mitwirkung der Kirche, nach Pflege der Gottesfurcht, nach Stärkung der christlichen Liebeswerke heute so laut und so allgemein erschallen lässt. Aber Furcht ist nicht die Quelle echter innerer Mission, sondern der Glaube, welcher durch die Liebe tätig ist. Der Glaube an Jesus Christus ist es, der uns alle Angst, die wir in der Welt haben, überwinden hilft; und Furcht ist nicht in der Liebe, welche aus diesem Glauben kommt. Solcher Glaube und solche Liebe sind die Wurzeln unsrer Tatkraft. Was davon in uns lebt, das wolle Gott nach seiner Gnade in dieser Stunde erfrischen und stärken durch sein heiliges Wort.
Text: 1. Joh. 3, 16-18.
Daran haben wir erkannt die Liebe, dass er sein Leben für uns gelassen hat; und wir sollen auch das Leben für die Brüder lassen. Wenn aber jemand dieser Welt Güter hat und sieht seinen Bruder darben und schließt sein Herz vor ihm zu, wie bleibt die Liebe Gottes bei ihm? Meine Kindlein, lasst uns nicht lieben mit Worten, noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.
Nicht mit Worten, sagt der Apostel; und doch soll ich predigen. Nicht mit der Zunge; und doch habe ich kein anderes Werkzeug, womit ich hier etwas anfangen und euch etwas geben könnte. Und wovon anders könnte ich am heutigen Tage und angesichts dieses Textes reden, als von der Liebe, die doch nicht in Worten, sondern in Taten ihren wahren Ausdruck finden soll. Gewiss wollen wir uns das heute während der Predigt und allezeit gesagt sein lassen; aber wir wissen auch, dass Wort und Tat sich nicht notwendig ausschließen. Wie unser Herr selbst wieder und wieder von der Liebe und der Barmherzigkeit geredet hat, so auch sein Apostel Johannes. Es wird erzählt, da Johannes am Ende eines langen, gewiss nicht müßigen Lebens als ein hinfälliger Greis sich zur Kirche musste tragen lassen und zu längerer Rede nicht mehr die Kraft besaß, habe er der Gemeinde, die doch noch an seinem ehrwürdigen Munde hing, ein über das andre Mal nur das eine Sprüchlein gesagt: „Kindlein, liebt euch untereinander.“ So wird doch nicht alles Reden von der Liebe dem Tun der Liebe hinderlich sein. Ich kann nur beten: Herr, bewahre meine Zunge, dass sie nicht leere Worte mache; gib den Worten Kraft und Nachdruck, dass sie zu Taten werden, zum Heil dem Bruder und dir allein zur Ehre. Amen.
So lasst mich zu euch ein Wort reden von der Bruderliebe, welche die Seele der inneren Mission ist. Der Apostel Johannes weist uns auf die Quelle hin, aus welcher solche Bruderliebe fließt, und er beschreibt uns ihre daher stammende Eigenart.
1.
Fragen wir, woher die Liebe stammt, ohne welche all' unsere Arbeit im Dienste der Brüder ein totes Werk ist, und von wo sie uns immer aufs Neue zufließt, wenn sie in uns versiegen will, so antwortet Johannes: „Daran haben wir erkannt die Liebe, dass er sein Leben für uns gelassen hat.“ Was mit Recht Liebe heißt, was helfende, rettende Bruderliebe sei, das haben die, welche es überhaupt recht erkannt haben, von dem einen gelernt, der sein Leben für uns alle gelassen hat. Oder ist das zu viel gesagt? „Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst“: das ist ja ein uraltes Gebot. Der Priester und der Levit, welche auf der Straße nach Jericho an dem todwunden Mann vorübergingen, haben dies Gebot gekannt; und auch der Schriftgelehrte hat es gekannt, dem Jesus die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt hat. Aber jene haben das Gebot außer Acht gelassen, und dieser wollte sich gar darum rechtfertigen, dass dieses königliche Gebot der Liebe bis dahin so wenig sein Leben beherrscht habe. Er meinte, das Gebot sei heilig und groß, aber im wirklichen Leben sei wenig damit anzufangen; denn sofort und immer wieder erhebe sich die Frage: wer ist mein Nächster, dem ich Liebe zu beweisen hätte? Allen, die Not leiden, kann man doch nicht helfen; und welcher verständige Mann mag etwas anfangen, wovon ein Ende nicht abzusehen ist? So klügelt der Mensch über Gottes Gebot und die Pflicht der Liebe, und derweilen klingt als praktische Regel der Sah: Ein jeder ist sich selbst der Nächste. So war es einst, so ist es jetzt; so in Israel und unter den Heiden, so auch unter den Trägern des Christennamens. Gewiss ist das nicht die ganze Wirklichkeit des Lebens und des Weltlaufs. Es gab von jeher und gibt in der Gegenwart, wie in jener schönen Erzählung unsers Herrn, barmherzige Samariter, die nicht vorüberkommen können an dem Elend, woran ihr Weg sie vorbeiführt, welche ohne viel Fragen und Bedenken aus herzlichem Mitleid Barmherzigkeit üben auch an dem unbekannten Fremdling. Jeder Heide würde das billigen; aber auch jeder Christ soll dem nachleben; denn uns allen hat der Herr Jesus den barmherzigen Samariter vor Augen gestellt, und jedem von uns sagt kein Geringerer als unser Heiland: Gehe hin und tue desgleichen. Das Gesetz, welches Gott in des Samariters und auch in manches Heiden Herz geschrieben hat, steht auch in unser aller Herz geschrieben. „Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist“, spricht der Prophet (Micha 6, 8). Dem Menschen, und nicht nur den Israeliten, und nicht erst dem Christen ist es gesagt, dass es vor vielem andern gilt, Liebe zu üben und demütig zu sein vor seinem Gott. Der bewussteste Christ soll nicht hochmütig herabschauen auf die Gutherzigkeit und Mildtätigkeit derer, die, ohne an Gottes Wort und Christi Liebe zu denken, von menschlichem Mitgefühl ergriffen, Gutes tun und Hilfe schaffen, wo Hilfe nottut. Ja, noch mehr! Schon, ehe die Liebe und die Leutseligkeit Gottes in dem Sohne Gottes allen Menschen erschien, hat es nicht nur einzelne barmherzige Seelen und einzelne Taten aufrichtiger Menschenliebe gegeben; es hat auch nicht völlig an Ordnungen und Gesetzen gefehlt, welche die Selbstsucht einschränken, die Härte mildern und Barmherzigkeit fordern, und manche Grundsätze der Menschlichkeit sind auch unter heidnischen Völkern von höherer Gesittung zu allgemeiner Anerkennung gekommen.
Und dennoch bleibt wahr, was der Apostel Johannes heute uns sagt. Wenn wir fragen: Woher kennen wir die Liebe, welche uns ins Gewissen geschrieben ist und uns keine Ruhe lässt, bis wir sie am Werk sehen? dann müssen wir mit Johannes sagen: Wir haben die Liebe daran erkannt, dass er, unser Heiland, sein Leben für uns gelassen hat. Dass in der christlichen Welt von der Hütte bis zum Palast die Gebote der Menschlichkeit und der Barmherzigkeit gegen die Schwachen und Leidenden heute in einem Maße anerkannt und auch betätigt werden, wovon das kunstreiche Athen und das gewaltige Rom der heidnischen Vorzeit keine Ahnung gehabt haben, das ist nicht ein natürlicher Fortschritt menschlicher Bildung und Gesittung, sondern das ist eine Frucht des Lebens und Sterbens Jesu. Misericordias Domini, die Barmherzigkeit des Herrn, ist der Name des letzten Sonntags vor unsrer heutigen Feier. Das ist ein treffendes Abbild des inneren Zusammenhangs der Dinge. Nicht aus unsrer Herzensgüte fließen die Werke der rettenden und bewahrenden Liebe, zu welchen wir uns verbinden, sondern aus der unverdienten Barmherzigkeit unsers Gottes und Heilands, der sich aufgemacht hat, das Verlorene zu suchen, zu retten und zu bewahren. „Er hat sein Leben für uns gelassen“: nur dies eine nennt der Apostel, und es ist ja das Höchste, es ist die Krone des Lebens unsers Heilands. Aber das ganze Leben, das in diesem heiligen Sterben gipfelt, müssen wir vor Augen haben, um die Liebe, die in ihm uns als Vorbild erschienen ist, in ihrer mannigfaltigen Kraft zu erkennen. Wie ist er ohne Ruh und Rast umhergezogen als ein Wohltäter aller Leidenden! wie hat ihn des Volks in seiner geistlichen und leiblichen Not gejammert! wie hat er gerade zu den tiefst Gesunkenen sich am tiefsten herabgeneigt und hat den großen Sündern und den großen Sünderinnen seine rettende Hand so dargeboten, dass sie dieselbe ergreifen konnten und in der Leutseligkeit dieses heiligen Mannes die Barmherzigkeit Gottes an sich erfuhren. Und zuletzt das Kreuz, an dem er für seine Henker betete und in die finstere Seele des hingerichteten Verbrechers das Licht der göttlichen Gnade leuchten ließ und endlich sein Leben als ein Opfer für das Ganze in Selbstsucht verkommene Geschlecht dahingab. Das Bild dieses Lebens und Sterbens ruft, auch ohne dass menschliche Rede es deutet oder preist, allen Menschen zu: Seht, welch ein Mensch! seht, welch eine Menschenliebe! Aber wer lässt sich das nun gesagt sein? wen reizt dieses Vorbild zur Nachahmung? wen befähigt es zur Nachfolge? Es ist etwas, dass beinah alle, welche diesem Bilde jemals näher getreten sind, sich in Ehrfurcht vor demselben neigen und etwa auch einmal ihrer Selbstsucht sich schämen. Es ist etwas Großes, dass kaum jemand laut zu widersprechen wagt, wenn man sagt: die Selbstsucht bedeutet den Krieg aller wider alle; das Recht und das Gesetz stiften keinen dauernden Frieden und vermögen wenig zu tun, um dem Wachstum des Elends zu wehren; ohne selbstverleugnende Menschenliebe geht's nicht weiter und wird's nicht besser auf Erden. Aber erkannt ist damit die Liebe noch nicht. Eine wahre und zugleich fruchtbare Erkenntnis der Liebe hat doch erst der, welcher in der Stille seines Herzens sprechen kann: Auch für mich hat Jesus sein Leben gelassen; ich bin einer der Verlorenen, die er gesucht und mit seiner Liebe gemeint hat. „Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert.“ Ich wäre heute wieder ein verlorener Mensch, wenn ich mich losrisse von der Liebe Gottes, die in Jesus erschienen ist. Sie ist mein Trost in großer Not, mein Schirm gegen alles Unwetter, meine Hoffnung wider den Tod und auch die Kraft meiner Lebensarbeit. Darum soll das meine erste Sorge und mein letztes Gebet sein, dass die Gnade Gottes mich in seiner Liebe erhalte. Wer so in der Liebe Gottes bleibt, in dem bleibt auch die Liebe zu Gott, der hat auch die Brüder lieb, für welche Christus sein Leben gelassen hat so gut wie für ihn; er umfasst sie mit einer Liebe, welcher das Tun natürlicher ist als das Reden. Aus der erfahrenen Liebe Gottes und Christi fließt die Bruderliebe, welche die Seele aller echten inneren Mission ist; und von dieser ihrer Quelle hat die christliche Liebestätigkeit ihre Eigenart.
2.
Die innere Mission führt ihre Arbeiter in die ganze Mannigfaltigkeit des äußeren Lebens hinein. Da gilt es Kranke und Sieche zu pflegen und Armen das Brot zu brechen und Müßigen Arbeit zu schaffen. Da gilt es Wanderern Herberge zu schaffen, wo sie vor dem Argen geborgen sind, und selbst für die Bedürfnisse der Geselligkeit will gesorgt sein. Da gilt es Geld zu sammeln und zu geben, um die Werke christlicher Liebe in Gang zu bringen und zu erhalten; es gilt zu rechnen und zu verwalten, zu planen und zu bauen. Das alles liegt in der Natur der Sache und im Wesen der Bruderliebe, die zur Tat und damit zur Wahrheit werden will. Will sie den Menschen, die ihrer am meisten bedürfen, wirklich helfen, so muss sie dieselben suchen, wo sie zu finden sind, und muss sich ihrer annehmen je nach ihren besonderen Nöten und Bedürfnissen. Aber darin liegt auch eine Gefahr für die innere Mission, die wir nicht übersehen sollen. Was der Herr von den einzelnen Menschen gesagt hat, das gilt auch von dem Werk der inneren Mission: „Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele.“ Die Seele aber der inneren Mission ist die Bruderliebe. Wenn einer alle seine Habe den Armen gäbe, was doch sehr selten geschieht, oder wenn wir turmhohe Häuser bauten für die Werke christlicher Barmherzigkeit, oder wenn wir alle hohen Herren und alle Majoritäten zur Förderung oder Bewunderung unsrer Arbeit zu bewegen verstünden, und wir hätten nicht Liebe, so wären wir selbst doch nichts, uns wäre es nichts nütze, und es wäre sehr fraglich, ob wir andern viel Nutzen brächten mit unsrer seelenlosen Arbeit und unsrer liebeleeren Vielgeschäftigkeit. Es wäre nicht mehr des Herrn Werk, das wir treiben, und auf seinen Segen dürften wir nicht mehr hoffen. Ein Marthadienst ohne Mariensinn hat von jeher dem Herrn missfallen, und er ist derselbe heute wie gestern. Auf ihn und sein Werk müssen wir schauen, wenn unser Werk bestehen soll. Soll die innere Mission nicht Schaden leiden an ihrer Seele, soll die christliche Liebestätigkeit ihre Eigenart bewahren, dann müssen die, welche sich daran beteiligen, vor allem für ihre eigene Person sich den Zugang offen halten zu der Quelle, aus welcher die christliche Bruderliebe fließt; für sich selbst müssen sie daraus Trost und Kraft schöpfen. Es müssen mit einem Wort fromme, innige Christen sein, welche an der inneren Mission arbeiten.
Wie notwendig sie sei, erkennen wir erst recht, wenn wir bedenken, was wir eigentlich unternehmen und erstreben mit aller christlichen Liebestätigkeit. Es ist das ein so Großes und Schweres, dass man eine unversiegliche Quelle der Kraft haben muss, um dazu wirksam mithelfen zu können. Es könnte scheinen, als ob der Apostel in unserm Text, wo er von dem Tun der Bruderliebe redet, nur an sehr äußerliche und geringe Dinge denke, wenn er sagt: „Wenn jemand dieser Welt Güter hat und sieht seinen Bruder darben und schließt sein Herz vor ihm zu, wie bleibt die Liebe Gottes bei ihm?“ Das bestreitet freilich niemand, dass mit der Liebe zu Gott die Hartherzigkeit und die Gleichgültigkeit gegen die äußere Not des Nächsten sich nimmermehr vertrage. Aber wie es zur Zeit der Apostel nötig war, diese selbstverständliche Wahrheit in der Gemeinde wieder und wieder zu predigen, so wird es auch heute nicht überflüssig sein, je und dann daran zu erinnern, dass in einem Herzen, welches der Geiz hart und enge macht, Frömmigkeit wirklich nicht wohnen kann. Mit dieser Verneinung ist jedoch noch gar nicht gesagt, was die christliche Bruderliebe eigentlich erstrebt. Wer die Liebe daran erkannt hat, dass Christus für ihn gestorben ist, der ist darum nicht weniger ein Mensch von Fleisch und Blut und natürlichem Empfinden; der weiß darum nicht weniger, wie der Schmerz tut, und wie der Mangel drückt; und er soll das natürliche Mitgefühl mit äußerer Not ebenso wenig in sich selbst als ein Geringes verachten, wie an andern verachten; nein, er soll es in sich pflegen und darum, weil er ein Christ ist, nur mit umso fröhlicherem Herzen es in Wohltaten beweisen. Aber der weiß auch, dass es ein größeres Übel gibt als leiblichen Mangel und Schmerz, er weiß von einem Verderben der Seele, daraus der Herr ihn gerettet hat. Darum ergreift ihn auch tiefer, als die äußere Not, die er um sich her wahrnimmt, der Anblick der vielen Menschen, die allem Anschein nach ohne Glauben, ja ohne Gedanken an Gott, ohne Vergebung der Sünden und ohne eine Hoffnung des ewigen Lebens dahinleben und dahinsterben. Ja, die Freude an Gottes Schöpfung in ihrer Größe und Schönheit und die Freude an den Werken menschlicher Kunst kann ihm vergällt werden durch solche arme Menschen, für die doch Christus auch sein Leben gelassen hat. Wer aber dabei in der Liebe bleibt, die ihn gerettet hat, der fragt: was könnten wir tun, dass dieses Elends weniger werde? Nun, in großen Grundzügen hat der Herr durch sein Vorbild uns den Weg gezeigt, auf welchem wir seinen Fußstapfen nachfolgen sollen, wenn sein Sinn des Erbarmens unser Sinn geworden ist. Er hat durch die Tat gezeigt, dass die wahrhaftige Liebe Leib und Seele der Brüder retten will. Denn einem Kranken sagt er zuerst: „Dir sind deine Sünden vergeben,“ und hernach erst: „Stehe auf und wandle.“ Den andern macht er sofort gesund, ohne ihm zu sagen, wer er sei, und erst später, da er ihm wieder begegnet, sagt er ihm: „Sündige hinfort nicht mehr.“ Er speist die Tausende mit Brot, dass sie satt werden, aber am andern Tage predigt er von der unvergänglichen Speise, von dem Brot des Lebens, welches unsterblich macht. So sollen auch wir bei aller äußeren Hilfe, die wir den Heruntergekommenen leisten, das als das letzte und höchste Ziel im Auge behalten, dass wir die Liebe Gottes, die uns selig macht, denen, welche sie vergessen haben, wieder fühlbar und glaubhaft machen, damit sie auch gerettet werden. Aber wer ist dazu tüchtig? Meine Freunde, wer es je versucht hat, einen einzigen Menschen, der den Weg des Glaubens oder der christlichen Sitte verloren oder noch nie gefunden hatte, auf diesen Weg zurückzuführen, der weiß, wie schwer das ist. Das gelingt nicht mit angelernten Worten und auch nicht mit einigen Opfern an Zeit oder Geld, womit man sich loskaufen möchte von der Pflicht der Liebe. Das gelingt nur der Liebe selbst, welche wir den Brüdern schuldig bleiben, solange wir leben, und es gelingt nur der Liebe, welche das eigene Leben einsetzt. Oder sollen wir uns scheu zurückziehen vor der großen Forderung, welche der Apostel, als ob sie selbstverständlich wäre, an die Spike unsers Textes gestellt hat? Wie der Herr sein Leben für uns gelassen hat, so müssen auch wir das Leben für die Brüder lassen. Sein Leben lassen: das ist eine starke Zumutung, und wir sind nicht gewohnt, unsere Beteiligung an den Werken der inneren Mission unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Diese Forderung scheint eher für den Soldaten zu passen, der im Kriege sein Leben nicht für zu kostbar halten darf, wenn er nicht ehrlos werden will. Aber die Streiter Christi können nicht zurückstehen hinter denen, welche im Dienste eines irdischen Vaterlands kämpfen. Es handelt sich doch nur um Anwendung einer zweifellosen Grundwahrheit des Evangeliums auf ein einzelnes Gebiet des Lebens. Wer sein Leben behalten will, der wird es verlieren. Wer den eigentlichen Zweck seines Lebens darin findet, sein eignes Wohlsein zu sichern und zu mehren, wer da meint, seine Gaben und seinen Besitz, seine Kraft und Zeit diesem Zwecke dienstbar machen zu dürfen, der kann nicht nur andern nicht dienen und zum Leben verhelfen, der geht selbst zu Grunde. Wer aber sein Leben dahingibt, wer es in den Dienst des Herrn und damit der Brüder stellt, der wird das Leben gewinnen und zugleich andern zum Leben helfen. Dazu haben wir Anlass und Aufforderung in jedem Stand und Beruf: der Hausvater und die Hausmutter im Verhältnis zu ihren Kindern und Dienstboten, der Arbeitgeber und der Arbeiter, der Bürger und der Soldat, der Lehrer und der Arzt, der Mann der Wissenschaft und der Künstler. Sie alle können entweder sich selbst, ihren eigenen Vorteil und ihre eigene Ehren suchen dann nehmen sie Schaden an ihrer Seele und Gottes Segen ruht nicht auf ihrem Lebenswerk; sie alle können aber auch den Brüdern zu Dienst und dem Herrn zu Ehren leben, der sein Leben für sie gelassen hat. Wenn die meisten, welche Christen heißen, dies Teil erwählten, so würde wohl wenig von dem übrig bleiben, was wir Innere Mission nennen. Aber das wäre nur Gewinn, das wäre ein Himmel auf Erden; und was könnten wir Schöneres wünschen, als dass immer mehr Christen also wandelten und also wirkten, dass es in ihrem Bereich gar keiner besonderen Veranstaltungen bedürfte, um den Geboten der Liebe und der Barmherzigkeit genug zu tun. Aber wir wollen nicht träumen von einem Himmel auf Erden, sondern wollen nüchternen Blicks die Erde ansehen, auf die wir gestellt sind. Da sehen wir, dass die Liebe wie der Glaube nicht jedermanns Ding ist, und dass Schuld und Not zusammenwirken, um aus vielen Orten der Erde eine Hölle zu machen. Und weil dem so ist, darum reichen wir uns die Hand über die Schranken unsers besonderen Berufes hinaus, darum treiben wir Innere Mission.
Lasst uns dies edle Werk ferner treiben, nicht aus Furcht vor dem Umsturz der bestehenden Weltordnung, nicht aus Angst um die Sicherheit und das Behagen unsers eigenen Lebens, sondern aus Liebe zu den Brüdern. Der Herr aber, der uns zuerst geliebt und sein Leben für uns gelassen hat, er, der da reich ist über alle, die ihn anrufen, mache unsere harten, engen, armen Herzen weich und weit und reich. Er mache unsere Hände geschickt und geschäftig zu seinem und der Brüder Dienst. Er kröne mit seinem Segen alle Arbeit, die aus der Erfahrung seiner Liebe fließt. Amen.