Wirth, Kaspar Melchior - Zweierlei Lebensläufe und ihr Endergebnis.

Predigt über Pred. Sal. 2. 4-12, von K. M. Wirth, zweiter Pfarrer in Herisau1).

Andächtige Zuhörer!

Wie das Leben eines jeden Menschen, so klein und arm er auch sein mag, reich ist an Winken und Mahnungen aller Art, sobald wir nur in alle seine Entwicklungen und inneren, geheimen Vorgänge hinein blicken können; wie eines jeden Menschen Leben für uns entweder eine Warnungstafel ist, die uns bittet, andere Wege einzuschlagen, oder aber eine Stimme der Mahnung, die uns zur Nachfolge auffordert: - so ist auch das Resultat, das Endergebnis jedes Menschenlebens unendlich reich an Belehrung und Ermahnung; ist bald tief danieder beugend, bald aber begeisternd und erhebend; muss uns bald mit bitterem Schmerze erfüllen, bald aber mit heiliger, triumphierender Freude. Ein solches Endergebnis eines großen, glänzenden, berühmten Menschenlebens habt ihr so eben in den Worten unseres Textes kennen gelernt; es ist das des Lebens Salomos, dieses reichen, glücklichen und durch Weisheit berühmten Königs. Schon der erste allgemeine Eindruck seines Bekenntnisses, das er als Greis ablegte und in das er das Ergebnis seines ganzen Lebens niederlegte, kann wohl kein anderer als der einer innigen Wehmut sein. Also das hattest du, o weiser, großer und mächtiger Fürst, von all' deines Lebens Arbeit, Suchen, Streben, Genießen! O welch' ganz andern Eindruck macht doch eines Davids Greisenalter und Ende als das seines so hoch gepriesenen Sohnes! Ein David ist am Ende seines Lebens von keinem andern Gedanken bewegt, als dass doch nach seinem Tode dem Herrn, seinem Gott, ein Haus der Anbetung gebaut werde. Dafür zu sorgen und dafür alle Vorbereitungen zu treffen, ist noch sein letztes Anliegen; - ein Salomo aber ist von nichts mehr bewegt, nichts hat er mehr in sich als das traurige Gefühl der Nichtigkeit alles Irdischen, innerer Leerheit und Unbefriedigtheit. Von David, dem vielgeprüften Manne, dessen Leben durch so verschlungene Pfade sich bewegte, in alle Tiefen hinab, auf alle Höhen hinauf, steht geschrieben: „Und David starb voll Leben, Reichtum und Ehre!“ Von dem viel glücklicheren Salomo, dem das Leben fast lauter gute Tage bot, weiß die Schrift weiter nichts zu sagen als: „Und Salomo entschlief mit seinen Vätern, und ward begraben in der Stadt Davids, seines Vaters.“

Welch' ein Unterschied! Und woher anders kommt's als daher: in Davids inwendigem Menschen war ein kräftiges, religiöses Leben, das durch alle Schicksale und alle Verirrungen siegreich sich hindurch rettete; Salomo aber war nur zuweilen, in hoch ernsten Augenblicken religiös ergriffen, aber nicht dauernd religiös, und ließ noch in seinen alten Tagen durch die Gewalt sinnlicher Liebe sich abwenden von dem lebendigen Gott. Darum eben starb David voll Leben, Reichtum und Ehre; Salomo aber starb eben und damit Punktum!

Doch, meine Andächtigen, treten wir näher zu dem Selbstbekenntnisse des greisen Salomo. In unserer letzten Betrachtung über ihn soll er, so Gott will, uns noch die rechte Weisheit lehren. Möge es mir gegeben sein, ein rechter Dolmetscher seines Wortes zu sein, und, was der königliche Prediger allen Zeiten sagen will, so zu predigen, dass es manch' eine Seele ergreift und zu einem Leben treibt, das einst ein besseres Ergebnis hat als bloß das: „Es ist Alles eitel und Jammer!“ Unserer heutigen Betrachtung, die auf des greisen Salomo Bekenntnis sich stützt, geben wir die Überschrift:

Zweierlei Lebensläufe und ihr Endergebnis.

Zuerst betrachten wir: das Weltleben und sein Endergebnis, sodann: das Geistesleben und sein Endergebnis.

Herr! lass dein Wort heute fassen manch' armes Herz, das verstrickt ist in den Banden der Welt, und treffen; - aber gib, dass die Gnade mit treffe und in der getroffenen Seele dann das linde Wehen deines Geistes jenes Leben aufwecke, das aus dir geboren ist! Amen.

I.

Das Weltleben und sein Endergebnis betrachten wir zuerst.

Blickt hin, ernst und sinnend, auf den greisen Salomo. Als er alt geworden und die schwindende Kraft ihn an das nahende Ende mahnte, da trieb es ihn, zurückzublicken in sein vergangenes Leben und zu fragen: was habe ich nun von Allem? Was ist sein Ergebnis? Was habe ich als bleibenden Besitz hindurch gerettet durch alle vergangenen Tage? Wahrlich, der nahende Winter des Lebens zwingt Manchen, in stiller Stunde Rundschau zu halten über sein Leben und nach den Garben zu fragen, die er eingeerntet hat in die Scheunen seines inwendigen Menschen. Und nun, als Salomo zurück blickt, da ziehen sie vorüber vor seinem inneren Auge, die glanz- und tatenvollen Tage seines Lebens und die reichen Genüsse, die ihm geworden, und die Werke, die er geschaffen, und er kann sagen in Wahrheit: „Ich hatte es gut; ich war König über Israel zu Jerusalem; ich tat große Dinge, ich baute Häuser und pflanzte Weinberge; ich machte mir Gärten und Lustgärten, und pflanzte allerlei fruchtbare Bäume darein; ich machte mir Teiche, daraus zu wässern den Wald der grünenden Bäume; ich hatte Knechte und Mägde und Gesinde; ich hatte eine größere Habe an Rindern und Schafen denn Alle, die vor mir zu Jerusalem gewesen waren. Ich sammelte mir auch Silber und Gold, und von den Königen und Ländern einen Schatz; ich schaffte mir Sänger und Sängerinnen und Wollust der Menschen und allerlei Saitenspiel, und nahm zu über Alle, die vor mir zu Jerusalem gewesen waren, auch blieb Weisheit bei mir. Und Alles, was meine Augen wünschten, das ließ ich ihnen, und wehrte meinem Herzen keine Freude, dass es fröhlich war von aller meiner Arbeit!“ Das kann der greise Salomo bekennen! Aber nun? Was hat er als Ergebnis von dem Allem, als er am Rande des Grabes steht? Reich ist er, und hat ein reiches Leben gelebt! Ruhig kann er sterben, denn er ist glücklicher gewesen als je Einer, reich an Gold, reich an Ruhm, reich an Geist und Scharfsinn und Witz; sein Name ist in alle Länder gedrungen, und nicht spurlos muss er scheiden; Werke genug verkünden selbst der Nachwelt seinen Ruhm, Paläste und Lustgärten und Teiche. Glückseliger Greis, der du einen solchen Rückblick hast! - Doch nein! In seiner tiefsten Brust ist es doch so öde und leer! Hört sein Wort: „Da ich aber ansah alle meine Werke, siehe, da war es Alles eitel und Jammer, und nichts mehr unter der Sonne!“ Das ist seines glanzvollen Lebens Ergebnis! Arm ist er, bettelarm. Jenes Sehnen der Kreatur nach Frieden und Heil, das auch seine Brust bewegte; es war unbefriedigt geblieben von allem Flitter der Welt. Da steht Salomo an des Grabes Rande, und seine Schatzkammern, die vollen er mag sie nicht mehr ansehen; die Sänger und Sängerinnen mit ihren üppigen Melodien singen keinen Frieden in seine Brust; die Wollust der Menschen ekelt ihn an; seine Weisheit genügt ihm auch nicht. Es ist Alles nichts, Alles eitel und Jammer! Ein Weltleben hat er geführt; in bloß irdischen Bestrebungen, in der üppigen Pracht, die seinen Thron umgab, in dem Ruhme, der sein Haupt umstrahlte, hat er gelebt und gewebt und geatmet; in dem Allem ist allmählig viel höhere Liebe und viel himmlischer Sinn seiner Jugend zu Grunde gegangen; - nun erfährt er die Nichtigkeit alles Irdischen, und wie die Welt, selbst mit ihren glänzendsten Gütern und ihrem strahlendsten Glück, statt des Herzens ewige Bedürfnisse zu befriedigen, nur Leerheit bietet, Ekel, Überdruss, Jammer!

O ernste Predigt des königlichen Predigers! Dass sie tief uns zu Herzen dränge und es allgewaltig in Aller Seelen tönte, die nur einen Boden unter ihren Füßen haben, aber keinen Himmel über sich, das Klagelied eines der allerglücklichsten Sterblichen: „Da ich aber ansah meiner Hände Werke, siehe, da war es Alles eitel und Jammer!“ Jedes Weltleben hat dieses Ergebnis; Täuschung und Elend ist seine Frucht! Das predigt nicht Salomo nur. Von tausend Sterbelagern der Kinder unserer Tage ergeht dasselbe Wort, und tausend Andere sagen's zwar nicht, aber müssen's dennoch erfahren! Schaut hin! Welches Leben ist denn ein Weltleben? Geliebte! ich könnte euch aus allen Ständen und Klassen der Gesellschaft Bilder vorführen, die euch ein Weltleben schildern; es hat deren genug. Nur einige! Folget mir!

Wir gehen zuerst in eine niedrige Hütte, in ein zerfallenes Haus. Da herrscht Armut und Sorge Jahr aus und ein. Der Vater muss mit schwerer Arbeit Tag für Tag fast über Vermögen sich anstrengen, nur um seine Kinder vor Hunger zu schützen. Und er arbeitet auch. Früh steht er auf mit sorgenvollem Angesichte; er geht an die Arbeit, wie man ein Lasttier unters Joch spannt; er betet nicht, er arbeitet den ganzen Tag, aber hat niemals einen Gedanken an Gott, keinen Seufzer zu dem, der die Raben speist und die Blumen des Feldes schmückt; kein Spruch kommt ihm zu Sinne, niemals der: „All' eure Sorgen werft auf ihn, denn er sorgt für euch!“ So geht's die ganze Woche; Arbeit und wieder Arbeit, ziehen am Joch der Sorgen und wieder ziehen, aber nie ein Gebet, nie ein höherer Gedanke! Es kommt der Sonntag! Auch da kein Gebet, kein „Empor das Herz!“ Die Kirche besucht er nicht. Er sinnt, daheim brütend, über seine Armut nach, kommt auch am Tage des Herrn nicht aus seinen Alltagsgedanken heraus; er ruht nur leiblich, oder, wenn möglich, geht er zum Trunke und sucht dort Vergessenheit, oder trinkt nur bitteren Groll über sein Los in sich hinein. Da habt ihr ein Weltleben!

Wir gehen in ein anderes Haus. Es ist ein Palast. Da wohnt die Sorge nicht. Überfluss vielmehr, Üppigkeit, wohin du blickst. Da sind andere Leute drin, die haben genug in Kisten und Kästen. Der Herr des Hauses ist auch rastlos tätig; er hat ein großes Geschäft, ausgedehnte Verbindungen, er beschäftigt zahlreiche Arbeiter, er spekuliert und rennt und jagt nach den Gütern der Erde. Aber seine ganze Seele geht auf in seinem Geschäfte, und all' seine Liebe ist dem Gelde geweiht. Geld und Gut ist ihm kein Mittel nur zu etwas Höherem, ist ihm des Lebenszweck. Seine Seele ist an den Mammon verschrieben. Jahr aus und ein zieht kaum ein ernster Gottesgedanke durch seine Seele; seine Rechnungsbücher sind seines Geistes einzige Nahrung; bei all' seinen Unternehmungen hat er nur sich im Auge; gilt's ein gemeinnütziges Werk zu wirken er ist nicht dabei. Sein Herz ist kalt für alles Höhere, selten durchzieht's eine Regung wahrhaftiger Liebe. Das ist ein Weltleben!

Wir gehen in ein drittes Haus. Ihr kennt's bald! Mitternacht ist vorbei; drinnen aber sitzen sie, nicht in freundlichem Gespräche, bei frohem, würdigem Gesange, aber bei wildem Trinkgelage, bei Spiel und Karten, und führen leichtfertige Reden dazu. Wie Blitze fliegen Flüche hin und her. Sie vergeuden ihren sauren Verdienst oder wohl gar den Verdienst ihrer Frauen und Kinder, die daheim darben. So geht's fast alle Abende. Die Tage vergeuden sie mit Müßiggang, die Nächte brauchen sie zu Werken der Finsternis. Die führen ein Weltleben!

Und zum vierten Male kommt her. Da seht ihr Menschen, die einem Salomo gleichen. Sie tun große Dinge, sie glänzen als Redner in Parlamenten und auf Tribünen, sie bauen die größten Werke der Gegenwart und greifen aller Orten an mit frischer Kraft, wo etwas Gewaltiges zu erstellen ist; sie gönnen sich weder Ruhe noch Rast, oder sie genießen alle Genüsse der Welt; sie wehren ihrem Herzen keine Lust; ein Fest jagt das andere; wie die Bienen fliegen sie von einer Blume der Freude zur andern, oder sie schwärmen für die feineren Genüsse des Lebens; sie sprudeln von Humor, von Witz und von Geist; sie glühen für Kunst, für herrliche Gemälde, für erhabene Werke der Dichtkunst, für Musik und Tanz oder herrliche Gärten, oder auch für diesen und jenen Zweig menschlicher Weisheit: aber in solchen Dingen geht ihre ganze Seele auf, das ist ihr Eins und ihr Alles. Eine höhere Liebe hat keinen Raum in ihrer Brust; einen höheren Lebenszweck, als nach dem zu streben und das zu genießen, kennen sie nicht! Die führen ein bloßes Weltleben! Also mit Einem Worte: das Weltleben, das wir meinen, ist das Aufgehen im Irdischen, das Verschenken von Herz und Liebe, von Sinnen und Gedanken an irgendein Gut der Welt; ist das Leben im Diesseits bloß und für das Diesseits, das Wirken eines bloß irdischen Werkes; eben noch einmal, ist: wenn man bloß eine Erde hat und kennt, aber keine Ewigkeit und keinen Himmel über sich!

Und eines solchen Lebens Resultat kann nur ein nichtiges sein und ein erbärmliches. Die es führen, die gehen entweder innerlich so ganz zu Grunde, dass nur nie mehr eine höhere Sehnsucht in ihnen sich regt, oder es kommt ihnen noch die Stunde, da all' ihr Leben und Streben und all' ihr Besitz ihnen als völlig gehaltlos und verloren erscheint, und sie mit Salomo klagen müssen: „Es ist Alles eitel und Jammer!“ O ihr armen, armen Menschen, die ihr von keinem höheren Leben etwas wisst! Ach nein, wir zürnen euch nicht, aber weinen möchten wir über euch! Jetzt seid ihr noch so froh, und merket nicht den furchtbaren Riss, der durch euer innerstes Leben geht, und ahnt's nicht, dass doch dermaleinst euch Alles unter den Füßen weggerissen wird, und ihr keinen Boden mehr habt, und leer euch fühlet und arm; denn ändern könnt ihr's nicht: „Es kommt kein Menschenherz jemals zur Ruhe, bis es seine Ruhe gefunden in Gott!“ Wie es dem Salomo erging, so muss es Allen ergehen. Dass es denen so geht, deren ganzes Leben eine Last und eine Tagelöhnerarbeit war, und die nicht mit göttlichen Gesinnungen es zu verklären wussten, das versteht sich von selbst. Aber auch den Glücklichsten geht's so. Ach, an des Grabes Rand rufen Tausende im Rückblicke auf ihr Leben: o Eitelkeit der Eitelkeiten! All' die stolzen Werke, die du errichtet, und hättest du einen Babylonsturm erbaut; was helfen sie dir, arme Seele, wenn du von dannen musst? All' deine Tonnen Goldes, die du zusammen gerafft um den Preis deines höheren geistigen Lebens, wenn der Todeswurm in dir nagt, und die Seele, die nichts mehr kann, gar nichts als rechnen und zählen, und nichts hat, gar nichts, was in ihr selber läge als unentreißbares Eigentum, nun hinüber muss in die geheimnisvolle Ewigkeit, wo's keine Münzen mehr gibt und nichts mehr zu rechnen, als noch des Lebens Sündenheer zu addieren; - was helfen sie dir? Da gilt's: „Es ist nichts mehr unter der Sonne!“ Nein, für dich nichts mehr! „Alles schwindet hinter dir trittst du in des Grabes Tür!“ Ach Gott, ach Gott! wie gleichgültig wird euch einst im Alter, in der Todesstunde der Ruhm, der euer Haupt umstrahlte; wie werdet ihr von den Bestrebungen, vielleicht des größten Teils eures Lebens sagen: „Es ist Alles ganz eitel!“ Werden manche Redner auf ihre gehaltenen Reden zurück blicken, mit denen sie geglänzt, und trotz des „Bravo!“, das ihnen einst in die Ohren schallte, rufen: O Eitelkeit der Eitelkeiten! Und mehr noch: nicht nur Unbefriedigtheit, auch Ekel, Überdruss, Jammer ist nur zu oft des Weltlebens Ergebnis. Jene geist- und gehaltlosen Zerstreuungen, die nicht nur eure Erholung, nein, eures Lebens 3 weck waren, euer Eins und Alles; sie werden noch einst euch recht eigentlich anekeln. Jammer ist in ihrem Gefolge; sie lassen eine furchtbare Dede und Leere zurück. Jubelt nur zu, ihr Weltmenschen, die ihr nur für die Erde lebt, selbst eure schönsten Genüsse, sind sie euch das Höchste gewesen, der Zweck eures Daseins; es kommt die Stunde, da sie euch nichts mehr leisten und nichts mehr sind. Die schönsten Gemälde werden euch nicht mehr erheitern, wenn die ernsten Bilder der Ewigkeit vor das innere Auge treten. Oder wenn Anfechtungen über euch kommen, das arme Herz Ruhe sucht und Frieden, einen festen Anker, daran es sich halte, wenn Alles weichen will: eure geistreichen Schriftsteller schlagen euch dann keine Brücke ins Jenseits; euer eigener Witz und eure Weisheit ersetzt euch nicht den Mangel himmlischer Güter; eure Sänger und Sängerinnen richten das geknickte Rohr eures Geistes nicht auf; eure glänzenden Güter werfen kein sanftes Abendrot über euer greises Haupt; eure Musik kann euch nimmermehr den Frieden Gottes, der höher ist denn alle Vernunft, in die Seele hinein klavieren! Wer ein bloßes Weltleben führt, der hat nichts davon am Ende, als dass er sagen muss: „Da ich aber ansah alle meine Werke, siehe, da war es Alles eitel und Jammer, und nichts mehr unter der Sonne!“

II.

Doch mit diesem Bilde wollen wir nicht nach Hause gehen. Es gibt noch einen andern Lebenslauf. Betrachtet noch: das Geistesleben und sein Endergebnis.

Blickt hin auf einen andern Mann! Als der alt geworden und auch seine vergangenen Tage überschaute, da konnte er nicht mit Salomo sagen: „Ich hatte Paläste und Lustgärten und Gold und Sänger und Sängerinnen, und Alles, was meine Augen wünschten, ließ ich ihnen: Dieser andere Mann musste vielmehr im Rückblicke auf sein Leben sagen: „Bis auf diese Stunde leide ich Hunger und Durst und Blöße; ich habe keine gewisse Stätte; ich bin stets als ein Fluch der Welt und als ein Fegopfer aller Leute; ich bin drei Mal gestäupt, einmal gesteinigt, drei Mal habe ich Schiffbruch erlitten; ich bin in Gefahr gewesen zu Wasser, in Gefahr unter den Mördern, unter den Juden, unter den Heiden, in den Städten, in der Wüste, auf dem Meere, unter den falschen Brüdern, in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße.“ Und nun - der, dem das Leben fast nur Kampf und Drangsal bot, hat der auch am Ende desselben bekennen müssen: „Da ich aber ansah alle meine Werke und Mühe, die ich gehabt habe, da war Alles eitel und Jammer?“ Nein, nein! Er kann sagen: „Ich werde nun geopfert, und die Zeit meines Abscheidens ist vorhanden. Ich habe einen guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet und den Glauben behalten; hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit!“ Welch' ein Gegensatz! Welch' gewaltige Kluft zwischen diesen beiden Lebensläufen und deren Endergebnissen, zwischen Salomo und Paulus, zwischen dem: „Es ist Alles eitel und Jammer!“ und dem: „Hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit!“ Aber eben, Paulus hat kein Weltleben, er hat ein Geistesleben geführt; von einem hohen, großen, ewigen Gedanken war seine ganze Seele erfüllt, sein ganzes Ringen, Wirken, Streben beseelt; er wusste und hatte einen Himmel über sich; er trug in seiner Brust ein Fünklein jenes Lebens, das aus Gott geboren ist und innerlich hebt, trägt, bewahrt, vor dem Versinken in die Welt schützt, ja die Welt verklärt, beherrscht, überwindet!

Ja, Geliebte, es gibt ein Geistesleben, und das kann sich finden bei Menschen in allen Ständen und allen Lebensstellungen. Dies Geistesleben aber führt: wer von einem höheren, ewigen Gedanken durchdrungen ist; wer sich selbst nicht nur als Bürger dieser Erde, sondern als Bürger des Himmels erfasst; wer sich nicht fesseln lässt von der Erde Not und Herrlichkeit, sondern über sie herrscht; wer eine innere Welt hat und kennt in Mitten der äußeren, in der er sich bewegt; wer an einen ewigen Zweck seines Daseins glaubt und irgend ein höheres Werk wirkt als eines, das Erde ist und mit der Erde vergeht. Dies Geistesleben hat, wer innerlich religiös ist und an Gott gebunden mit allen Fasern seines verborgensten Wesens, und darum im kurzen, flüchtigen Leben sich irgendein Gut zu erwerben sucht, das in das ewige Leben bleibt. Schaut auch diesen Lebenslauf näher an! Wer ein geistiges Leben führt, der muss vielleicht auch lebenslang ins Joch schwerer Arbeit gespannt sein, und kommt nimmer aus den Sorgen heraus, muss vielleicht scheinbar niedrige Arbeit tun; Jahr aus und ein vielleicht in seinem Keller sitzen und weben; aber während seiner Arbeit webt er viel tausend fromme Gedanken und heilige Gefühle ein, und labt seine Seele allezeit aus dem frischen Borne des Evangeliums; ja, inmitten seiner äußeren Knechtschaft und unter der Sorgen zermalmendem Drucke wirkt er das Heil seiner Seele, und weiß einen inneren Reichtum sich zu erwerben, von dem ein Salomo in aller seiner Pracht und Herrlichkeit nichts wusste. Wer ein Geistesleben führt, der stößt die Welt nicht von sich; er fällt deshalb nicht in den entgegengesetzten Irrtum, der das äußere Leben mit seinen Gütern verdammt. Er nimmt Teil an seinen großen Bestrebungen, ist vielleicht auch ein tüchtiger Geschäftsmann, weiß auch zu erwerben und seine Güter zu mehren; aber er versinkt nicht in dem, er ergeht sich immer wieder in höheren Gebieten, atmet alle Tage neu auf in dem lebendigen Gott, und sucht vor Allem jene köstliche Perle des inneren Friedens, die mehr wert ist als alle Perlen der Welt. Das freilich ist nicht sein Grundsatz: „Was meine Augen gelüsten, das lass ich ihnen und wehre meinem Herzen keine Lust!“ Nein, er hält sich selber in des Geistes Zucht, er verleugnet sich selber, und will nimmer die innere Freiheit an goldene Ketten äußerer Genüsse tauschen; aber doch freut er sich vieler Güter der Welt, kann er sie haben. Freut sich seiner Gärten und Lustgärten und grünenden Bäume; aber ganz anders als ein Salomo. Freut sich nicht in üppiger, weichlicher Naturschwelgerei, sondern weil er in ihrem stillen, heiligen Walten den Odem des Allmächtigen erlauscht und Alles um ihn her ihm ein Buch ist, darinnen vom Ewigen in ahnungsreichen Zeichen geschrieben steht. Er wirft nicht weg Silber und Gold; aber mit diesen vergänglichen Schätzen weiß er sich Schätze zu kaufen, die Motten und Rost nicht fressen und denen die Diebe nicht nachgraben, noch sie stehlen. Er baut vielleicht auch ein schönes Haus; aber strebt vielmehr noch danach, dass er einst ein Plätzchen bekomme in dem jenseitigen Vaterhause, da viele Wohnungen sind. Er hört vielleicht auch gerne Sänger und Sängerinnen und allerlei Saitenspiel; aber vor Allem, weil ihre Klänge tiefsinnige und heilige Gefühle wecken in seiner Brust, die ihn über die Erde erheben, himmelan, in höhere, ewige Gebiete. „Eins ist Not!“ Dies Wort strahlt mit Flammenschrift in der Seele dessen, der ein Geistesleben führt. Er lebt in der Zeit für die Ewigkeit. Er wirkt an sich oder Andern irgendetwas Geistiges. Er sucht das Himmelreich nicht im Irdischen, aber er wirkt auf Erden fürs Himmelreich.

Und nun, ein solches Leben, und würde es vom ärmsten Tagelöhner gelebt, ein solches Leben hat ein ganz anderes Ergebnis. Und wenn es scheinbar nicht viel ausrichtet, tausend Bestrebungen misslingen und tausend edle Saaten desselben zertreten werden - es ist doch nicht eitel und Jammer! Ich frage euch: wo ist ein Vater, dessen heiligstes Anliegen es war, die Kinder zu Gott zu bringen und für den Himmel zu erziehen; der betete für sie und mit heiliger Liebe für sie sorgte; der am Ende seines Lebens sagen müsste: „Es ist Alles eitel und Jammer!“ Und selbst wenn die Kinder missraten wären, - er muss nicht so sagen; sein Leben hat doch ein bleibendes Ergebnis; er hat seine eigene Seele gerettet! Ihr Lehrer der Jugend! wenn ihr den Funken geistigen Lebens und höherer Begeisterung in eurer Brust getragen, wenn der große Gedanke eures Berufes euch durchdrang; o wenn ihr am Abende eures Lebens zurückblickt und nach dem Ergebnisse desselben Lebens fragt; wenn dann auch an tausend Kindern vielleicht eure Arbeit vergeblich scheint: - nein, nein, es ist doch nicht Alles umsonst gewesen, doch nicht Alles verloren; nicht umsonst und verloren diese Stunde und jene, da ihr selber religiös ergriffen wart und der Kinder Auge glänzte vor heiliger Bewegung; Etwas ist doch geblieben; ihr müsst wahrhaftig nicht sagen: „Da ich aber ansah alle Mühe, die ich gehabt, siehe, da war Alles eitel und Jammer!“ Und wenn in allen Kindern der gute Same erstickt wäre, - euer Tun war doch nicht eitel und Jammer; für euch hättet ihr Ewiges gewonnen! Wenn ein treuer Seelsorger am Lebensabende zurück schaut - ja, es ist wahr, er muss sagen: tausend Predigten vielleicht sind an Tausenden fruchtlos gewesen; es ist im Ganzen genommen nicht mehr Religiosität in meiner Gemeinde, als da ich mein Wirken begann; Viele sind kalt und tot geblieben; Viele, die einst in meine Hand gelobten, dem Herrn nachzuwandeln, sind wieder „hinter sich gegangen“: - er muss doch nicht sagen: „Da ich aber ansah alle meine Werke, siehe, da war es Alles eitel und nichts mehr davon unter der Sonne.“ War er von heiliger Begeisterung getragen, so kann er statt dessen mit Paulus triumphieren: „Hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit!“ Wo immer ein Christ sein religiöses Leben nie ersterben lässt, immer wieder nach allem Irren und Straucheln zu Gott sich wendet und Christi Liebe in sich trägt, auf Erden seinen Frieden sucht, nach seinem Reiche trachtet; seines Lebens Ergebnis kann nimmermehr sein: „Es ist Alles eitel und Jammer!“ Jedes Geistesleben hat bleibenden Gehalt; jedes Geistesleben trägt Frucht, die in das ewige Leben bleibt. Über aller Nichtigkeit und Eitelkeit der Welt schwebt es frei und groß. Aus seiner Saat reift Eine Garbe wenigstens, die gesammelt wird in die ewigen Scheunen!

Das, Geliebte, das sind die zweierlei Lebensläufe und ihre Ergebnisse, von denen ich reden wollte. Welchen wollt ihr wählen? Am Ziele des einen: Armut, Leerheit, Ekel und Jammer; am Ziele des andern: Frieden, Ruhe, die Krone des Lebens! Welchen wollt ihr wählen? O säumt nicht, die Jahre eilen pfeilgeschwind! Und je länger ihr ein Weltleben nur führt, desto schwerer wird's euch, der Erde Banden euch zu entwinden.

Aufgestanden drum zu höherem Leben, das etwas Besseres kennt als Seifenblasen, und etwas Besseres tut, als haschen nach Wind! Du aber, Herr, der du das Leben bist, komme du und wecke uns Alle auf zum Leben in dir; rufe du selber mit göttlicher Gewalt deines Apostels Wort uns in die Seele hinein: „Die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit!“ Amen.

1)
Diese Predigt bildete den Schluss einer Reihe von Betrachtungen über Salomos Leben.
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