Tholuck, August - Warum der Christ seine Anfechtung für eitel Freude achtet

Tholuck, August - Warum der Christ seine Anfechtung für eitel Freude achtet

Wenn wir uns nach einer Trennung wiedersehen, so fragen wir uns, wie es uns ergangen, und wir erhalten die Antwort: „Gut“! wenn wieder einmal eine Zeit verstrichen ist, wo uns nichts angefochten hat. Mit Neid blicken wir auf den Glücklichen neben uns, an dessen Lebensbaume niemals Stürme rütteln, mit Freude blicken wir auf ein Jahr zurück, wo das Schifflein des Lebens so recht sanft auf ebener Welle dahingeglitten ist, und was gäben wir nicht darum, wenn wir uns eine solche Zukunft bis ans Ende erkaufen könnten? Dieser Wunsch nun, von der Anfechtung befreit zu bleiben, ist auch an sich nicht verwerflich. Die menschliche Natur scheuet und flieht, was ihr wehe tut, und Verderben bringt; der Herzog unserer Seligkeit hat gebeten: „Ist es möglich, Vater, so gehe dieser Kelch vorüber!“ und uns, seinen Kindern, hat er die Bitte in den Mund gelegt: „Führe uns nicht in Versuchung!“ Aber ungeachtet der Herzog unserer Seligkeit gebetet hat: „Ist es möglich, Vater, so gehe dieser Kelch vorüber!“, so hat er den Kelch doch trinken müssen, und ungeachtet wir, seine Kinder, bitten: „Vater, führe uns nicht in Versuchung!“, so ist doch Versuchung von innen, Versuchung von außen, Versuchung von unten, Versuchung von oben. So muss denn doch wohl auch die Versuchung und Anfechtung ihr Gutes haben, so muss ein Schatz darin verborgen sein für den, der ihn nur zu heben versteht; denn von oben herab, von dem Vater des Lichts, kommt nichts, als gute und vollkommene Gabe. Diese Lichtseite der Anfechtung lasst in unserer heutigen Andacht uns erwögen, und zwar nach der Aufforderung des Apostels Jakobus an die Jünger des Herrn im ersten Kapitel seines Briefes: „Meine lieben Brüder, achtet es für eitel Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtung fallt“.

Vernehmt ihr es, ihr Seelen, auf denen Gottes Hand schwer ruht, die ihr euer tägliches Brot mit Tränen vermischt esset? Vernehmt aber auch ihr es, ihr leidensscheuen Kinder der Welt, die ihr froh seid, wenn ihr rufen könnt: Lasst uns das Leben gebrauchen, weil es da ist“? „Achtet es für eitel Freude“, ruft der Apostel, „wenn ihr in mancherlei Anfechtung fallt!“ Mit dem, was er hier sagt, stimmt ein Paulus überein, wenn er ruft: „Wir rühmen uns aber auch der Trübsal“! und wiederum: „Die göttliche Traurigkeit winkt eine Reue, die Niemand gereuet, zur Seligkeit“, und der Apostel Petrus: „Ihr Lieben, lasst euch die Hitze, so euch begegnet, nicht befremden, als widerführe euch etwas Seltsames, sondern freuet euch, dass ihr mit Christo leidet, auf dass ihr auch zur Zeit der Offenbarung seiner Herrlichkeit Freude und Wonne haben mögt“, und der Brief an die Hebräer: „Welchen der Herr lieb hat, den züchtigt er; er stäupt aber einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt; so ihr die Züchtigung erduldet, so erbietet sich euch Gott als Kindern; denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt?“ - Ihr seht, die Schrift eröffnet eine andere Ansicht von Leid und Trübsal, als der fleischliche Mensch sie hat. Christen sind Menschen, die zwar im Gefühl ihrer Schwachheit bitten: „Vater, führ' uns nicht in Versuchung!“, denen aber, wenn die Anfechtung dennoch kommt, auf der Stirn die Freude der Überwindung steht, während das Auge in Tränen übergeht. Warum der Christ seine Anfechtung für eitel Freude achtet, das sei also der Gegenstand unserer heutigen Betrachtung. Wir beantworten diese Frage, indem wir sagen: 1) Er weiß, von wannen sie kommt. 2) Er weiß, wohin sie führt.

1

Er weiß, von wannen sie kommt - von dem Vater unsers Herrn Jesu Christi, von dem allmächtigen, allweisen, allgütigen Schöpfer Himmels und der Erde. O dass sie das Alle gewiss wüssten, die den Namen Christi an sich tragen - die eine Hälfte der Last ihrer Anfechtung wäre schon von ihnen genommen. Sie wissen es freilich Alle, die weithin in der Christenheit wohnen, aber ob sie es auch glauben? mit zweifelloser Zuversicht glauben? Dass es eine Allmacht gibt, die die Welt und das Stäubchen, welches Mensch heißt, hält und trägt, das glauben sie wohl. Sie hören den allgewaltigen Sturm, welcher das Rad der Schöpfung treibt, sie hören den Schritt eines Riesengeistes, der durch die Geschlechter der Menschen schreitet, und sehen jene unwiderstehliche Hand, die hier eine Welt aus Nichts ruft, und dort eine Sonne auslöscht. Aber was das für eine Macht ist, was der unbekannte, allmächtige Geist für Gedanken dabei hat und für Zwecke - dass seine Macht die Macht einer väterlichen Weisheit und Liebe ist, das wird ihnen zu schwer zu glauben. O, und wie das schon allein alles Leiden unerträglich machen kann, dahinzuströmen als ein kleiner unbemerkter Tropfen in einem Ozean, dessen Wellen aus unbekannten Gründen sich ergießen, und hinströmen zu einem Ziele, das Keiner kennt! Wohl gibt es einzelne starke Geister, die auch bei solchem Glauben, wenn die Anfechtung und Trübsal auf sie hereindringt wie ein gewappneter Mann, nicht zusammenbrechen, sondern stehen bleiben wie der Wandersmann, der vor dem rasenden Sturm sich in seinen kleinen Mantel hüllt, und den Fuß gegen die Erde stemmt. Resignation, so nennen sie den eisernen Schild, den sie den Pfeilen entgegenhalten, die aus ferner, unbekannter Höhe auf sie herabgeschleudert werden. Kalt und eisern, wie ihr Herz, ist auch ihr Trost. Sie werden euch manchmal im Leben begegnet sein, jene verpanzerten Menschen, welche die feurige Prüfung des Herrn, statt zu schmelzen, in Stein verwandelt hat - aber kann es auch anders sein, wo die Macht, welche den Menschen in dem Schmelztiegel der Trübsal prüfen will, nicht als die Macht einer väterlichen Weisheit und Liebe erkannt wird? O wer von euch die Stimme des Sohnes zu Herzen genommen hat, der uns jenen Vater offenbar gemacht, den Keiner je geschaut hat, als sein eingeborner Sohn, der in seinem Schoße gelegen - fallt nieder mit seligem Danke dafür, dass wir wissen, dass alle unsere Anfechtung von der väterlichen Weisheit geordnet, und von der väterlichen Liebe geleitet wird! Sie wird von väterlicher Weisheit geordnet und von väterlicher Liebe geleitet; denn „wir wissen“, sagt der Apostel, „dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, die nach seinem Vorsatze berufen sind.“ In den Urgrund der Ewigkeit führt uns die Schrift zurück vor der Welt Grundlegung. Da hat der ewige Vater den Vorsatz gefasst, gerecht zu machen und herrlich, so viele ihrer das Wort, welches Fleisch geworden, aufnehmen würden zur Seligkeit. Könnt ihr euch aufschwingen, christliche Brüder, zu dem Gedanken, dass das, was in der Ferne der Ewigkeit, wenn der Gerichtstag wird gehalten sein, und die alte Erde und der alte Himmel nicht mehr sein wird, dass Alles, was dann sich an euch vollziehen wird, schon vor der Welt Grundlegung dagewesen ist vor dem Auge des Gottes, dem, wie die Schrift sagt, alle seine Kreaturen von Ewigkeit her bewusst sind, und der euch erwählt hat in Christo Jesu? So aber sagt es uns der Apostel: „Die er verordnet hat (nämlich vor der Weltgrundlegung), die hat er auch damals schon berufen, und die er damals berufen hat, hat er damals auch gerecht gemacht, und die er damals gerecht gemacht hat, hat er damals herrlich gemacht“. Ist dem also, christliche Seele, so weißt du dann auch, dass jede deiner Anfechtungen, jede trübe Stunde ist eingeordnet gewesen in den ewigen Plan der Friedensgedanken, die eine göttliche Weisheit und Liebe mit dir hatte; so ist von Ewigkeit her die Stunde gezählt, wo deine Anfechtung kommen soll; so ist von Ewigkeit her die Stunde gezählt, wo sie gehen soll; so sind auch die bitteren Tropfen gezählt, die in den Kelch fallen sollen; so ist das Maß gemessen, bis wohin die Woge der Trübsal dringen soll, und nicht einen Finger breit darf sie weiter. O was für ein über alle Maßen tröstlicher Gedanke, den der Apostel ausspricht: „Er lässt Keinen über seine Kräfte versucht werden „. Es gibt Augenblicke im Leben, wo in der Tat Schmerz und Drangsal der Anfechtung einen solchen Grad erreichen, dass der Mensch denkt: „Not einen Tropfen mehr in den Becher, und ich bin verloren“. Du, der du den Vater unsers Herrn Jesu' Christi nicht kennst oder nicht glaubst - und woher weißt du, dass dieser eine Tropfen nicht fallen wird? Die bloße Angst, dass er fallen könnte - und dann wäre es aus mit dir - wie die schon allein die Seele peinigt! O selig ist der Christ, der an das Wort der Verheißung glauben kann: „Er lasst Keinen über seine Kräfte versucht werden“. Du weißt mit Zuversicht, so viel der Herr Kampf gibt, so viel gibt er auch Kraft, so viel er Anfechtung gibt, so viel gibt er auch Geduld. Dir klingt es nicht mehr wunderbar, wenn der Apostel ruft: „Meine lieben Brüder, achtet es für eitel Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtung fallt“.

Warum er das als Freude betrachten soll, weiß der Christ; denn er weiß nicht bloß, von wannen die Anfechtung kommt, er weiß auch, wohin alle Anfechtung ihn führt. Verschieden werden die Sprossen der Leiter bestimmt, aber überall ist es der Ausspruch heiliger Schrift, dass die Anfechtung eine Himmelsleiter ist, die von der Erde, wo das Leiden geboren wird, zum Himmel reicht, in dessen Segnungen es sich verliert. So sagt uns z. B. Paulus: „Wir rühmen uns der Trübsal, dieweil wir wissen, dass Trübsal Geduld bringt, Geduld aber bringt Erfahrung, Erfahrung aber bringt Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zu Schanden werden“. Und wollte noch irgend einer daran zweifeln, so hat Gott selbst sein Siegel darauf gedrückt, o welch' ein gewaltiges Siegel: „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch den heiligen Geist, welcher uns gegeben ist“. So lasst uns denn betrachten, wie die Anfechtung uns zu diesem Ausgang führt, welcher unsere Hoffnung nicht zu Schanden macht. Der Schaden muss sehr tief sein, den nur ein tiefer Schnitt des Wundarztes heilen kann. Ist dies wahr, o wie tief muss dann der Schaden sein, an welchem die Menschheit leidet, wenn wir sehen, in wie starken Ausdrücken die Schrift von der Notwendigkeit der Anfechtung und Trübsal zur Reinigung und Vollbereitung des Menschen redet. „Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren, wer es aber verliert um meinetwillen, der wird es erhalten zum ewigen Leben“, sagt der Heiland. „Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt täglich, und folget mir nach, der ist mein nicht wert.“ „Es muss Alles mit Feuer gesalzen werden, gleichwie alles Opfer mit Salz gesalzen wird.“ Tod, Kreuz, feuriges Salz - das sind also die Geburtsstätten, wo jener neue Mensch zu Tage kommt, der nach Gottes Ebenbilde geschaffen ist. Wohl möchte man manchmal meinen, es müsste sanftere Wege geben. Soll denn nicht schon der milde Sonnenschein, der von oben herab in die Felsentäler des Erdenlebens fällt, soll der Strom guter und vollkommener Gaben, der wie der Gießbach vom Gipfel des Berges ohne Unterbrechung vom Vater des Lichts herniederstießt, soll der nicht schon ein hartes Herz weich machen können? Wir haben Augenblicke in unserem inneren Leben, Stunden eines kindlich beschämten und dankbaren Herzens, wo man es unbegreiflich findet, warum dies nicht der Fall ist; aber es ist wirklich nicht der Fall. In der Feuersaule der Nacht muss Gott dem Menschen erscheinen, in der Wolkensäule des Tages geht er unbemerkt vor ihm vorüber. Erst die Anfechtung, meine Brüder, lehrt uns, uns selbst erkennen; erst die Anfechtung lehrt uns beten. Darum singt die christliche Gemeinde:

Kreuz, wir grüßen dich von Herzen:
Komm, du angenehmer Gast;
Dein Schmerz wirkt keine Schmerzen,
Deine Last ist keine Last.
Unser Herr ist stets den Seinen
In der Liebe zugetan,
Wenn sie bittre Tränen weinen
Unter dieser Kreuzesbahn.

Darum glaubt es die christliche Gemeinde, wenn der Apostel ruft: „Achtet es für eitel Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtung fallt“.

Die Anfechtung lehrt uns, uns selbst erkennen. Alles, was Mensch heißt, trägt einen schwarzen, tiefen Abgrund in sich, vor dem ein Schleier hängt, bis die Stunde der Anfechtung kommt. „Es war ein Mann im Lande Uz“, sagt die Schrift, „der hieß Hiob; derselbe war schlecht und recht, gottesfürchtig, und meldete das Böse. Des Tages, da seine Söhne und Töchter aßen und Wein tranken in ihres Bruders Hause, des Erstgebornen, da kamen die Mörder aus Arabien, und schlugen die Knechte mit der Schärfe des Schwertes, da fiel das Feuer vom Himmel, und verbrannte die Herde der Schafe: da kamen die Chaldäer, und überfielen die Kamele, da kam ein großer Wind von der Wüste, und stieß an die vier Ecken des Hauses, und warf es auf die Söhne und Töchter, dass sie starben: da stand Hiob auf, und zerriss sein Kleid, und raufte sein Haar, und fiel auf die Erde, und betete an, und sprach: „Ich bin nackend aus meiner Mutter Leibe gekommen, nackend werde ich wieder dahin fahren; der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gelobet! In diesem Allen sündigte Hiob nicht, und tat nichts Törichtes wider Gott.“ Und wer von euch meint nun nicht, dass er in die innerste Seele des Frommen geschaut hat? Aber, Freunde, hinter dem Innern des menschlichen Herzens liegt noch ein Innerstes, und das war noch nicht aufgetan. Satan antwortete dem Herrn und sprach: Alles, was der Mann hat, lässt er für sein Leben; aber recke deine Hand aus, und taste seine Gebeine an, was gilt's, er wird dich ins Angesicht segnen. Der Herr sprach zu Satan: Siehe da, er sei in deiner Hand, doch schone seines Lebens. Da fuhr Satan aus vom Angesicht des Herrn und schlug Hiob mit bösen Schwären von der Fußsohle bis auf seinen Scheitel.“ Da, da erst geht das Innerste der geprüften Seele auf, und du stehest ihn rechten mit seinem Gotte. O ihr, die ihr törichterweise von keinem dunkeln Abgrunde eures Herzens etwas wissen wollet, und die ihr wohl auch zu einer Hiobsprüfung eure Schultern stark genug wähnet, „ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden in dem Kampfe wider die Sünde“, ruft euch der Apostel zu. Nein, einen dunkeln Grund trägt der Mensch in seinem Herzen. - Aus demselben quillet in der Stunde der Anfechtung zuerst Zweifel an Gottes Wort und Verheißung, dann Murren wider Gottes Willen und Beschluss, und tief, tief im Innersten krümmt sich zuletzt der Wurm, der ihm zulispelt: „Gib Gott den Abschied!“ Und zwar sind es für den Christen nicht die Dornen des äußeren Schmerzes, welche ihm die Stunden der Versuchung so bitter machen; o viel schärfer und schneidender nagt der Schmerz an seiner Seele, dass die Engel des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe ihn verlassen, und dass er statt dessen die Fittige des Fürsten der Finsternis um sich rauschen hört - dass er in seinem eigenen Herzen, was so gerne anbeten möchte, die Zweifel mit sich herumtragen muss, das Murren und den Trotz wider seinen Gott, das ist sein Jammer. Und so lange eben der Jammer und der Schmerz hierüber noch nicht geschwunden ist, so lange ist auch noch Hilfe da. Erstirbt aber auch dieser Schmerz, wird der Mensch gleichgültig gegen den Zweifel, das Murren und den Trotz, dann löschen alle Sterne am Himmel aus, dann wird's ganz Nacht und die Morgendämmerung - kommt vielleicht niemals wieder. In solchen Feuerproben lernt also der Christ erkennen, was er selbst ist. Die Beobachtung, die Manche ausgesprochen haben, ist richtig, dass es die gläubigsten und treuesten Knechte vorzugsweise sind, welche Gott mit so schwerer Hitze der Anfechtung von innen und außen zu prüfen pflegt, aber wer außer ihnen könnte das auch ertragen? Bist du daher noch nicht in solche Tiefen und Abgründe hineingeführt worden: o siehe das, wovon alle Heiligen. Gottes reden, nicht als das bloße Schreckbild eines Traumes an, sondern danke der himmlischen Güte, die auch an dir wahrwerden lässt, dass sie „Keinen über sein Vermögen versucht“. Wirst du freilich anfangen, wie es der Heiland nennt, „dem Himmelreich Gewalt anzutun „, wird dein, Christentum ernster werden, so wird die Zeit der Feuerproben auch für dich kommen; aber fürchte dich davor nicht, dann, dann wirst du auch erfahren mit allen Jüngern des Herrn, dass der Apostel mit Wahrheit ermahnet: „Meine lieben Brüder, achtet es für eitel Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtung fallt“.

Ja lernten wir in der Hitze dieser Anfechtung nichts kennen, als uns selbst und die Größe unserer Versuchlichkeit, so wäre dies wohl etwas Kummervolles, aber Bruder, auch Gott lernen wir in der Hitze der Anfechtung kennen, seine Heiligkeit, sein Erbarmen und seine Macht. Wir lernen seine Heiligkeit erkennen. Zwar ist auf Erden das Übel nicht überall nach dem Maße der persönlichen Schuld ausgeteilt. In einem gewissen Grade muss jeder Einzelne auch die Schuld der Gesamtheit mitleiden, und sein Teil davon auf sich nehmen; daher ist denn auch die Anfechtung, die uns am wehesten tut, zuweilen nicht eine selbstverschuldete. Doch auch bei dem Übel, was er selbst für seine Person nicht auf sich geladen, geht der Christ in sein Inneres zurück, und wird inne, was er für seine Person verschuldet hat. Es lehrt ihn, dass die Sünde, welche solche Übel in ihrem Gefolge haben kann, überhaupt ein Abscheu vor Gott ist, und indem er das aufs Neue fühlt, beugt er sich im Bewusstsein dessen, was in ihm selbst dem heiligen Gotte missfällt. Doch, wie viele Fälle gibt es auch, wo die Anfechtung, die über dich kommt, durch deine eigene Schuld gekommen ist! O wie oft sind es die Sünden der Jugend, die noch über das graue Haupt sich herlegen mit versengender Hitze! O wie oft ist es eine verborgene Schuld, von der außer dir selbst kein Mensch, sondern nur Gott weiß! Die Menschen kommen, und zeigen dir ihre Teilnahme, und weinen über dich als einen Unglücklichen; du aber kennst den Wurm, der innerlich nagt, und weinest über dich selbst die Reueträne der Schuld! So lange die Sünde noch nicht Gericht über dich gehalten, da wusstest du viel zu sagen von der nachsichtigen Liebe Gottes; jetzt weißt du, dass des Apostels Wort wahr ist: „Irrt euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten“, und „Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer“. O Jünglinge, lasst bei dieser Veranlassung mich euch mahnen: „Flieht die Lüste der Jugend“, sie möchten sonst auf euren Scheitel fallen, wenn er grau ist, und gerade dann euch den Schuldbrief vorhalten, wann ihr nur noch einen Schritt zum Gericht habt. - Mitten unter den Erweisungen seiner Heiligkeit lässt er dich aber in der Anfechtung auch sein Erbarmen und seine Macht erkennen. Freunde, wie viel hundert Male sagen wir uns es vor, dass Alles, was wir haben, die Gabe seiner Güte ist; aber ob wir das, was wir sagen, wohl einmal unter hunderten inne werden? Würden wir es inne, „Freunde, würden wir es inne bei jedem frischen Odemzuge der Brust, der uns das Gefühl des Lebens gibt, bei jedem Blick auf die Schönheit der Natur, bei jedem Blick auf unser Haus, Hof, Weib, Kind Alles, was wir unser nennen können, wie müsste dann schon und längst unser Herz ein Tempel Gottes sein! Ein Mensch, in welchem jeder gesunde Pulsschlag und jeder freie Odemzug den Klang eines Dankgebetes aufriefe, wie müsste der unter einem solchen fortgehenden inneren Glockengeläute und Psalmengesange der Andacht neu erbaut werden zu einem Menschen Gottes. Geliebte, sagen, dass Alles eine Gabe Gottes sei, und es inne werden, das sind zweierlei Dinge, zwischen denen oft eine unermessliche Kluft befestigt ist. O erst auf dem Krankenlager, wenn die röchelnde Brust keinen Odem findet, lernst du inne werden, dass jeder frische Odemzug eine Gabe Gottes ist; erst wenn der Todesengel über der Seele, die dir teuer ist, seinen Fittig schwingt, lernst du inne werden, dass sie eine Gabe deines Gottes war; erst in der Anfechtung, wo die Zeit der Seligkeit im Glauben und des Friedens der Kindschaft Gottes dir wie ein vergangener Traum dünkt, auf den du dich mit Mühe besinnen kannst, lernest du inne werden, dass jedes Tröpflein des Gottesfriedens eine Gabe Gottes ist. Darum hat man zuweilen gesehen, dass Christen, welche der Herr in ihrem Leben durch sehr schwere Anfechtungen führte, am Ende ein so weiches Herz bekamen, dass bei jedem Grashalm und bei jedem freundlichen Sonnenstrahl ihnen schon die Augen übergehen konnten wegen des unverdienten Erbarmens ihres Gottes. Mit diesem Erbarmen erfährst du dann auch zugleich seine Macht. Es kommt zuweilen mit dir dahin, dass du im Abgrunde liegst, und auch das kleinste Fädchen dir weggenommen wird, daran du dich halten und hinaufsteigen könntest, und nicht eher, als bis du inne geworden bist, dass keine andere Hand, als die aus den Wolken, dir helfen kann, greift sie herab aus der Höhe. Da lernen Christen, was es heißt, „auf nichts Vergängliches trauen“, da lernen sie, wie die Schrift es nennt, „hoffen, da nichts zu hoffen ist, an dem Unsichtbaren halten, als sähen sie ihn“.

In solcher Anfechtung lernt die Seele beten. O dass der Mensch auch selbst das Gebet durch Anfechtung muss kennen lernen! Was dünkt euch von dem Kinde, was durch Schläge erst seinem Vater danken und ihn bitten lernen muss? Mit unbesieglicher Gewalt, wie der verhaltene Strom, sollte das Gebet herausbrechen aus jedes Menschenkindes Brust; fröhlich und selig sollten wir jauchzen, dass wir zu dem, den der Himmel Himmel nicht fassen, reden und unsere kleine Sorge an das große Herz des Weltenschöpfers legen dürfen. Wisst ihr, wie es mich däucht um einen Sterblichen, der nicht beten dürfte? - wie wenn die weite, klare Himmelsdecke über uns, durch welche das Auge als in das Allerheiligste Gottes durchdringt, mit Grabtüchern verdeckt und verhüllet wäre. Es würde die Aussicht fehlen in die Weite und in die Höhe. O wie unbeschreiblich eng würde dem Menschen werden! Nun dürfen wir beten, und siehe, da vergessen wir es, und erst die Geißel muss über uns geschwungen werden, ehe wir daran denken. Ja, schrecklich ist es zu sagen, im eigentlichen Sinne gibt es Menschen in der Christenheit, die nur beten, wenn ein Gewitter am Himmel steht. Und kaum sind die letzten Donner verhallt, da steht die Lippe still, und steht still, bis - neue Donner erschallen. Es ist eine schreckliche Erfahrung, dass nur die Blitze des Himmels die Leitern sind, auf denen das Gebet zum Himmel anklimmt, während es doch auf jedem milden Sonnenstrahle, der herniederquillt, hinaufsteigen könnte und sollte! So aber ist es, der Mensch lernt seine Abhängigkeit von Gott und seine Schuld erst kennen, wenn er in der Feuersäule des Nachts erscheint, und ich darf es gewiss von uns Allen sagen, dass erst die Anfechtung uns mit Inbrunst beten gelehrt hat. Wenn nun aber, gleichwie der Leib tot ist ohne den Pulsschlag, also die Seele tot ist ohne das Gebet, und wenn wir nicht beten lernen ohne die Anfechtung, o wie könnten wir dann der Anfechtung entbehren, o wer muss dann nicht dem Kreuze entgegensingen:

Kreuz, wir grüßen dich von Herzen,
Sei willkommen, teurer Gast!
Dein Schmerz wirket keine Schmerzen,
Deine Last ist keine Last!

Wie sollen wir dann nicht dem Apostel recht geben, der uns zuruft: „Achtet es für eitel Freude, meine lieben Brüder, wenn ihr in mancherlei Anfechtung fallt!“?

Indem ich nun aber so den Segen der Anfechtung euch darstelle, denke ich zugleich derjenigen unter euch, denen, was das Wörtlein „Anfechtung“ besagt, bis jetzt fremd geblieben ist. Ihr glaubt, was ich euch gepredigt habe; ihr seid es inne geworden: ihr habt bis jetzt weder den Herrn noch euch selbst im Innersten kennen lernen; ihr fühlt es lebendig; „Mein steinernes Herz muss noch zertrümmert werden, o dass Er mich dreimal zu Boden würfe mit seinem gewaltigen Arm, damit ich weich würde und als ein bildsamer Ton in seinen Händen!“ Ihr, die ihr überzeugt seid, dass euer träges Herz Gewitterstrahlen braucht, um aufgeschreckt zu werden und Erdbeben, damit die alten Götzentempel einstürzen - was sollt ihr tun? Was lehrt euch die heutige Predigt? Sollt ihr bitten, flehen: „Herr, warum bist du doch so langmütig? Strafe mich doch in deinem Zorn! Wohlan, sende deine Blitze und Donner!“? Ich weiß es, dass es redliche Gemüter gibt, denen manchmal bange wird bei dem immerwährenden Sonnenschein über ihren Häuptern. Ihr kennt die Erzählung vom Ring des Polykrates, den er verzweifelt den Meereswellen opferte, um nur auch einmal unglücklich zu sein. O es ist eine sinnvolle Erzählung! Es gibt auch unter uns Menschen, denen solche Gedanken nicht fremd sind.

Und doch, Geliebte, das Evangelium Jesu Christi verlangt keinen Polykrates. Ja es verbietet dir, Mensch, dass du in deiner, sondern in Gottes Hand die Waage ruht, die da wägt, wie viel deine Schultern tragen können; darum, weil geschrieben steht: „Gott aber ist getreu, der euch nicht lässt versuchen über euer Vermögen“. Wenn also seine Donner über dir schweigen, während du auf den Knien um einen von ihnen bitten möchtest, o lieber Mensch, so sei nur versichert, dass du die Kraft deiner eigenen Schultern noch nicht hast erkennen lernen. Nimm fröhlich die guten Tage, die er dir schickt, als die Erweisungen seiner Langmut, und sei dankbar. Gott sei Lob und Dank! Wir Christen wissen von keiner Gottheit, die jemals des Guten neidisch würde, dessen der Sterbliche sich freut! wir wissen nur von einem Vater im Himmel, von dem „eitel gute und eitel vollkommene Gabe herabkommt, und der da gibt einfältig Jedermann, und drückt es Niemand auf“. - Allein, meine Brüder, die Sache verhält sich auch so, dass eigentlich um Anfechtung und Trübsal kein Einziger unter uns verlegen zu sein braucht. Sie ist da, ohne dass du sie zu suchen brauchst. Hast du nur das große Wort begriffen, dass wir alle Glieder eines Leibes sind, und darum kein einziges krank sein kann, ohne dass der ganze Leib mitlitte, so wird dir auch um Anfechtung nicht bange sein dürfen. O Teure, warum macht ihr die Anfechtung eurer leidenden Brüder nicht zu der eurigen? Kennt ihr nicht das: „wer wird schwach, und ich werde nicht schwach? wer wird geärgert, und ich brenne nicht?“ Kennt ihr den nicht, der, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, doch Knechtsgestalt angenommen hat, und sich erniedrigt bis zum Tode, weil er, wie er selbst sagt, „nicht in die Welt gekommen war, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen“? O dass wir es nur recht verständen, die Leiden unserer Mitbrüder zu den unsrigen zu machen, ihre äußere Anfechtung, ihren inneren Jammer, dann hätten auch wir über Mangel an Anfechtung wahrlich nicht zu klagen. Wohlan denn! wer von euch nach Tränen verlangt und nach Not, o der gehe noch heute und suche sich Weinende auf, mit denen er weinen könne, er wird nicht weit danach zu gehen haben. Ja, wenn unter uns Christen überhaupt das Mitweinen und das Mitfreuen nur gemeinsamer wäre, so würde auch alles Maß der Leiden und der Trübsal gleichmäßiger unter uns verteilt sein, und dahin soll es doch eben kommen, wenn wir wahrhaft einen Leib Jesu Christi darstellen sollen, und Einer des Anderen Glied sein. Indem ihr also mit der Anfechtung der Anderen mitleidet, werdet ihr dann aber auch, Geliebte, stark werden, dass eure eigenen Schultern die Lasten der Trübsal werden zu tragen vermögen, und seid ihr so stark geworden, so wird der Herr mit seiner heilsamen Zucht nicht ausbleiben.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/t/tholuck/hauptstuecke/tholuck_hauptstuecke_27_neu.txt · Zuletzt geändert: von aj
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain