Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Die Gleichnisse Jesu Christi - Das Gleichnis vom verlorenen Schaf. Lk 15, 1-7
1 Es nahten aber zu ihm allerlei Zöllner und Sünder, daß sie ihn hörten. 2 Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isset mit ihnen. 3 Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: 4 Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, so er der eines verliert, der nicht lasse die neunundneunzig in der Wüste und hingehe nach dem verlorenen, bis daß er’s finde? 5 Und wenn er’s gefunden hat, so legt er’s auf seine Achseln mit Freuden. 6 Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freuet euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. 7 Ich sage euch: Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen.
Die Pharisäer und Schriftgelehrten waren bereits gegen den HErrn erbittert und lauerten Ihm auf, ob sie in Seinen Worten Stoff zu einer Anklage gegen Ihn fänden (Lk 11, 53-54).
Der HErr konnte wenig mehr für sie hoffen, aber Er sah mit stiller Freude, wie anstatt jener eine andere Art Leute sich Ihm zu nähern suchten, nicht in böser Absicht, sondern mit dem Verlangen, Trost und Aufrichtung für ihre Seelen zu gewinnen.
Dies waren die aus der Gemeinschaft Israels Ausgeschlossenen oder in den Bann Getanen, welche, obwohl Juden von Herkunft, doch für unrein und den Heiden gleich geachtet wurden. Sie waren nicht allein von dem Tempeldienst und der Synagoge ausgewiesen. sondern wurden auch im gewöhnlichen Leben von den strengen Israeliten gemieden.
Unter ihnen mochten solche sein, die sich dem Gesetz zuwider mit heidnischen Frauen verheiratet hatten (Vgl. Neh 13, 23-31). Vor allem aber gehörten in diese Klasse der Sünder oder Unreinen die Zöllner oder Zollpächter, und zwar aus zwei Gründen:
Es galt bei den strengen Gesetzeslehrern für Unrecht, dem heidnischen Kaiser in Rom Steuern oder Zölle zu bezahlen. Nun wurde die Erhebung der Zölle an den Grenzen und an den Handelsstraßen von den römischen Statthaltern gegen eine bestimmte Summe verpachtet. Demnach traten die Juden, welche einen solchen Vertrag machten, auf die Seite der heidnischen Unterdrücker gegen das Volk Gottes.
Zu gleicher Zeit wusste man von ihnen, dass sie sich auf unrechtmäßige Weise bereicherten, indem sie von den Reisenden und Handelsleuten mehr verlangten, als in ihrem Tarif vorgeschrieben war, weshalb Johannes der Täufer ihnen zurief: Fordert nicht mehr, denn gesetzt ist.
Aus diesen Gründen waren sie mit dem großen Bann belegt und in bürgerlicher sowie in kirchlicher Hinsicht verachtet. Dazumal kamen nun sämtliche Ausgeschlossene jener Gegend, wo der HErr Sich eben aufhielt, zu Jesu mit dem Wunsch, Ihn zu hören; und als Er nicht nur ihr Gesuch annahm, sondern sogar öffentlich mit ihnen speiste, machte es einen Eindruck, wie wenn bei uns Jemand sich in einer Gesellschaft von kürzlich aus dem Zuchthaus entlassenen Sträflingen sehen ließe.
Darum murrten die eifrigen Gesetzesfreunde so sehr und sprachen die verächtlichen Worte: „Dieser nimmt Unreine auf und isst mit ihnen.“
Sie hatten Ihn bisher, wenn sie auch nicht an Seine göttliche Sendung glaubten, doch in Seinem ganzen Auftreten höchst achtungswürdig gefunden. Aber nun wurden sie auch daran irre, und meinten, andere irre machen zu können. Die göttliche Liebe wohnte nicht in ihnen; aber sie wohnte in Jesu, darum verstanden sie Seine Handlungsweise nicht.
Das Erbarmen mit denen, die unter die Herrschaft der Sünde geraten sind und in Gefahr stehen, ganz verloren zu gehen, war diesen gestrengen Richtern fremd. Aber dieses Erbarmen wohnte in dem Herzen des HErrn Jesu. Die Lehrer in Israel mochten gerechte Ursache haben, solche Zöllner usw. in den Bann zu tun, dieses macht ihnen der Heiland gar nicht streitig. Aber wenn sie die rechte Gesinnung in sich trugen, hätten sie den mit dem Banne Belegten die Thür der Rückkehr offen halten und keine Arbeit der Liebe scheuen sollen, um jene wieder auf den rechten Weg zu bringen. Sie hätten auf die Wiederkehr der Sünder hoffen und sich über das erste Zeichen der Umkehr freuen sollen.
Als der Heiland den Sündern die Thür der Buße auftat, hätten sie Ihn willkommen heißen und Ihm dafür danken sollen. Nun aber murrten sie: „Dieser lässt Sünder zu sich und isst mit ihnen.“
Sie ahnten nicht, dass ihre vorwurfsvollen Worte den höchsten Lobgesang auf die göttliche Liebe enthalten, die keinen Gefallen hat am Tode des Sünders, sondern daran, dass er sich bekehre und lebe. Ohne es zu wollen, legten sie durch ihre Beschwerde Zeugnis ab, dass diese göttliche Liebe und Barmherzigkeit, die vor Zeiten in den Worten der Propheten verkündigt wurde, nun in Jesu Christo persönlich erschienen war.
Der HErr spricht im Gleichnis von einem Manne, der in der öden Gegend, wo keine Wohnungen der Menschen stehen und kein Ackerbau stattfindet, sondern nur Gras wächst, eine Herde von 100 Schafen weidet, gleichsam auf einer Alm.
Das eine verirrte Schaf beschäftigt ihn mehr als die andern alle; wenn er es wiedergefunden hat, erfreut es ihn mehr als die übrigen und nach der Heimkehr in seine Behausung Teilt er den Freunden und Nachbarn seine Freude mit.
So viel Teilnahme zeigt der Mensch für ein Besitztum von ganz vergänglichem Wert und für ein unvernünftiges Geschöpf, das ihm selbst gar nicht ebenbürtig ist. Auf diese Weise sucht der HErr jene Vorsteher Israels zu beschämen. Sollten sie für die Irregegangenen aus ihrem Volke kein Herz haben, für ihre Wiedergewinnung keine Schritte tun und bei ihrer Rückkehr keine Freude empfinden?
Sollten sie nicht den unermesslichen Wert der Seelen, die in Gefahr sind, verloren zu gehen, zu Herzen nehmen?
Der HErr lässt sich herab, ihnen Sein eigenes Herz aufzuschließen. Er ist selber der Mann, der an diesem Tage die Freude über das wiedergefundene Schaf erlebt hat. Er freute sich im Geist, als Er Sich von den Zöllnern und Sündern umgeben sah, die auf das Wort des Lebens ans Seinem Munde horchten.
Die Pharisäer beleidigten Ihn sehr, indem sie Seine Gesinnung verkannten, ja sogar Seine Ehre antasteten. Aber Er erwiderte diese Beleidigung nicht, Er ließ sich nicht dadurch erbittern. Er ward nicht vom Bösen überwunden, Er suchte vielmehr das Böse mit Gutem zu überwinden.
Er redete Seine Beleidiger nicht als Feinde an, sondern als Freunde und Nachbarn. Er erwiderte ihre kränkenden Worte nicht mit einem Vorwurf, den sie verdienten, sondern mit der freundlichen Einladung: „Freuet euch mit Mir, denn Ich habe Mein Schaf gefunden, das verloren war.“
Vergessen wir es nicht, dass dies Worte Jesu an die Schriftgelehrten sind. Wir meinen so leicht: dass man pharisäisch gesinnte Fromme schroff zurückweisen dürfe. Hier aber lernen wir, wie milde der HErr auch mit solchen geredet hat. Ihre Lieblosigkeit gegen Ihn selbst und gegen die bußfertigen Zöllner verdiente die schärfste Rüge. Der HErr aber wählt ein anderes Mittel: Er sucht ihre kaltsinnigen Herzen durch Kundgebung Seiner Liebe zu erwärmen. Man bewundert mit Recht in diesem Kapitel die Liebe des HErrn zu den reuigen Sündern.
Lasst uns aber auch, was Wenige beachten, Seine Liebe zu den Pharisäern wahrnehmen und bewundern. Er hoffte sie noch zu gewinnen und Er ehrte in ihnen das Amt, das sie als Hirten des Volkes trugen.
Und nun lasst uns nachsehen, ob wir den Sinn Jesu haben, oder vielleicht unvermerkt mehr mit den Pharisäern als mit Ihm übereinstimmen?
Wenn große Sünder sich bekehren, wenn sie durch Gottes Barmherzigkeit aus dem Staube erhoben werden und zum Mitgenuss der vollen Segnungen des Hauses Gottes gelangen, dann freuen wir uns mit Jesu und mit den Engeln im Himmel.
Aber noch an andern Beweisen sollte man erkennen, dass wir den Sinn Christi haben.
Da wir so viel grobe Sünden und herrschendes Verderben um uns her sehen, so geben wir allzu leicht jeden Gedanken an die Bekehrung dieser Sünder und jede Hoffnung auf, sie begnadigt und geheiligt zu sehen.
Aber das ist nicht die Liebe Christi, das ist Ähnlichkeit mit den Pharisäern. Wenn eine kleine Gemeinde, wie wir, die Segnungen im Hause Gottes genießt, und sich mit diesem Genuss zufriedenstellt, während die Schaaren von Christen, die um uns her wohnen, geistlich verkümmern und teilweise moralisch verderben, so folgen wir nicht dem Beispiel des HErrn, sondern der Schriftgelehrten, welche, befriedigt durch ihre Einsicht in die Schrift und ihr Halten am Gesetz, nichts für dass die Bekehrung der Zöllner Taten.
Eine Gemeinde, ohne Eifer für Rettung der Sünder ohne herzliches Verlangen, den Verirrten die Hand zu reichen, eine Gemeinde, welche die Mühe oder den Spott der Menschen über solche Bekehrungsversuche scheut - eine solche Gemeinde krankt noch an Pharisäergesinnung.
Es ist gut und notwendig, dass wir vor allem durch einen heiligen Wandel ein Zeugnis ablegen, und dadurch Vertrauen gewinnen bei den Menschen. Wenn wir aber dieses Vertrauen nachher nie benützen, wenn wir nie dazu kommen, ein ernstes Wort über die nahenden Gerichte, über die Rettung der Seelen und über die Liebe des Heilands zu sagen - dann steckt gewiss noch etwas in uns von der Herzenskälte der Pharisäer. Denn was den HErrn an ihnen betrübte, war nicht allein das hässliche Murren über die Annahme der Sünder, sondern eben so sehr ihre Gleichgültigkeit und Untätigkeit bei dem geistlichen Elend, in welchem sich diese Ausgeschlossenen befanden.
Der HErr, der vom Himmel gekommen ist, und der allein uns sagen kann, was im Himmel vorgeht, schenkt uns einen köstlichen Aufschluss über die unsichtbare höhere Welt: „Also, sage ich euch, entsteht Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, wenn er Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.“
Also gibt es eine Welt von reinen und seligen Geistern, welche auf uns blicken, während wir sie nicht sehen, welche um unser Verderben und unsere Rettung wissen, während wir von ihnen nichts wissen, welche freiwillig und aus Liebe sich betrüben, und eine Einschränkung ihrer Seligkeit erleiden, wenn wir in Sünde geraten, und wiederum in die heilige Freude des HErrn einstimmen, wenn es Ihm gelingt, uns aus dem Verderben zu erlösen.
Solche Freunde haben wir, und nehmen es so wenig zu Herzen. So wirken unsere Taten in den Himmel, hinein und wir achten es nicht. In eine solche Verbindung mit Seinen heiligen Engeln hat Gott Seine Kirche gesetzt, und wir danken Ihm so wenig dafür.
Wenn wir mit unserer Demütigung Annahme bei Gott finden, wenn wir den Trost des Heiligen Geistes erfahren und dem HErrn für alle Seine Güte danken, so stehen wir mit dieser heiligen Freude nicht allein, die Engel Gottes empfinden sie mit uns und für Uns.
Ihre Freude wirkt in unsere Herzen mit hinein und es ist wirklich wahr, dass mit den freudigen Gebeten und Gesängen der Kirche Gottes auf Erden sich die Lobgesänge der heiligen Engel im Himmel vermischen.
Auch dieses Gleichnis hat einen tiefen prophetischen Sinn, der der alten christlichen Kirche wohl bekannt war. Schon der heilige Irenäus hat ihn angedeutet.
Der Sohn Gottes, durch welchen alles geschaffen ist, was im Himmel und auf Erden ist, die himmlischen Mächte und Gewalten ebenso wohl als die Menschenkinder, Er ist der große Hirte der Schafe, dem Eins von Seiner Herde verloren ging, während die übrigen sich nicht verirrten.
Die Engel im Himmel sind nicht irre gegangen und bedürfen der Buße nicht; der Mensch ist gefallen und zum Sünder geworden. Der Sohn Gottes hat den Himmel, wo die heiligen Engel verweilen, verlassen und ist herabgestiegen, um hienieden auf unwegsamen Pfaden das verlorene Schaf zu suchen. Er hat den Weg der Erniedrigung nicht gescheut. Er vertauschte die Herrlichkeit, die Er dort bei dem Vater hatte, mit der Knechtsgestalt, und Er ging den Weg des Leidens und des Gehorsams, um das verlorene Schaf zu retten.
Was Ihn dazu bewogen hat, das war die Liebe zu Seinem Geschöpf, denn während Er in uns Verderben und Gräuel sah, hat Er doch nicht vergessen, dass wir das Werk Seiner Hände und ursprünglich nach Seinem Bilde geschaffen sind.
Er hat das verlorene Schaf gefunden und, weil es den Rückweg nicht selbst wandeln konnte, es auf Seine Schultern genommen und in Seine Wohnung heimgetragen, d.h. Er hat die menschliche Natur ergriffen und angenommen, um sie zu retten.
Er hat unsere Menschheit als eine Bürde auf sich genommen und getragen, und wahrlich, die übernommene Last ist Ihm schwer geworden, denn Er hat mit unserer Menschheit zugleich die Sünde der Welt auf Sich geladen. Er ist auf dem Wege unter dieser Last erlegen, aber Er ist wieder auferstanden von den Toten, und Er hat nun unsere menschliche Natur als eine gerettete, geheiligte und verklärte heimgetragen in die himmlischen Wohnungen, wo Er sie heilig und unsträflich vor Seinem Vater darstellt. Dort hat Er Seine Freunde und Nachbarn zur Mitfreude aufgefordert, und sie haben sich mitgefreut.
Schon bei Seiner Geburt auf Erden, als Er Sein verlorenes Geschöpf wiedergefunden hatte, lobsangen die himmlischen Heerschaaren in reiner Freude über das uns widerfahrene Heil. Und als Er bei Seiner Himmelfahrt in die Herrlichkeit aufgenommen wurde und den Engeln erschien, als Er die geheiligte Menschennatur zum Throne seines Vaters erhob, lobsangen aufs neue die Heere des Himmels und freuten sich mit dem großen Hirten der Schafe über das gelungene Wunderwerk der göttlichen Liebe.
Was wird es aber erst sein, wenn Er die Erstlinge Seiner neuen Schöpfung, wenn Er Seine heilige Kirche aus der Richtigkeit des Erdenlebens und aus dem Staube des Todes erheben und in jene Wohnstätte einführen wird, die Er ihr beim Vater bereitet hat!
Dann erst ist das Werk Seiner Liebe an Seinen verlorenen und wiedergefundenen Geschöpfen zum Ziele geführt. Dann wird Er aufs neue die Aufforderung aussprechen: „Freuet euch mit mir“, und ans allen Himmeln wird Seine Freude widerhallen.