Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl - Zeugnis eines Freundes, der beinahe 25 Jahre einen vertraulichen Umgang mit Gerhard Tersteegen gepflogen hat.
Es waren beinahe 25 Jahre, worin ich kindlich, offenherzig und vertraulich mit dem seligen Freunde Gerhard Tersteegen umgegangen, da er auch hinwieder gegen mich ein recht liebend und brüderliches Herz getragen und bis an sein seliges Ende behalten hat. Ehe ich ihn noch kannte, hörte ich schon von einem unparteiischen Gelehrten dies treffliche Zeugnis: Der Mann ist wahrlich ein Freund Gottes! Dies Zeugnis kann ich mit gutem Gewissen bekräftigen. Der Mann war wahrlich ein Freund Gottes. Dass Gott ihm seine Gunst und Liebe reichlich zufließen ließ, habe ich vielfältig bemerkt, gesehen und erfahren. Sein ganzer Wandel schien ein Liebesumgang mit Gott zu sein. O welch eine Erhabenheit, Andacht und friedensvolle Stille habe ich zu meiner nicht geringen Erbauung und Stärkung oft an ihm erblickt! Wie er nun ein Freund Gottes war, so konnte man ihn auch mit Wahrheit einen Freund der Menschen nennen. Nichts wollte er von dem, was Gott ihm mitteilte, für sich behalten, sondern ließ es alles an seine Freunde ausfließen. Was ich und andere davon erfahren, ist meine Feder unvermögend auszudrücken; sonderlich wenn ich des Morgens den ersten Besuch bei ihm hatte, und er aus seiner Einsamkeit kam, dann war es eben, als wenn er in der Gemeinschaft Gottes gewesen wäre. Er war dergestalt liebreich, andächtig und ehrerbietig vor dem gegenwärtigen Gott, dass ich mit in diese Fassung gesetzt und des Friedens Gottes teilhaftig wurde. O könnte ich es nur sagen, was mir Gott durch diesen seinen Freund geschenkt hat! Ich danke dem HErrn von ganzem Herzen, der mir vergönnt hat, ihn kennen zu lernen, und der seinen Umgang so kräftig an meiner Seele gesegnet hat.
Wie ich ihn im Jahr 1744 das erste Mal besuchte, da gewann ich gleich eine solche Hochachtung gegen ihn, dass er mir wichtiger wurde als alle Frommen, die ich sonst kannte; doch war er mir für die Zeit noch zu stille und zu andächtig, so dass ich etwas Furcht vor ihm behielt, vielleicht zu meinem großen Nutzen; denn zwei bis drei Jahre hernach kam ich in die Versuchung, allzu viel auf meinen Leib und dessen Gesundheit zu merken. Allein, wie liebreich, aber auch wie ernstlich entdeckte er mir dieses und die übergroße Liebe zu mir selbst! Durch seine Liebe und Hilfe wurde ich aus derselben errettet und von der Zeit an ward mir eine größere Liebe zu meinem Gott und Heilande, und auch zu meinem Freunde Tersteegen gegeben, die von 1747 im Frühjahr bis an sein seliges Ende nicht wieder gewankt hat, wofür ich Gott herzlich danke. Was ich nun in den übrigen 22 Jahren durch ihn von Gott genossen, das weiß der HErr am besten. Wie oft bin ich bedrängt und bedrückt zu ihm gekommen, da sein bloßes Ansehen mich schon wieder ermunterte. Wenn ich vorher vieles zu sagen und zu klagen hatte, so fielen mir oft die Lasten dergestalt weg, dass ich sie nicht einmal brauchte zu sagen und in einen stillen und inneren Frieden gezogen ward. Von einem einzigen Besuch blieb mir so viele Stärkung übrig, dass ich einige Wochen lang umso genauer in Verleugnung und Gebet wandeln konnte.
Nun will ich auch von seiner inneren Gestalt dasjenige stammelnd erzählen, was ich davon weiß und sagen kann. Der Glaube an seinen lieben himmlischen Vater, und an Jesum Christum, seinen geliebten Sohn, war sein einziger Grund, worauf er baute. Er sagte einst zu mir: Wenn ich nur denke: Gott ist, so wird mein Inneres in die tiefste Ehrfurcht und Anbetung gesetzt. Im Glauben auf diesen so nahen Gott konnte er alles wagen; Gesundheit, Leben, Wohlstand, Freude, ja alles hatte er so an Gott übergeben, dass er nicht leicht durch einen Vorfall beunruhigt ward. Dann hatte er eine fröhliche Hoffnung auf den lebendigen Gott, dass er auch ihm Jesum Christum zur völligen Erlösung, Gerechtigkeit und Heiligung geschenkt habe; dass auch er durch Jesum an jenem Tage fröhlich auferstehen und mit Ihm in seine Herrlichkeit eingehen werde. Diese seine Hoffnung gründete sich einzig und allein auf die pure Gnade. Wie ihn einst an seinem Geburtstage einige Freunde zusammen besuchten, sagte er: „Freunde, wenn ich heute sterben sollte, dann hätte ich euch nur drei Worte zu guter Letzt zu sagen: 1) Setzt euer ganzes Vertrauen auf die Gnade Gottes in Christo Jesu. 2) Liebt euch untereinander. 3) Wachet und betet!“
Aus diesem floss die Liebe zu Gott, die das Triebrad aller seiner Bewegungen war. O wie erquickte es seine Seele, wenn Gott geliebt und geehrt wurde. Er hätte gerne allen Kreaturen zugerufen: Gott ist die Liebe! Aus dieser Liebe Gottes floss die Liebe zu allen Menschen, besonders zu denen, die Gott suchten und liebten, welches alle, die ihn gekannt, nicht genug bezeugen können; denn vom Morgen bis zum Abend war seine ganze Beschäftigung, Gott und dem Nächsten zu dienen.
Durch seine Demut und Niedrigkeit hat er mich viel erbaut. Er war dadurch bei Gott und Menschen, bei Großen und Kleinen beliebt. Er wollte gern stets der Niedrigste sein; auch da, wo er billig hätte befehlen sollen, da erwählte er zu gehorchen. In meiner Gegenwart fiel einmal eine Sache vor wegen des öffentlichen Redens am Sonntage; da sagte er zu seinem Hausgenossen: „Sage mir, wie ich es machen soll, so will ich es tun.“ Wenn man ihn groß achtete, das demütigte ihn sehr! Mündlich und schriftlich bezeugte er das und schrieb unter andrem einmal diese Worte: „Es demütigt mich in Wahrheit, dass ihr Euch an meiner schlechten Person so viel gelegen sein lasst.“ Deswegen war es ihm auch entgegen, wenn einige Gemüter ihm gar zu sehr anhingen; und wiewohl er diese, wie andere Schwachheiten mit Geduld trug; so gab er dennoch darüber zuweilen ernstliche Erinnerungen. Zum Exempel: Eine Freundin sagte einmal zu ihm: „Wenn ich bete und denke an Euch, dann ist es mir so wohl.“ Er antwortete: „Beten musst Du, und Gott suchen; aber Tersteegen geht Dich nicht an, den lass liegen, wo er liegt.“
Seine Geduld und Tragsamkeit mit den Schwachen und Strauchelnden, mit gefallenen Seelen, war nicht nur groß, sondern übergroß. Das können noch viele Lebende bezeugen, denen er durch Sanftmut und Liebe wieder zurecht geholfen. Anstatt strenge zu sein, war er mütterlich und ermahnte sie auf das liebvollste, dass sie ihre Sünden ernstlich meiden und auf Gnade zu Jesu kommen müssten. Dies machte den Seelen Mut, es wieder aufs Neue zu wagen. Was er aber durch die Untreue andrer oft leiden musste, das kann meine Feder nicht ausdrücken. Es war eben, als wenn ihm andrer Last aufs Herz gefallen wäre. Indessen war er auch in anderen Vorfällen recht ernst die Seelen zu bestrafen; ihnen die Tücke ihres Herzens, ihrer Eigenliebe und ihres Hochmuts aufzudecken, und ihnen das Gewicht ihrer Sünden recht aufs Herz zu legen. Besonders aber war ihm alle Doppelherzigkeit und Falschheit zuwider, welche er jederzeit mit Ernst bestrafte.
Besonders hatte ihm der liebe Gott ein großes Maß der Geduld geschenkt, die er in seinen vielen Krankheiten, Leiden und großen Schmerzen recht vorbildlich ausgeübt. Das Liedchen: „Sollt ich nicht gelassen sein in der Kreuzesnacht und Pein rc.“ soll er einst in den größten Zahnschmerzen kniend geschrieben haben. Weil er nun seinen Gott und Heiland als Liebe kennen gelernt, so konnte er sich auch den Liebeshänden desselben im Kreuze so ruhig überlassen. Einst schrieb er mir in Krankheit und Leiden folgendes: „Kurz ich, und wir miteinander, werden von einem schwachen Lebensfaden getragen, der so lange halten wird als Gottes Macht und Weisheit solches zu unserm Heil gut finden wird. Dir, mein Gott, bin und bleibe ich auf Leben und Sterben völlig und ewig überlassen in dem Namen Jesu.“
Darum war ihm die Verleugnung seiner selbst keine Verleugnung; denn er nahm mit Willigkeit alle Lasten und Beschwerden über sich, die in der Bedienung der Kranken, auch wegen der häufigen Besuche und weitgehenden Korrespondenz über ihn kamen. Er war oft so ermüdet, dass ihm das ganze Angesicht mit Schweißtropfen bedeckt war; dennoch hatte er sein Leben nicht lieb, sondern gab es hin für seine Brüder, indem ihm gegeben war alles aus der Hand seines himmlischen Vaters anzunehmen. Seine Gedanken und Vernunft wusste er gleicherweise zu verleugnen und unter den Gehorsam Jesu Christi gefangen zu nehmen, damit sein eignes Wirken gänzlich aufhören, Gott aber und dessen Gnade sein Inneres ungestört beleben und erfüllen möchte.
Die Gabe seines Gebets habe ich kräftig und voller Salbung an mir erfahren. Er hatte ein betendes Herz und auch eine betende Gestalt. Wenn ich nach zwei- oder dreitägigem Besuch Abschied nahm, so sangen wir ein Liedchen und nach diesem betete er mit solcher Andacht und Salbung, dass ich oft gleichsam über mich selbst erhaben wurde und dadurch einen solchen Liebeseindruck von Gott empfing, der meinem Inneren lange wohl tat; sein Angesicht war alsdann so heiter und fröhlich, als wenn er mit Gott persönlich geredet hätte. Von seiner Einkehr werde ich wohl wenig sagen können, weil ich noch nicht mit ihm in diese tiefe Sammlung und Stille eingegangen bin. Dies kann ich doch sagen: Alle seine Liebeskräfte zog er von allem Geschaffenen gänzlich ab, um in dem Grunde seiner Seelen mit dem Liebesgott und Heiland und eine desto innigere Gemeinschaft pflegen zu können. Hier folgen seine eigenen Worte, aus einem Brieflein:
„Alles, was in mir ist, neigt sich so zur Ruhe. Der Geist hat zwar eine solche Ruhe geschmeckt, dergleichen in allem Geschaffenen nicht zu finden; er ruht auch noch im Kreuz in dem Liebeswillen Gottes: aber, aber, es ist noch eine große vollkommene Ruhe (Hebr. 4, 9), danach sehnt er sich; die möchte er auch gerne erfahren, und auch noch bei Leibesleben möglichst zu erfahren, sollen wir uns befleißigen, (ach HErr hilf!) uns ausleerend, dalassend, vergessend, uns bückend und schickend, uns abgeschieden vor, bei und in Gott haltend! Bald wird doch gewiss kommen, der da kommen soll.“
Seine innige Gemütsgestalt leuchtete aus seinem ganzen Wandel hervor. Wenn ich allein bei ihm saß, so kam es mir oft vor, als ob er bei seinem Herzensfreunde im Kabinett gewesen wäre. Einstmals sagte er auf Befragen zu mir: „Ja ich sitze und rede mit Dir, aber in meinem Inneren ist so ein immerwährendes Beugen und Anbeten.“ In diesem eingekehrten innigen Grunde hat er viele Mitteilungen und Geheimnisse von Gott erfahren. Er hat auch vieles davon aufgeschrieben, das wir erst einsehen werden, wenn uns die Augen einmal weiter geöffnet sind, und wir uns in diese Gemütsfassung werden einführen lassen.
Von seinem Umgang mit Gott kann ich dies mit seinen eigenen Worten bezeugen, die er einst zu mir sagte: „Ich kann mit Gewissheit sagen, dass Gott einer Seele so allgenugsam werden kann, dass sie in einer Wüste ohne lebenslang einen Menschen zu sehen, wohnen und mit Gott allein vergnügt und zufrieden leben könne.“ Auch hat er zu verschiedenen Malen dies zu mir gesagt: „Ich danke Gott, der mir ein Kämmerlein gegeben, worin noch nie eine Kreatur mit eingegangen.“
Dies ist es, was mir von unserm seligen Freunde Gerhard Tersteegen eingefallen ist. Die gütige Vorsehung hat es so gefügt, dass ich die drei letzten Tage und Nächte vor seinem Ende bei ihm gewesen, und ihm einige Handreichung tun konnte. Sein Leiden war übergroß; sein geduldiges Beharren aber, sein kindliches und vertrauliches Überlassen an Gott stärkt mich noch bis auf diese Stunde.
Wir wollen seiner oft gegebenen Lehre nicht vergessen: Alles ist Gottes, Ihm gebührt auch von allem die Ehre. Die Gaben und Gnade, welche er besaß, waren ihm von Gott, aus Liebe für andere gegeben. Der Name des HErrn sei gelobt immerdar für all den Segen, den er durch seinen treuen Diener gewirkt hat! Amen.