Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl - Stille und Einfalt sind erforderlich, um mit Gott vereint zu bleiben.

Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl - Stille und Einfalt sind erforderlich, um mit Gott vereint zu bleiben.

Von Herzen geliebte Brüder in dem HErrn!

Ich wünsche, dass Euch dieser Brief noch treu bei dem HErrn finden möge. Es war mir, Geliebteste, erquickend, dass wir diesen Sommer noch einmal auf unsrer Pilgerreise aus der Zeit in die süße Ewigkeit zusammenkommen konnten. Wie oft habe ich mich seitdem in meiner Kränklichkeit bewogen gefühlt, Euch beiden, meine lieben Reisegefährten, die ich ungesucht fand, alle Stärkung, allen Trost und Fortgang auf dem verborgenen Wege des Herzens zu wünschen, wiewohl ich dies nicht immer wegen vielerlei Abhaltungen mit der Feder tun konnte.

Ach!, dass doch das teure Evangelium vom Reiche Gottes, das uns vor vielen Tausenden verkündigt worden, tief in unseren Herzen eingegraben bleibe möge! Wie weit ist in dem teuren Namen Jesus das selige Gottesreich in unserm Seelengrunde geöffnet; wie nah ist es gekommen, um auch in unserm Inneren wirklich geoffenbart zu werden, wenn wir nur wie einfältige, stille Schäfchen auf die Stimme unsres guten Hirten, der so gern das suchen und sammeln will, was noch zerstreut in unserm Inneren liegt, hören und ihr folgen wollen! Wir würden diese lockende Stimme des Hirten, diese Wirkungen seiner Liebe und Gnade zu jeder Zeit in unserm Herzensgrunde deutlich hören und kräftig spüren, wenn wir nur zu jeder Zeit dazu hinlänglich bereit wären, denn Gott ist unaufhörlich tätig und uns nah, wir aber leider nicht immer Ihm.

Ich weiß nicht, ob wir, um so zu reden, Gott nicht am meisten dadurch entgegenwirken, dass wir nicht hinlänglich still und einfältig sind; denn da dieses beides mit zu den wesentlichen Eigenschaften Gottes gehört, so sind sie auch uns durchaus erforderlich, wenn wir mit Ihm vereinigt werden wollen. Ich bin überzeugt, meine Vielgeliebten, dass Ihr Euch mit mir wohl dabei befinden werdet, wenn wir, um die rechte Stille vor dem HErrn zu erlangen, uns gegen Gott bei unsern innersten Andachten ganz leidend verhalten, der Wirkung des HErrn in uns allen Raum gebend; wenn wir alle Sachen, die außer Gott sind, auch außer uns lassen, und alles in Abgeschiedenheit, als, so zu sagen, tot anzusehen und zu behandeln trachten; wenn wir endlich die nötige Zeit zur Sammlung uns nehmen, damit alle unordentlichen Vorstellungen und Bewegungen verschwinden, und wir stille werden vor dem HErrn, der die einzige Ruhe unsres Geistes ist, und der durch seine Gegenwart uns allein die wahre Stille geben kann. Nicht weniger ersprießlich habe ich es für die Erlangung und Bewahrung der Einfalt des Gemüts gefunden, wenn man nie Sachen menschlicher Weise untersucht, beurteilt und bespricht, ohne zugleich ein wenig ins Heiligtum zurückzutreten, um, in Gottes Gegenwart weilend, eines höheren Richters Urteil zu vernehmen. Geistliche und innere Dinge, die von ganz anderer Art sind als die menschliche Vernunft, müssen in einem Licht betrachtet werden, das auch ganz anderer Art ist, nämlich im Lichte des Glaubens.

Das Glaubenslicht ist aber die Überzeugung, der Eindruck oder das Sehnen, von Gott im Herzen bewirkt, ohne Einmischung der Sinne (Joh. 3, 8); ein Licht, das Kinder und Blinde erleuchtet und Sehende blendet; ich will damit sagen: so lange und insofern wir kindlich und im Inneren gesammelt bei diesem Licht bleiben, ihm immer nachgeben, ihm Raum machen, so lange und insofern geht es gut; man fühlt sich behaglich und ruhig: will man aber kein Kindlein mehr bleiben, weil unzufrieden mit solcher Ruhe und diesem Licht, sondern zu klug zu vorsichtig sein, Gewissheit suchen durch eignes Nachdenken und Forschen, so wird man augenblicklich verwirrt, unruhig, zweifelhaft und unbeständig in allem; denn man wandelt nicht mehr im Glauben, der allein festen Boden und gewisse Überzeugung gibt von dem, das man hofft, und von Dingen, die man nicht sieht (Hebr. 11, 1). Lasst uns also, Vielgeliebte, unschuldige Kindlein des Glaubens werden und Toren in den Augen der Vernunft, und wir werden die Kraft und das Reich Gottes empfangen, das allein für Kinder offen steht. Das einfältige Herz will nur dem HErrn ganz und ungeteilt genügen, und dies ist der sichere Pilgerweg, der uns zum ewigen Leben führt, wie Euch durch Gottes Belehrungen wohl bekannt sein muss.

Geliebte in dem HErrn! Ich grüße und herze Euch alle in dem Geiste seiner Liebe, die Euch innig und immer reiner bearbeiten und beleben möge, um ein vollkommenes Opfer zu werden, das dem HErrn wohlgefällig ist. Ich bleibe durch die Gnade

Euer in dem HErrn verbundener Bruder.

Mülheim, den 8. Oktober 1733.

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