Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – bislang ungedruckter Brief
1) In Jesu herzlich geliebte Schwester!
Sitzend in inniger Stille als vor Gottes Angesicht, finde ich mich bewogen dich im Geist zu grüßen und von unserm guten Gott einige Stille und Vergnügen zu erbitten und zu wünschen. Ja, meine liebe Tochter, Gott ist uns innig genug, wann Er in uns ist, und wann wir uns in Ihm halten; o dann haben wir alles, was wir je können begehren; und wann wir dann noch einig Ding neben Ihm begehrten, eben das würde uns unvergnügt und bedrängt machen. Er ist unser Ruhepunkt; wann wir in Ihm kommen, dann haben wir nichts mehr zu suchen, zu trachten und uns zu beunruhigen; da wird der Geist gewahr, dass er dahin gelangt, wohin er wollte; er hat den Ort gefunden, wo er ruhen kann. Da dürfen wir nicht allein nicht auskehren bei einig geschaffen Ding Trost zu. suchen, weil wir an dem Einen genug haben; sondern wir haben auch für die Zeit nicht nötig, unser Gutes und unser Böses anzusehen, welches nur eine Zerstreuung gewährt. In dem einen Gut haben wir alles Gut, und in diesem Gut bleibt vernichtet alles Böse; lasst uns denn alles und auch uns selbst dalassen und dem Herrn überlassen. Sehe nur Gott an, richte deine Meinung in allen Dingen einzig auf Ihn, sowohl in dem was du tust als in dem was du leidest; siehe seine Liebe und umfasse Gott in Allem, und freue dich in Ihm und seinem Willen, ohne deinen Willen und eigenes Vergnügen zu achten. Nimm Alles an als den Willen Gottes, und tue Alles als den Willen Gottes, dann wirst du nimmer fündigen, sondern was Köstliches finden in dem Geringsten, was Süßes in dem Bittersten, und was Beförderliches in dem was dir scheinen möchte ein Hindernis zu sein. Das süße Kind Jesu segne dich und drücke dich an sein Herz; ja führe dich ganz hinein in sein Herz, dass du als ein inniges Kind des Herzens und der Ewigkeit mit ihm werdest! und in Ihm segnet dich auch meine Seele, und bleibt mit dir in diesem Punkt und Grund der Innigkeit, in Jesu ewig vereiniget; Jesus hat den Schoß seines Vaters verlassen und kommt, uns arme Kinder wieder in diesen Schoß der Liebe einzuführen. Merkst du es nicht mit mir, wie uns dieses süße Kindelein so holdselig winkt und zu sich hinein beruft? O ja, du merkst es; so lass dich dann los, gib seinem Zug und Wirkung Raum ohne Sorge für Betrug; der Geist selbst wird dir Zeugnis geben, dass Geist Wahrheit sei. Was dich beunruhigen und herauslocken will, dem traue nicht leicht, auch nicht den Anforderungen, die mit so vieler Ängstlichkeit dir ankommen. Wir haben nicht empfangen den Geist der Furcht, sondern den Geist der reinen Liebe und innigen Freiheit. Dieser Geist erhebet und neiget das Herz zur Hochachtung, Anbetung und Liebe des seligen Gottes; und zum abgeschiedenen Wandel im Geist und geheimer Gemeinschaft mit diesem so nahen Gott. Da vergisst man der Kreatur und Eigenheit; nichts Unreines, Falsches, Hartes, Eigenliebiges kann bleiben bei diesem reinen, unschuldigsten, sanften lieben Wesen; sein göttliches Nahesein und Einfluss macht uns ihm ähnlich und gibt uns göttliche Eigenschaften. Mit Einem Wort, Eines ist nur Not und in diesem Einen wird Alles erfüllet, was das Gesetz und die ganze Schrift fordert, nämlich: Abscheidung oder Abgeschiedenheit von Allem, und liebevolle Vereinigung mit Gott im Grund des Herzens. Folge dann mit mir dieser Spur sanft, unschuldig und willenlos, so wird dich der Herr selbst bei sich bedecken, bewahren und in allen seinen Willen einführen! Amen Jesus. Nun, mein liebes Kind, ich grüße dich nochmals zärtlich, und sage und wünsche dir mehr als ich ausdrücken kann. Jesu du siehst es! erfülle es und halte uns, dass wir uns hier und ewig in dir erfreuen mögen!